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1.2. Funktion und Formierung von Bräuchen (Reinhard Johler)

1.2.1. Kurztext

1.2.1.1. Bräuche – „richtig“, „passend“, „zeitlos“?

Die Darstellung der Funktion und Formierung eines Brauches am Beispiel des Vorarlberger Funkensonntags ergibt für die moderne Brauchforschung ein wichtiges Stück an Theorien- und Methodengeschichte.

Jeder Blick auf einen Brauch ist bereits selektiv und eine bestimmte Wahrnehmungsform, die etwas „Richtiges“ produziert. Wie Hermann Bausinger schon 1969 zeigte, kann gegenwärtiges oder zeitweiliges Verhalten nicht im Sinne von „Kontinuität“ als „zeitlos“ und „allgemeingültig“ fixiert werden, denn Formen und Hintergründe von Kommunikation bei „Brauchanlässen“ ändern sich ständig. So unterliegen auch „Brauchhandlungen“ einer steten sozialen Disziplinierung (Erziehung und Kontrolle) und Modulierung (Abwandlung), durch die bestimmte Verhaltensweisen als „passend“ und andere als „falsch“ definiert wurden.

1.2.1.2. Festlegung und Fortführung

In der historischen Entwicklung der Volkskunde als Wissenschaft hatte sich ein Darstellungsmodus entwickelt, eine spezifische kulturelle Perspektive, aus der heraus Bräuche selektiv wahrgenommen und in einem vordefinierten Zusammenhang dargestellt werden – als etwas Ernstes, nahezu Sakrales und vom Banal-Alltäglichen jedenfalls Abgekoppeltes. Damit hat auch die Volkskunde Realität in die Welt gesetzt.

Die beobachtbare Realität ist von dieser Volkskunde auf einige dominante Konstrukte verkürzt worden, denn es waren gerade die Volkskundler, welche die Vielfalt realer Gegenständlichkeit in spezifische Ordnungssysteme eingegossen und damit auf wenige Wahrnehmungs- und Darstellungsformen beschränkt haben. Beim Zuschliff dieser spezifischen Perspektive haben Laienforscher rege mitgewirkt, die sich in meist waghalsigen Ursprungsvermutungen ergehen und diese einer aufnahmebereiten Öffentlichkeit als „volkskundliches Wissen“ offerieren.

Daher ist es wichtig, die „fiktive Traditionsbildung“, wie sie derzeit Bedürfnis in den hoch differenzierten Gesellschaften der Gegenwart ist, zu berücksichtigen. „Die Wiederkehr von Volkskultur“, die „Erlebnisfolklore“ der am Konsum orientierten Kulturindustrie sind Strategien kultureller Differenzierung in einer globalen Einheitskultur.

1.2.2. Langtext[2]

1.2.2.1. Sinn und Bedeutung

Am 13. März 1981 erschien in einer Vorarlberger Lokalzeitung ein kulturpessimistisch grundierter Artikel mit dem Titel „Trauriger Schrunser Funken!“. Er sei hier zur Einstimmung in extenso zitiert:

„Das Funkenabbrennen ist ein uralter Brauch und Symbol dafür, dass der früher so beschwerliche und auch gefahrvolle Winter überstanden ist und in Gestalt der explodierenden Hexe aus dem Tal vertrieben wird.

Der Heimatdichter Otto Borger, der viele Jahre Funkenmeister war und 1946, nach langen, trostlosen Kriegsjahren, wieder den ersten Schrunser Funken gebaut hat, sieht den Sinn dieses Feuerfestes nicht nur in der Erinnerung an ein Natursymbol. Er ist der Ansicht, dass man heute zur Ehre Gottes ‚funknat‘.

Viele mühe- und freudvolle Vorarbeiten, auch Geldspenden, sind notwendig, bevor der Funkenturm gebaut werden kann. Noch nie haben so viele Mädchen und Buben beim Funkenbau geholfen, wie in diesem Jahr. Und alle, Kinder wie auch Erwachsene, haben sich schon seit Wochen auf das Flammenfest gefreut.

Es war mehr als ein Lausbubenstreich, vor dem Funkensonntag den Wipfel der Funkentanne abzusägen. Der Funkenmeister konnte jedoch den Schaden noch einmal beheben. Genauso unüberlegt war es – vielleicht! – während der Sonntagsabendmesse, als unzählige Kinder schon dem Funken entgegenfieberten, den Funkenturm vorzeitig zu verbrennen; er konnte nicht mehr gelöscht werden.

Und das Traurigste an diesem traurigen Geschehnis war: Unzählige Zuschauer haben schallend gelacht! Wer könnte es dem Funkenmeister und seinen vielen Helfern, die ihre Arbeit um Gotteslohn tun, verdenken, wenn ihnen die Lust am Funkenbauen vergangen wäre?!

Vor nicht allzu langer Zeit musste ich mir sagen lassen: ‚Ihr Schrunser habt eure Seele verloren. Bei euch steht alles im Zeichen der Kommerzialisierung‘. Natürlich habe ich heftig widersprochen und von unserer Liebe zu Montafoner Tracht und Brauchtum erzählt. Wenn aber, was uns aus alter Zeit als schöner Brauch überliefert wurde, mit Füßen getreten und verhöhnt wird, frage ich mich ernstlich: ‚Haben wir unsere Seele verloren?‘“[3]

Zufall oder nicht, knapp vor Erscheinen dieses Artikels veranstaltete das Wiener Institut für Volkskunde (heute: Institut für Europäische Ethnologie) unter der Leitung von Klaus Beitl und Helmut Paul Fielhauer eine Exkursion, die den hier geschilderten Funken zu ihrem Studienobjekt gewählt hatte. In dem damals gemeinsam mit Kollegen erstellten Protokoll[4] wurden zum einen in mehr oder minder genauer ethnografischer Beobachtung Aufbau und Ablauf des Brauches – wie Funkentanne, Funkenholz, Funkenvereinigung, Funkenplatz, Hexe, Trätzfunken, Fackeln, Funkenwache, Funkenküechli, Funkentanz, Funkenchronik – festgehalten; zum anderen – die neuen Interessen der Volkskunde hatten mittlerweile bereits die Studierenden erreicht – ging es darin um den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergrund des Brauches: Prestige im Ort, Integration und Desintegration von Gastarbeiterkindern, Aspekte des Tourismus, Freizeitmöglichkeiten von Jugendlichen, die Einschätzung seitens der Kirche, Beteiligung von Frauen und Mädchen, die historisch belegte Rivalität zu den Nachbardörfern, Umweltschutz – kurz: Ein relativ vollständiges Ensemble neuerer volkskundlicher Themen stand zur Diskussion.

Natürlich wurde auch nach Sinn und Deutung gefragt – und die Antworten kamen mit derselben Routine, mit der der Funken aufgebaut worden war: Idealismus und die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls nannten die Funkenbauer als Motivation für ihr Tun; zudem sei schon vieles „verloren“ gegangen und solle doch zumindest erhalten bleiben, was „alter Brauch“ sei und was – so die angebotene Interpretation – mit der symbolischen Verbrennung des Winters und irgendwie auch mit Fruchtbarkeit zu tun habe.

Der eigentliche Höhepunkt der von der Exkursion besuchten Brauchveranstaltung, das Entzünden des Funkens, ging, wie im zitierten Artikel beklagt, daneben. Eine unvorsichtig abgeschossene Rakete entflammte den Funken in der Nähe der Hexe, worauf diese explodierte und der Holzstoß – viel zu früh und in der falschen Richtung, nämlich von oben nach unten – abbrannte: Die bis dahin peinlich eingehaltene Ordnung im Brauchablauf war schlagartig dahin. Freilich war das – Ehrfurcht vor „altem Brauchtum“ und die Enttäuschung der fleißigen Funkenbauer einmal beiseitegelassen – eine durchaus unterhaltsame Angelegenheit und so das im Zeitungsbericht monierte „schallende“ Lachen der Zuschauer nur zu begründet – beherrschte doch nun plötzlich, in Abweichung vom alljährlich vorgegebenen eher starren Programm, befreiende Spontaneität die Szene.

Als Volkskundler jedenfalls bekam man eine Lektion erteilt: In seinem fixierten Ablauf mag ein Brauch die gesellschaftliche Fassade spiegeln und ein guter Indikator dessen sein, wofür die sogenannten Brauchträger nach außen hin stehen möchten, doch erst eine Störung dieses geregelten Ablaufes lässt (ein wenig) hinter die Kulissen blicken – und beispielsweise auch zurückgehaltene Ressentiments erkennen. So behaupteten etwa die Funkenbauer nach dem Missgeschick unverzüglich und ohne irgendwelche Beweise dafür zu haben, dass es Touristen – glücklicherweise wurden die anwesenden Volkskundler nicht dazu gezählt – gewesen wären, die die Rakete abgeschossen hätten: Ihnen wäre der „wirkliche Sinn“ des Brauches fremd, sie würden seine tiefere „Bedeutung“ nicht kennen und nähmen den Anlass daher auch lediglich zur Unterhaltung. Und damit wurde für den studentischen Beobachter jene „Sinn“-Frage, die in der Befragung bislang nur eine Nebenrolle gespielt hatte, zentral, rückten in den Mittelpunkt des Interesses jene Aussagen der Verantwortlichen, wonach es heutzutage einfach keinen „Sinn“ mehr habe, „altes Brauchtum aufzuführen“, weil die Leute – und mittlerweile auch viele Einheimische – dies nicht mehr „verstehen“ würden, und dass zu überlegen sei, ob man im folgenden Jahr überhaupt noch einen Funken entzünden solle.

Ein Jahr später freilich hatte sich in Schruns die Aufregung gelegt, das Jahresfeuer wurde doch wieder, dieses Mal aber ordnungsgemäß, durchgeführt – mit Touristen, ohne Volkskundler. Die brauchten dann auch bald nicht mehr nach Vorarlberg zu reisen, denn ab dem Jahre 1987 lud die „Vorarlberger Landesdelegation in Wien“ alljährlich zu einem „alten alemannischen Brauch“ und organisierte auf der Bellevuewiese im 19. Wiener Gemeindebezirk am Samstag nach dem traditionellen Termin (dem ersten Fastensonntag) ein „Funkenverbrennen“, das abwechselnd von jeweils eigens aus Vorarlberg angereisten Funkenzünften abgehalten wurde. Anwesend war dabei regelmäßig ein Landesrat, der einleitende Worte sprach, zu hören gab es eine Funkenmusik, zu essen Funkenküchle, zu trinken Glühmost – und zu sehen blieb der Funken.[5]

Dieser Brauchtransfer sollte – im Sinne der „Vorarlberger Landesdelegation“ – die Möglichkeit bieten, die in Wien verstreut lebenden Vorarlberger zusammenzuführen sowie das „Ländle“ in der Bundeshauptstadt zu präsentieren und das etwas angegriffene Verhältnis zueinander zu verbessern. Letztes Ziel wurde allerdings einmal von einem aufgebrachten Funkenmeister durchkreuzt: Als nach der Ansprache des Landesrates, der eben die guten Beziehungen zwischen Wien und Vorarlberg herausgestrichen hatte, der Funken nicht und nicht zum Brennen kommen wollte, ergriff der in seiner Ehre gekränkte Funkenbauer das Mikrofon und verteidigte sich gegenüber den „Wienern“ – die im Übrigen sowieso „keine Ahnung“ und zudem noch feuchtes Holz zur Verfügung gestellt hätten – dahin gehend, dass es eben auch keinen „Sinn“ habe, dort einen Funken zu entzünden, wo er nicht hingehöre.

Die damit ein weiteres Mal gestellte Frage nach „Sinn“ und „Bedeutung“ aber – zielt sie doch direkt auf zentrale Inhalte volkskundlicher Forschung – hat meine Neugierde geweckt und bald auch mein akademisches Interesse: Der Funken- und der Holepfannsonntag wurden Thema meiner 1994 abgeschlossenen Dissertation.[6] Neben einer Analyse der „Formierung“ dieser Jahresfeuer wurde, im Sinne eines akademischen „Gesellenstückes“, auch eine breite, ethnografisch gestimmte Brauchdokumentation angestrebt. Heute würde man einige Fragen wohl aufgrund neuerer Literatur zum Teil anders stellen und manches Argument mit Sicherheit weiter, vielleicht auch in eine andere inhaltliche Richtung verfolgen. Auf eine aktualisierende Überarbeitung wurde dennoch weitgehend verzichtet; dies auch, weil sich der Forschungsstand zum konkreten Brauch seither kaum verändert hat. Meine Studie versteht sich als ein Beitrag zu einem Themenkomplex, der kürzlich Wolfgang Brückner zu einem eindringlichen Appell veranlasst hat: „Brauchforschung tut not“.[7]

1.2.2.2. Bräuche

In einem seiner Meisterwerke, in „Amarcord“, hat Federico Fellini zur Illustration des kleinstädtischen Lebens in Rimini die „Fogarazze“ dargestellt, jene Freudenfeuer, die selbst in der Ära des italienischen Faschismus am 19. März zur Begrüßung des Frühlings abgebrannt worden sind.[8] Nicht Ursprung und Deutung dieser Feuer haben Fellini dabei interessiert, sondern die handelnden Personen in ihrem – durch den Brauchanlass freilich überhöhten – Alltag, die kleinen Späße, die sie treiben, die lüsternen Blicke, die sie werfen, das aufreizende Verhalten der Geschlechter. Diese Filmszene soll – und darum wird sie hier eingangs erwähnt – einen Gegensatz markieren: den Kontrast zu den literarischen Verarbeitungen[9] und filmischen Dokumentationen[10] des Funken- bzw. Holepfannfeuers.

Tatsächlich unterscheiden sich die Darstellungen nur zu deutlich: Fellini zeigt ein buntes Treiben und führt die handelnden Personen in ihren sozialen Bezügen vor, während die heimischen Feuerbräuche gewöhnlich in starrer Formalisierung ihrer Abläufe in Szene gesetzt werden. Das soll uns daran erinnern, dass zum einen die Möglichkeiten der Brauchdarstellung nahezu unbegrenzt sind, und dass zum anderen – und daraus resultierend – jeder Blick auf einen Brauch zwangsläufig selektiv ist und auf einer Entscheidung beruht, die, einmal gefällt, die gewählte (und gewohnte) Wahrnehmungsform als die „richtige“ reproduziert.

Zur Verdeutlichung sei hier noch einmal die im Vorwort zitierte Schilderung herangezogen. In ihr wurde der Schrunser Funken des Jahres 1981 als „traurig“ beschrieben, weil die Zuschauer gelacht bzw. Schadenfreude und damit ein Verhalten gezeigt hatten, das von der Berichterstatterin als dem Brauchanlass – entsprechend der diesem zugeschriebenen „uralten“ und damit auch kultischen Bedeutung – völlig unangemessen gewertet wurde. Bereits hier lässt sich freilich die Brüchigkeit jedes Versuches zeigen, Kontinuität[11] zu unterstellen und gegenwärtig erwartetes Verhalten als zeitlos zu fixieren. Denn wenn wir uns einmal in einer Art „Zeitmaschine“, wie sie von Herbert G. Wells in literarischer Fantasie konstruiert worden ist,[12] etwa in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückversetzen könnten, so würden wir sehen, dass damals die „brauchausübenden“ Buben ihren Funken zwar in ähnlicher Form und wohl auch am gleichen Ort aufgestellt haben, dass sie jedoch Schwierigkeiten hätten, im heutigen Umgang mit dieser „Brauchhandlung“ die seinerzeit dabei üblichen Kommunikationsformen wiederzufinden: Der heute geforderte Ernst ist dem Anlass eben nicht „ursprünglich“ eingelagert – er ist das Ergebnis einer sozialen Disziplinierung und Modulierung, durch die bestimmte Verhaltensweisen als „passend“ und andere als „falsch“ definiert wurden.[13] Und dem „passenden“ Verhalten entsprechend finden sich in den Hunderten von Zeitungsberichten, die es über den Funken gibt, Lachen oder ungezügelte Freude ausschließlich und stereotyp in begeisterten „Kinderaugen“ – und in den Köpfen der Erwachsenen, die sich an eben dieser Begeisterung erfreuen und in der Erinnerung an die eigene Kindheit schwelgen.

Diese stereotype Sichtweise verdankt sich allerdings auch der Quelle selbst: Zeitungen neigen eben dazu, nur Gewohntes bzw. Halboffizielles zu beschreiben und alles, was diesem nicht entspricht, als Störung zu sehen bzw. als Privates auszuklammern. Und diesen seinen Darstellungsmodus teilt das Medium mit jener Wissenschaft, die Bräuche zu einem ihrer zentralen Themen erkoren hat: die deutsche Volkskunde. Auch in dieser Volkskunde hat sich – um bereits eingangs eine Art Resümee zu ziehen – eine spezifische kulturelle Perspektive durchgesetzt, aus der heraus Bräuche selektiv wahrgenommen und in einem vordefinierten Zusammenhang dargestellt werden – als etwas Ernstes, nahezu Sakrales und vom Banal-Alltäglichen jedenfalls Abgekoppeltes. Und so hat die Volkskunde in perpetuierender Beschreibung auch Realität in die Welt gesetzt: indem sie das „richtige“ Verhalten während einer Brauchausübung genormt, eingefordert und damit vielleicht auch dem „Homo ludens“[14] ein Ende bereitet hat.

Die Rekonstruktion dieser Sichtweise, dieser spezifischen kulturellen Perspektive und ihres Umschlagens in reales Verhalten ist Aufgabe einer Brauch- und damit Fachgeschichte. Dabei aber muss ein „Schubfach“ geöffnet werden, das „am prallsten gefüllt ist“,[15] wie es Hermann Bausinger angesichts der kaum überblickbaren Literatur zum Thema einmal ausgedrückt hat.[16] Die damit angesprochene große Zahl volkskundlicher Publikationen[17] und die Gründe für diese Produktivität werden uns im Weiteren noch öfters beschäftigen – schließlich sind sie oft und geradezu stereotyp mit der Genese der Disziplin Volkskunde in Zusammenhang gebracht worden. Auch der Soziologe Werner Sombart etwa hat diesen Umstand – im Jahre 1938, also zu einem Zeitpunkt, als die Volkskunde aus ideologischen Gründen sich größter Nachfrage erfreute – notiert und ihn geradezu zu einem konstituierenden Element des Faches gemacht: „Die Fülle des volkskundlichen Schrifttums übersteigt alle menschlichen Vorstellungen. Begreiflicherweise, da der Stoff der Volkskunde ebenso unbegrenzt ist wie die Zahl derer, die ihn bearbeiten können und wollen.“[18]

Diese Bemerkung Sombarts scheint auf den ersten Blick durchaus ihre Richtigkeit zu haben. Eine zentrale Korrektur ist allerdings angebracht: Die Uferlosigkeit, ja Willkürlichkeit, wie sie hier angedeutet wird, mag in quantitativer Hinsicht zutreffen, in qualitativer Hinsicht ist das jedoch weniger der Fall. Denn das „Unbegrenzte“ des „Stoffes der Volkskunde“, also die beobachtbare Realität, ist von dieser Volkskunde auf einige dominante Konstrukte verkürzt worden – eine Begrenzung, wie sie von Michel Leiris, dem Essayisten und Völkerkundler, mit der Bemerkung auf den Punkt gebracht wurde, dass das „Auge des Ethnographen“ von einer „Mentalität“ geprägt sei, die dem Forscher in der Auseinandersetzung von eigener und fremder Kultur „entstellende Prismen in den Kopf“ setzt.[19] Und dieses Bild lässt sich unschwer auf das „Auge des Volkskundlers“ übertragen,[20] denn es waren gerade die Volkskundler, die – wie in dieser Arbeit (der Dissertation) zu belegen war – die Vielfalt realer Gegenständlichkeit in spezifische Ordnungssysteme eingegossen und damit auf wenige Wahrnehmungs- und Darstellungsformen beschränkt haben.

Beim Zuschliff dieser spezifischen Perspektive – und hier ist eine weitere Differenzierung von Sombarts Argumentation angebracht – haben sowohl akademisch ausgebildete Volkskundler als auch jene zahllosen, sich als „Volkskundler“ verstehenden Laien mitgewirkt – in zwar unterschiedlicher, aber durchaus einander ergänzender Weise. Und dass bei solchem Zusammenspiel von Expertentum und Laienschaft sich die Verwissenschaftlichung der Volkskunde einigermaßen komplex gestalten musste, versteht sich fast von selbst: Einerseits spielten jene Dilettanten eine wichtige Rolle im jungen Fach, andererseits aber machte dessen akademische Etablierung eine Abgrenzung ihnen gegenüber notwendig.

Das stellte Eduard Hoffmann-Krayer schon 1958 fest: „Es giebt wol keine Wissenschaft, die grösseren Gefahren und Krisen ausgesetzt ist, als die Volkskunde. Eine Hauptgefahr bildet für sie der üppig in’s Kraut schiessende Dilettantismus, der ja überall mit freudiger Hast zugreift, wo er sich ‚wissenschaftlich‘ glaubt bethätigen zu können und der nichts höheres kennt, als sich gedruckt und gelesen zu sehen. Angezogen von den volkskundlichen Stoffen, die ihm leicht zugänglich und leicht zu bearbeiten scheinen, macht er sich gerne, namentlich in Zeitschriften, breit und verdrängt dadurch wertvollere, wissenschaftlich durchdachte Arbeiten. Freilich ist ja anderseits keine Wissenschaft mehr auf den Dilettantismus angewiesen, als gerade die Volkskunde, und wir sind weit davon entfernt, seine wertvollen Dienste für diese Wissenschaft zu unterschätzen“.[21] Brauchforschung als ein die Disziplin vorrangig mitbegründender thematischer Zweig ist dafür ein gutes Beispiel.

Die angedeutete Ambivalenz wirkt bis heute nach: Brauch ist wie kein anderes Arbeitsfeld ein „Tummelplatz“ für Laienforscher, die sich meist in waghalsigen Ursprungsvermutungen ergehen und diese einer aufnahmebereiten Öffentlichkeit als „volkskundliches Wissen“ offerieren.[22] Auch der Begriff „Tummelplatz“ hat einen längeren Verwendungszusammenhang im Rahmen der Volkskunde. Bereits 1900 wurde er von Anton E. Schönbach verwendet, der, um den „wissenschaftlichen Betrieb der Volkskunde“ zu fördern, eine Verwissenschaftlichung des Faches und damit eine Abgrenzung zu Laienforschern forderte: „Denn zur Zeit bildet die Volkskunde noch einen ziemlich freien Tummelplatz für allerlei Gesellschaft.“[23]

Solches muss nicht unbedingt ein für eine Disziplin besonders Image bedrohender Zustand sein – schließlich können etwa Historiker problemlos neben Heimatforschern leben, ohne durch diese ihren Ruf gefährdet zu sehen. Doch ist in unserem Fach das Problem anders gelagert: Dilettierende Laienforscher beziehen sich nach Martin Scharfe auf ein „gesunkenes Wissenschaftsgut“,[24] auf „volkskundliches Wissen von gestern“ – und dieses „Gestern“ kann durchaus wortwörtlich genommen werden: Ingeborg Weber-Kellermann führt in diesem Zusammenhang etwa auch Richard Wolfram (1901–1995) an, der noch 1972 in Bräuchen das „Mythologische“ als „Wesensbestimmung“ gesehen und das „Urhafte“ gesucht habe.[25]

Für die neuere österreichische Volkskunde lassen sich freilich darüber hinaus noch weitere Defizite anführen: Im Zuge einer zweifellos notwendigen Modernisierung des Faches wurde hier – mit wenigen Ausnahmen – die der Disziplin zentrale Brauch-Thematik ignoriert und damit fast zur Gänze den Laienforschern überlassen. Dieses Manko können auch die zahlreichen, zum Teil unter wissenschaftlicher Beteiligung veröffentlichten „Brauchtumsführer“[26] nicht ausgleichen, reproduzieren doch auch sie, wenngleich inhaltlich nuanciert, die in der Brauchforschung dominierenden Stereotypen,[27] bieten in summa nur wenig Analyse, sind überwiegend kompilatorischen Charakters und listen bloß die wichtigsten regionaltypischen Anlässe auf. Und so verwundert nicht, dass das Fach an dem international in mehreren Nachbardisziplinen neu erwachten Interesse an Brauch bzw. Ritual[28] nur marginal partizipiert hat.

Dafür ist die Volkskunde zu Recht auch kritisiert worden,[29] wird doch heute immer wieder auf eine Renaissance des Brauchtums in den hochdifferenzierten Gesellschaften der Gegenwart hingewiesen.[30] So hat etwa auch Jeremy Boissevain auf eine seit den 1970er-Jahren zu beobachtende Revitalisierung von Ritualen in Europa aufmerksam gemacht: Trotz fortgeschrittener Säkularisierung und Industrialisierung, trotz Rationalisierung der Produktion und zunehmender Mobilität der Bevölkerung, trotz weltweiter medialer Einflüsse und trotz ständig wachsender Freizeitaktivitäten seien Bräuche nicht, wie wissenschaftlich prognostiziert, abgekommen, sondern würden, wenn auch in anderer Form transformiert, eine neue, unerwartete Blüte erleben. Boissevain erklärt dies u. a. als Reaktion auf den starken kulturellen Homogenisierungsdruck und prophezeit zusammenfassend: „Our findings suggest that this will generate more ritual activity as communities at various levels assert and defend their identities by celebrating them. This might make Europe 2000 a more cheerful place in which to live.“[31] Man muss sich dieser optimistischen Prognose nicht vollinhaltlich anschließen; doch die angesprochene Tendenz scheint unbestritten zu sein und kann auf einen Punkt gebracht werden: Die „Wiederkehr von Volkskultur“,[32] genauer: ein verstärktes öffentliches Interesse an ihr und damit auch an Bräuchen, lässt sich europaweit doch konstatieren.[33]

Eine derartige „fiktive Traditionsbildung“[34] kann auf unterschiedliche Weise gesehen und beurteilt werden – einerseits als Beleg für eine stärkere Orientierung an vermeintlichen „Herkunftskulturen“[35] und damit für eine Instrumentalisierung ethnischer Kategorien.[36] „Volkskultur“ wäre in dieser Konnotation jener Traditionshaushalt, der mit Bräuchen und Trachten leicht einsehbare und emblematisch einsetzbare Differenzierungen ermöglicht. Davon nicht weit entfernt ist auch die Position des Soziologen Richard Münch: Eine sich gegenwärtig durchsetzende universalistische, globale Einheitskultur berge zugleich den Drang zu erneuter, etwa regional ausgedrückter kultureller Differenzierung.[37] Dazu gehört – andererseits – aber ebenso, dass bestimmte Bräuche schon längst Teil einer konsumorientierten Kulturindustrie und Produkt einer „Erlebnisfolklore“[38] geworden sind (oder gegen diese eingesetzt werden). Solche Aktualität gilt es mitzubedenken – und in vielen Beiträgen wird sie auch angesprochen. Die „Formierung eines Brauches“ ist immer auch eine Deutungs- und Konstruktionsgeschichte, eine lange, von Volkskundlern mit ausgefochtene Auseinandersetzung.

Diese durchaus kontroversielle Auseinandersetzung beginnt – gleichermaßen unterstützt und bedrängt vom Weiterwirken aufklärerischer Ideen in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Ein breites, von einer bürgerlichen Öffentlichkeit getragenes Interesse wird in zahllosen Abhandlungen in Zeitungen und gelehrten Journalen befriedigt. Und so beiläufig und zuweilen verworren diese Abhandlungen auch scheinen mögen: Sie sind von den zentralen Inhalten ihrer Zeit geprägt – und haben ihrerseits diese Zeit mitgeprägt. Denn noch in den banalsten Beschreibungen geht es letztlich immer auch um den Kampf um Bedeutungen und damit um die Herstellung von Realität – ein Zusammenhang, auf den der Anthropologe Eric R. Wolf hingewiesen hat: „Diese Fähigkeit, Sinngehalte zu verleihen – d. h. Dinge, Handlungen und Ideen zu ‚benennen‘ –, ist eine Quelle von Macht. Die Kontrolle solcher Mitteilungen gibt den Ideologieverwaltern die Möglichkeit, die Kategorien festzulegen, in denen die Wirklichkeit wahrgenommen werden muss. Sie verleiht umgekehrt auch die Fähigkeit, andere Kategorien einfach als nicht-existent zu leugnen, sie dem Bereich der Unordnung und Chaos zuzuordnen oder sie auf gesellschaftlicher und symbolischer Ebene unsichtbar zu machen. Sind die Dinge einmal benannt, braucht es wiederum Macht, die damit erzeugten Bedeutungsinhalte zu fixieren [...].“[39]



[2] [JohlerR 1994a]. – [JohlerR 2000]. – Der folgende Artikel ist geringfügig veränderter Wiederabdruck aus: [JohlerR 2000], S. 7–17.

[5] Siehe [Neue AZ] (1987-03-07). – [Kurier] (1987-03-07) und (1988-02-23). – [Falter] (1988-02-26 bis 1988-03-03). – Sowie die von der „Vorarlberger Landesdelegation in Wien“ versandten Einladungen.

[8] [Fellini 1981], S. 10–11, S. 57–67. – Zu den „fogarazze“ vgl. auch: [Toschi 1963]. – [Toschi 1967], S. 35.

[10] Vgl. für Vorarlberg: [BeitlK 1988]. – [WolframR 1986b]. – [Haller 1987]. – [Morelli 1988]. – [Röhrich 1996].

[13] Die Literatur zur Zivilisierung menschlicher Affekte ist ausgesprochen umfangreich, in Bezug auf das Fest siehe etwa: [Heidrich 1984].

[16] Ein Blick in die volkskundlichen Bibliografien zeigt, dass der Abschnitt „Sitte, Brauch, Fest, Spiel“ der umfangreichste ist. Die sprunghaft ansteigende Brauch-Literatur kann durch einen Vergleich der „Volkskundlichen Bibliographie“ anno 1917 ([Hoffmann-Krayer 1919]), die 122 Titel anführt, mit der „Internationalen Volkskundlichen Bibliographie“ für die Jahre 1985 bis 1986 ([Alsheimer 1991]) demonstriert werden: Letztere führt zu diesem Themenkomplex über 1.060 Eintragungen an. Eine eigene Brauch-Bibliografie für die Jahre 1945 bis 1970 belegt über 3.500 Arbeiten ([Brauch und seine Rolle 1973]).

[17] Schon 1900 hatte Anton E. Schönbach die „ungeheuere Masse von Material“ kritisiert, die sich im Fach angesammelt hätte ([Schönbach 1900], S. 17).

[19] [Leiris 1985], S. 29–35.

[24] [Scharfe 1991b], hier S. 14.

[27] Beispielhaft: „Kaum ein anderes Land Europas verfügt über ein so vielfältiges Brauchtum wie Österreich.“: ([SchneiderW 1985], S. 7).

[31] [Boissevain 1992], S. 15–16.

[37] [Münch 1993], S. 311 ff.

[39] [WolfER 1986], S. 536.

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