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10.3. Die nazistische Heimatvorstellung[3142] (Karl Müller) - Langtext

10.3.1. Robert Musils Diktum

Analytisch wie immer und mit ironisch gespitzter Feder schrieb Robert Musil, als er im Jahre 1926 anlässlich des Erscheinens von Paula Groggers Roman „Das Grimmingtor“ über poetologische und ideologische Aspekte dieses österreichischen „Ackerbürgerromans“und die in Mode gekommene „Heimatkunst“reflektierte: „Wenige Eisenbahnstunden vor den Toren der Zivilisation fängt ein Land der kernigen Kuriosa an, das uns durch die Naivität der Versuche, es zum Vorbild zu machen, unverständlich geblieben ist; unsere heimischen Primitiven sind uns fremder als die der Südsee.“[3143]

Über die geistigen Grundlagen des Texttypus „Heimatroman“– Teil des anti-naturalistischen, gegen die literarische Moderne gerichteten Protests schon seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts,[3144] Teil dieser „Weltanschauungswucherungen“–, notiert Musil: „das herkömmliche Bild breit gegründeten Daseins: das sind noch Familienbäume, unter deren Ästen man Chroniken schreiben kann, während darüber Sonne, Mond und Sterne ihren stillen, unbegreiflichen Gang gehen.“[3145]

Die Verkündigung des „einfachen Lebens“stehe bei dieser Art von Dichtung hoch im Kurs, und zwar als eine Antwort auf modernes „Zivilisationsweh“. Musil spricht von „Erdnähe“, „Gesundheit“, „Eigenwuchs“, „Heimatduft“, „ebenbürtige[m] Deutschtum“und nicht zuletzt von einer prinzipiellen „Abneigung gegen Kritik“, die als „Zeichen der Zersetzung gelte, was zugleich eine Tendenz zum Moralisieren im Gepäck habe: „Unsichere Probleme gibt es nicht, wo das Gute in Grundpacht steht. Allerdings wird Kleinkrämerei mit Gottesdienst und Dienst am Volk verwechselt.“[3146]

Hellsichtig vermerkt Musil auch das seit den Programmschriften der Heimatkunstideologen der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts bekannte Phänomen, dass in diesen Kreisen üblicherweise Fragen der ästhetischen Form als zweitrangig gelten oder gar nicht behandelt werden – aus gutem Grund, wie noch zu zeigen sein wird: „Die Wichtigkeit von Form, Gipfel und Aufbau tritt vor dem Wert des Gegründeten zurück“,[3147] so nennt das Musil.

Schließlich weiß er auch über die Leserschaft dieser Art von Dichtung – schimpfend auf den „Unsegen der Großstadt“[3148] – Aufschlussreiches zu berichten, wenn er an ihr prinzipiell antiliberale Ressentiments ortet und meint, dass „ihre Anhängerschaft [...] demgemäß von deutschen Kraftnaturen, die zehn Glas Bier vertragen, bis zu stillen Männern [reicht], die schon das Reifen der Äpfel am Baum betrunken macht, und von den Lesern keiner Judenbücher bis zu den Lesern guter, gesunder Bücher überhaupt.“[3149]

Musil war 1926 noch in der glücklichen Lage, über dichterische Formen der „Heimatkunst“ironisierend zu reden. Zudem handelte es sich bei Paula Groggers Roman nicht um ein ausgesprochen kämpferisches und übermäßig aufdringliches Heimatkunstprodukt, sodass dieses sogar Musils künstlerische Aufmerksamkeit erregen konnte, wenn ihm auch Groggers Formulierungen letztlich doch nur „die Soße und nicht den Braten“[3150] geliefert haben. Aber er kann nicht umhin, über seine eigene Generation selbstkritisch festzuhalten: „Und man kann nicht sagen, dass wir diesen Naturverkündern abgeneigt waren. Weit eher sind wir überbereit, in jedem Augenblick die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts zu überschreiten, und sei es auch rückwärts.“[3151]

Die Forschung zur Heimatkunstbewegung der Jahrhundertwende hat inzwischen dieses „Rückwärts“, ein Beharren auch im Formalen und Poetologischen, bereits zutreffend und ausreichend beschrieben.[3152]

10.3.2. "Heimatdichtung"

Es sollte insbesondere der Kulturpolitik der Nationalsozialisten vorbehalten bleiben, den spezifischen Geschmack der genannten Anhängerschaft[3153] mit derartiger Literatur ausgiebig zu bedienen und dabei der „Heimatdichtung“im Ensemble der „volkhaften“Dichtungs-Gattungen die spezifische Rolle zuzuweisen, nämlich die „Mächte unserer Herkunft, die durch unser Blutserbe und durch unsere notwendige Verbindung mit der Erde gegeben sind“[3154] zum Ausdruck zu bringen. Denn in der „Heimatdichtung“sei „manche wesentliche Kraft unserer gültigen volkhaften Dichtung“[3155] zu sehen, wie sich der NS-Deutschkundler und Alfred-Rosenberg-Mitarbeiter Hellmuth Langenbucher in seiner „Volkhaften Dichtung der Zeit“auszudrücken pflegte, die eine Art deutsch-völkisches Standard-Lehrbuch abgab. Diese Form der Dichtung, der „Ruf nach der Erde, der uns immer stärker und mahnender aus der Dichtung unserer Tage entgegenklingt“, wird als „Durchbruch eines neuen, von innerer Bangigkeit und Not erlösenden Lebensgefühls“[3156] angepriesen.[3157]

Ein solcher Diskurs erlebte spätestens seit Beginn der dreißiger Jahre – im Anschluss an die vorgeprägten Formeln der „Heimatkunstbewegung“– seinen Aufschwung und haspelte immer dieselben romantizistischen Formeln ab. Unter dem Titel „Die Wendung in der Dichtung der Gegenwart“ hatte etwa Paul Kluckhohn schon 1932 eine Sendereihe in der „Deutschen Welle“gestaltet, in der von einer Trendwende zu einem neuen „Heimat-, Volks- und Naturerleben“, von einem „Hinstreben zu neuem seelenhaft erfüllten Gemeinschaftserleben“in der Dichtkunst die Rede ist. Kluckhohn spricht von der Attraktion „überindividuelle[r] Mächte, das wären das Volk und die seiner Wesenheit gemäßen Ideen, das wären [ferner] Stamm und Landschaft, auch die Familie mit der engen Verbundenheit der Generationen“sowie die „Urprobleme [...] des Blutes und des Geschlechts.“[3158] Es sei keine Frage, „wo heute die elementaren Kräfte“stünden, wie es etwa in Adalbert Schmidts „Deutscher Dichtung in Österreich“(1935) heißt, nämlich bei den Kräften der Provinz, also bei Richard Billinger, Paula Grogger, Max Mell, Karl Heinrich Waggerl und bei Josef Weinheber, „der allerdings auch von bäuerlichen Ahnen stammt“und damit „die dichterische Ehre Wiens wieder gerettet“[3159] habe – im Kampf gegen die Werfels, Saltens und Sassmanns.

In der „Einführung“zur umfangreichsten Anthologie der österreichischen NS-Bewegung mit dem Titel „Heimkehr ins Reich. Großdeutsche Dichtung aus Ostmark und Sudetenland 1866–1938“ von Heinz Kindermann kann man – ähnlich wie etwa bei Norbert Langer, Hellmuth Langenbucher, Franz Koch, Arno Mulot, Friedrich Pock oder Josef Marschall[3160] – das entsprechende völkische Vokabular in phantasieloser Variation nachlesen, erfährt allerdings nichts über poetische Verfahrensweisen und künstlerische Strategien.

Es ist aufschlussreich, welche spezifischen Aufgaben der „Heimatdichtung“– meistens assoziiert mit einem behaupteten „bäuerlichen Erbe“[3161] als wirksamem Mittel gegen „Intellektualisierung, Verjudung, Mechanisierung, Materialisierung“[3162] – zuerkannt werden. Bei Kindermann heißt es: „Der Nationalsozialismus hat uns gelehrt, die Dichtung als lebensnotwendige und volksformende Schöpferkraft der Nation zu erkennen. Aus der Mitte des Volkes stehen die Dichter auf und sprechen ihr Wort als schöpferisches und seherisches Muss wieder zum Volke [...]. Noch ein anderer Weg [neben dem „offenen politischen Bekenntnisschrifttum“(H. Kindermann, S. XLIII). K. M.] [...] wird [...] gegangen, um dem notwendig ungehinderten Wachstum der völkischen Art und Haltung zu dienen [...]. Das neue organische Gesetz des Lebens findet seine Gestaltung in Dichtungen, die von allem direkt Politischen scheinbar absehen, umso stärker aber aus dem neuen Geist entworfen, die neue und doch uralte Lebensform des naturverbunden-volkhaften Ordnungsgefüges verherrlichen.“[3163]

Über die Wirkungs-Potentiale des „Bauernromans“als einer typischen und beliebten Ausprägung einer derart verstandenen Heimatdichtung weiß auch Franz Koch in seiner „Geschichte deutscher Dichtung“(1941, 1. Aufl. 1937) zu berichten: „Im Leser [würden] [...] Erregungssysteme angesprochen, die ihn mit überindividuellem Leben verbinden. Er spürt, ohne dass ihm das bewusst werden müsste, das Tua res agitur, dass es im Schicksal des Bauern um Dinge geht, die das eigene Sein irgendwie berühren, dass eine Überwältigung des Bauern durch den Industrialismus den Volkstod bedeuten würde.“[3164]

Sprachlich-literarische Verfahrensfragen blieben offenbar mit guten Gründen unerwähnt, da sie Einblicke in die altbackene, epigonale Machart der Heimatliteratur-Texte hätten gewähren können. Dies wäre dem Grundsatz und Ziel des Überwältigens, des Gläubigmachens, des Emporreißens durch die „völkische Urkraft, die hier [durch die Dichtung] aus bäuerlichem Erbe einbricht“[3165] zuwidergelaufen. Entscheidend war, dass „die Dichtung die innere Kraft und das Wertbewusstsein unseres Volkes zum Ausdruck bringt“,[3166] wie Wilhelm Westecker postulierte, oder, wie es der Chef-Mythologe Alfred Rosenberg ausdrückte: Entscheidend sei schon immer gewesen, „mit welcher Kraft und Vollkommenheit [die Dichter] Blut und Boden der deutschen Nation erhalten, [oder] in welchem Ausmaß sie die hohen Werte germanischen Urgefühls geschädigt“[3167] hätten.

Angesichts des unentwegten Aufrufs solcher und ähnlicher Irrationalismen spricht die ideologiekritische Forschung zum Nationalsozialismus von einer Strategie, die „in Ermangelung einer eigentlichen Ideologie“„ im Bewusstsein der Deutschen bereits vorhandene Wertbegriffe, die seinen [des Nationalsozialismus] Zwecken entgegenkamen“, verabsolutierte und „einen Mythos aus ihnen“machte: „So wie der Mythos der rassisch bestimmten Volksgemeinschaft dem Bedürfnis des deutschen Kleinbürgers entsprach, in einem großen Ganzen dienend und zugleich teilhabend aufzugehen, so wurde das überkommene Wertsystem der ländlichen Heimat zum Mythos [vorzugsweise, K. M.] vom ewigen Bauern und seiner bluthaften und seelischen Verkettung mit Heimat und Scholle pervertiert. Die urböse Gegenwelt wird in beiden Fällen repräsentiert durch das Artfremde, Fremdrassige [...].“[3168]

Adalbert Schmidt formulierte im Jahre 1935 paradigmatisch: „Überall wächst das Verlangen nach Ordnung und Bindung. Die Macht der Überlieferung wird wieder wirksam. Nicht mehr zusammenhanglos steht der Mensch im All, er ist der Brückenpfeiler, der Vergangenes mit Künftigem verbindet, den Ahnen verpflichtet, den Kommenden gegenüber verantwortungsbewusst. [...] Der expressionistische Traum der Weltverbrüderung weicht einem werktätigen Dienst am Volkstum und Heimat. Der erdentrückte Geist kehrt zurück in den Bereich der Wirklichkeit, die die reale und ideale Welt in gleicher Weise umfasst.“[3169]

10.3.3. "Heimatdichtung" im Ensemble der literarischen Gattungen

Die bescheidene Palette der im „völkischen Kampf“ der Nationalsozialisten geschätzten und geförderten Literatur umfasste die folgenden drei Bereiche: Die verherrlichende Darstellung des Krieges und des Soldatischen (Heldische Dichtung, hauptsächlich in Form der Weltkriegsliteratur und der NS-Kampflyrik), die Darstellung von „Glauben und Bekenntnis“ im „Kampf um das Reich“ (Fest- und Weihedichtung, chorische Werke) sowie die „blutsmäßig“ gebundene Verkündigung von „Landschaft, Volkstum, Heimat“(Heimat-, Bauernroman und historischer Roman).[3170]

Es gibt keine „volksunmittelbare Literaturforschung“[3171] der Nationalsozialisten, wie die NS- Deutschkunde von Heinz Kindermann in seinem „Kampf um die deutsche Lebensform“(1941) einmal genannt wurde, die sich bei der Würdigung des literarischen Kanons nicht an der Trias der Ideologeme „Volk, Volkstum, Volksgemeinschaft“, „Heldentum, Treue und Opfer“ sowie „Glauben und Bekenntnis“orientieren würde. Dazu kommen die als determinierende Wirkungskräfte aufgefassten Vorstellungen von Stamm und Landschaft (Stämmen und Landschaften), die als mehr oder weniger „schwerfruchtend“[3172] gelten, oder jene von „Reich und Nation“ als Ort der im engeren Sinn nationalsozialistischen Dichtung, so wie es Walther Linden paradigmatisch formulierte: „In der Gegenwart des nationalsozialistischen Deutschland steht die bäuerliche Dichtung der Landschaften und Stämme im einigen Miteinander mit der völkischen Kampflyrik, das Bäuerliche und das Soldatische, Heimatboden und das einige Großdeutsche Reich. [...] Diese volkhafte Dichtung hat die geistigen Waffen geschärft, das Artbewusstsein erweckt, den völkischen und staatlichen Willen erregt – so ist die Dichtung im wahrsten und echtesten Sinne, Hüterin und Ruferin von Volk und Reich.“[3173]

Diese Vorstellungsbereiche, die von der NS-Deutschkunde insistierend in den Mittelpunkt gerückt werden, sind Drehscheiben, von denen aus Idyllisierendes und Agrarromantisches, Archaisierendes und Mythisch-Nordisches ebenso vermittelt werden konnten wie Chauvinistisches, Operativ-Zweckdienliches und Bekenntnishaft-Nationalistisches. All diese Inhalte werden immer von jener „Sucht nach ‚Totalität‘ zusammengehalten, die die Transformation des Absoluten in die Geschichte hinein als die politisch-transpolitisch notwendige Dichtertat“[3174] antrieb. Helmuth Plessner hat so mit guten Gründen von einer letzten Stufe im Zerfallsprozess des deutschen Geschichtsbewusstseins[3175] gesprochen.

Welche „volksunmittelbare“Gesamtdarstellungen seit 1933 man auch immer betrachtet, den in der Tradition der „Heimatkunst“stehenden Produkten kommt im Ensemble der von den Nationalsozialisten geschätzten Dichtungen ein zentraler Stellenwert zu, wobei die „lebendige Fühlung mit den überindividuellen Mächten heimatlichen Volkstums, der Landschaft und ihrer Menschen“im deutsch-österreichischen Stamm sogar schon früher als im reichsdeutschen Kernland aufgebrochen sei, wie Franz Koch behauptet.

Die „Heimatkunst“sei – und dies sei das Verdienst Julius Langbehns, des Rembrandt-Deutschen – „Abkehr vom Individualismus und Intellektualismus zum Volkhaften und Lebendigen“, ein „fester Punkt, ein seelischer Pol, um den sich die volkhaft dichterischen Kräfte“ sammelten. Aber „erst heute, vom Boden des neuen Deutschland aus, [sei dies] richtig zu sehen“[3176] und für das „bodenständige Schrifttum unserer Tage“[3177], insbesondere für die Erschließung des „elementare[n] Wesen[s] des Bauern“[3178] bestimmend. Paul Grogger, Karl Heinrich Waggerl, Josef Weinheber, Richard Billinger, Franz Tumler, Joseph Georg Oberkofler, Erwin H. Rainalter, Max Mell und Julius Zerzer u. a. werden in diesen Kontext eingegliedert und pauschal als Heimatdichter sogar in die Nähe des rassistischen Bauernbegriffs von R. Walther Darrés „Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse“(1929) gerückt: der Bauer als „Träger wertvollsten rassischen Erbgutes“.[3179]

Auch Hellmuth Langenbucher widmet zwei seiner Hauptkapitel der diskutierten Dimension, auch wenn für ihn „Heimatdichtung“ein entwerteter Begriff ist, „da jede landschaftlich und stammesmäßig gebundene Kunst heute ihr besonderes Recht und ihren besonderen Platz im Ganzen des künstlerischen Lebens unseres Volkes“[3180] habe. In den Kapiteln „Deutsches Bauerntum. Die Einheit zwischen Mensch und Erde“, „Die bäuerliche Lebenswirklichkeit“, „Bauernnot – Volksnot“und „Landschaft und Stammestum als völkischer Lebensgrund“ wird der schmale literarische Kanon entsprechend gewürdigt, insbesondere Joseph Georg Oberkoflers „mythische „Bauerndichtungen“, Sepp Keller und Franz Schlögel mit ihren Thematisierungen des Bäuerlichen in Prosa und Lyrik (z. B. Sepp Keller: „Das ewige Leben“ – 1937; Franz Schlögel: „Heimkehr zum Volk“ – 1936, „Wir Bauern. Von Leuten und Zeiten auf Ackerbreiten“ – 1938) und Karl Heinrich Waggerl mit seinem Romanwerk seit seinem Romanerstling „Brot“ (1930), weil es „zu einem Begreifen der göttlichen Gesetze unseres Daseins [hinführe], deren Erfüllung dem deutschen Menschen stolzes Bekenntnis ist“ und „wertreichende [!] Strahlungen und Wirkungen“[3181] besitze. Auch Erwin H. Rainalter mit seinen Romanen „Die verkaufte Heimat“ (1928), „Heimkehr“ (1931) und „Sturm überm Land“ (1932) u. a., die wegen ihrer Gestaltungen der Bauernnot „ein Stück deutscher Volksnot“[3182] zeigten, wird dazugezählt.

Aus dem „bayrisch-österreichischen Stammesraum“, wie sich Josef Nadler ausdrückt, werden von Hellmuth Langenbucher u. a. Karl Schönherr, Julius Zerzer, Marie Grengg, Josef Friedrich Perkonig, Max Mell und Paula Grogger besonders in den Blick gerückt. Einzig und allein dem Oberdonauer Richard Billinger traut Langenbucher nicht, da es diesem letztlich nicht gelungen sei, bäuerliches Leben „ins Mythische“ auszuweiten und seine „heidnische Erlebniskraft [...] plumpe Primitivität“ geworden sei. Billingers Welt sei „so düster und unheimlich“, „dass es uns mitunter kalt überläuft ob dieser fast teuflischen Ausgeburten aus dem Urtrieb des Kreatürlichen“.[3183] Hinter solchen Beurteilungen dürfte sich aber das geheime Wissen um Billingers homosexuelle Orientierung verbergen, was aber nicht offen ausgesprochen werden durfte. Zudem gehörten Billingers Verse „Wir Bauern“, in denen der Bauernstand als das natur- und gottunmittelbare Wesen schlechthin vorgestellt wird, zum NS-Kanon, weil hier Billingers „Bindung [...] an die Mächte der Erde und des Volkstums“[3184] am sinnfälligsten werde.

Adalbert Schmidts Anthologien und seine Literaturgeschichte aus 1935 strukturieren nach ähnlichen Einteilungskriterien: „Erdgebundene/erdhafte Dichtung“, ‚Heimat und Volkstum“, „Mutter Heimat“, „Blut und Erbe“, „Mensch und Erde“oder „Erlebnis der Landschaft“, so lauten einige Begriffe des völkischen Ideologiebogens, in die die Texte eingespannt werden und mit ihrer ermüdenden Schollen-, Ackerfurchen-, Ahnen- und Blut-Metaphorik auch entsprechen. Nichts, was nicht auf diese Weise geheiligt und gefeiert würde! Sogar Josef Weinhebers „Hymnus auf die deutsche Sprache“, unzählbar oft in diversen Anthologien abgedruckt, kann sich der Schollenmetaphorik nicht enthalten: „unzerstörbar Scholle dem Schollenlosen“.[3185]

Rolf Peter Sieferle hat erst kürzlich den „völkischen Komplex“als Bestandteil des Paradigmas der „Konservativen Revolution“aus ideengeschichtlicher und ideologie- und sozialhistorischer Perspektive detailliert untersucht. Das „symbolische Feld der Konservativen Revolution“als eine seit dem frühen 20. Jahrhundert ungemein wirkungsmächtige Antwort auf die rasanten Zivilisationsprozesse der Moderne und als dritter Weg neben dem „humanitären Liberalismus“und dem „marxistischen Sozialismus“besteht demnach außer dem „völkischen Komplex“aus dem „nationalen Sozialismus“(Paul Lensch), dem „revolutionären Nationalismus“(Ernst Jünger), dem „aktivistisch-vitalen Komplex“und dem „Komplex des biologischen Naturalismus.“[3186]

Sieferle verweist auf Teilübereinstimmungen zwischen den genannten Feldern. Gerade die rassistische Dimension – z. B. „innere Gesundhaltung des Volkes“durch Eugenik, Züchtungspolitik und Herstellung der „rassischen Reinheit“als „biologische Basis der kollektiven Identität und Geschlossenheit des Volkes“[3187] – weise enge Vernetzungen mit dem „völkischen Komplex“auf. „Von den genannten fünf Elementen des symbolischen Felds der Konservativen Revolution ist nur die völkische Position antimodern bzw. zivilisationsfeindlich im Sinne der üblichen Klischees. […] Es fällt daher schwer, das gesamte symbolische Feld der Konservativen Revolution als antimodern und rückwärtsgewandt zu charakterisieren. Es handelt sich vielmehr im Selbstverständnis der meisten Protagonisten um Projekte einer alternativen Moderne, die aus der historischen Offenheit einer mobilgemachten Gegenwart heraus entworfen werden.“[3188]

Gerade unter Berücksichtigung der Diskurse der Konservativen Revolution wird klar, dass der völkische Heimatkomplex und dessen massenhaften literarischen Ausformungen – z. B. in Form des „ewigen Bauern“auf seiner Scholle, aber auch die idyllisierenden, Antizivilisatorisches imaginierenden Heimat-Bilder – ein klares Aufgabengebiet abzudecken hatten. Dabei kam dem völkischen Komplex, also der so genannten „Heimatdichtung“in ihrer bescheidenen Palette von formalen Erscheinungsweisen und stilistischen Epigonalitäten, eine kompensatorisch- bewahrende und insofern wahrnehmungsbeschränkende und -beschädigende Rolle zu, die umso wichtiger wurde, je intensiver die durch den Nationalsozialismus angetriebene Rasanz der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bis hin eben zur rücksichtlosen Praktizierung eiskalter „instrumenteller Rationalität“(Holocaust) im Zuge eines derartigen „Modernisierungsprozesses“vorangetrieben wurde. Dass sich aber gerade das Bild des Nationalsozialismus sehr lange „erstaunlich resistent“[3189] mit Bildern von Heimatlichkeit, wenn auch oft reaktionärer, verbinden ließ, könnte zwar einerseits dem massiven und offenbar erfolgreichen Einsatz und langem Nachwirken des „völkischen Komplexes“durch die Nationalsozialisten zugeschrieben werden, andererseits aber auch selbstkritisch die Frage aufwerfen lassen, worin denn die Gründe für eine derartig andauernde Verwechslung von reaktionärem Bild und historischen Tatsachen liegen.

Es ist kein Zufall, dass z. B. Kurt Tucholsky angesichts der im Mai 1933 flächendeckend stattfindenden Bücherverbrennungen im Deutschen Reich, die u. a. im Namen von „Volksgemeinschaft und idealistischer Lebenshaltung“, „Zucht und Sitte“, „Hingabe an Volk und Staat“, „Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit“ und „Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist“ vollzogen wurden, an seinen Freund Walter Hasenclever über den neuen Dichtungs-Kanon schrieb: Da kommen sie nun aus allen Löchern gekrochen, die kleinen Provinznutten der Literatur, „nun endlich, endlich ist die jüdische Konkurrenz weg – jetzt aber! [...] Lebensgeschichten der neuen Heroen. Und dann: Alpenrausch und Edelweiß. Mattengrün und Ackerfurche. Schollenkranz und Maienblut – also Sie machen sich keinen Begriff, Niveau null.[3190]

Ähnliches kann man auch bei Heimito von Doderer lesen, der sich über jenes „Volk“mokierte, das jetzt mit seinen „ungesund-geschwollenen Hervorbringungen des dörflichen Geistes“ „unausgegoren, embryonal, im geborgten Gewande einer späten, zivilisierten Litteratur [!] durch die Straßen der Städte [trottelt]“[3191] oder bei Leo Perutz, wenn seinem Erzähler im Nachlassroman „Mainacht in Wien“in der Flut der Neuerscheinungen des Jahres 1938 neben den „Grenzlandgeschichten, Romanen aus den Befreiungskriegen und Erzählungen aus der germanischen Frühzeit“besonders die beliebten „Erlebnisse des kerngesunden jungen Bauernsohnes“, ins Auge stechen, „der sich in die Großstadt verirrt hatte, aber zum Glück nach einigen unerfreulichen Erfahrungen den Weg zurück zur Scholle fand.“[3192]

Auch der österreichische Ständestaat förderte aus einem deutsch-österreichischen und katholischen Missionsbewusstsein heraus, das meinte, gegen NS-Neuheidentum und gottlosen Marxismus ins Feld ziehen zu müssen, eine ähnliche Dichtungs- und Kunstideologie und -praxis, die man auf folgende zugespitzte Formel bringen kann, die Karlheinz Rossbacher gefunden hat: „Österreichische Provinzliteratur = Provinzkunstprogramm der Jahrhundertwende minus Antiklerikalismus plus katholischer Akzent, bei schwebender Gewichtung des volkstümlichen bis völkischen Elements mit oder gegenüber dem christlichen.“[3193]

Auch der vaterländischen „Kulturpolitikskultur“(Robert Musil) seit 1934 ging es um die Überbrückung der Kluft zwischen Künstlern und „Volk“. Bei Guido Zernatto etwa, dem Dichter- Politiker, heißt es in der neu gegründeten Kultur-Zeitschrift des autoritären Staates „Neues Leben“: „Liberales Herrentum auf der einen Seite und marxistischer Sozialismus auf der anderen haben dazu geführt, Volk und Kultur [...] immer mehr zu entfremden. [...] Es gibt keine ‚Kunst für die Kunst‘ und es gibt keine Klassenkultur und Klassenkunst. Sie ist da für das ganze Volk, zur inneren Bereicherung und zu edlem Genuß.“[3194]

Zernatto selbst ist ein Vertreter der österreichischen „Provinzliteratur“, und zwar einer solchen, die sich des biologistischen Elements enthält, aber, wie Karlheinz Rossbacher zeigen konnte, bei aller sympathischen „Betonung des sozialen Mitgefühls mit den Unterschichten“letztlich der „Verbauerung“der Gesellschaft das Wort redet, fasziniert von der „Suggestivität der bäuerlich-ländlichen Sozialform als Vorbild für den Staat.“[3195] Zernattos Roman „Sinnlose Stadt“ (1934), die Geschichte eines Bauernsohnes, der nach seinen desillusionierenden Erfahrungen in der Großstadt Wien durch „das Dorf“ und seine bodenständigen Werte „zu einem neuen Leben erwacht“[3196] und damit ein beliebtes Handlungsmodell vieler heimatliterarischer Texten (re-)produziert, fand deswegen auch sofort Lob und Anerkennung z. B. in Adalbert Schmidts deutsch-völkischer Literaturgeschichte „Deutsche Dichtung in Österreich“ (1935), und zwar bezeichnenderweise im Kapitel „Erdgebundene Dichtung“. Auch in österreichisch-vaterländischen Darstellungen wird Zernatto als der „vollkommene Bauer“gepriesen, werden doch die Vorstellungen von Glück und Gesundung mit der Ferne vom Städtischen assoziiert:[3197] „Zernatto ist der unbestrittene Schöpfer einer realistischen Bauernlyrik, in der das Volkstum nicht der Mode wegen, sondern um seiner tiefen Kraft willen lebendig wird.“[3198]

Die Übergänge zwischen „Gott (und Blut) und Boden“, wie Horst Jarka, einer der Pioniere der Erforschung von Literatur und Kultur des „Ständestaates“nennt, sind offensichtlich.[3199] Schon damals hat eine Minderheit von aufmerksamen, dem Ständestaat durchaus nahe stehenden, aber dennoch kritischen Beobachtern, wie z. B. Ernst Křenek, die Neigung der kulturpolitisch Verantwortlichen wahrgenommen, mit der „Blubo-Ideologie“zu liebäugeln und keine klaren Trennungslinien zu setzen. Křenek schrieb in der Zeitschrift „Der christliche Ständestaat“im Juni 1935: „Demnach ist auch die Blubo-Ideologie nicht etwas, das man an sich bejahen und übernehmen kann, wenn man nicht die Ganzheit uneuropäischer und antichristlicher Lebensformen akzeptieren will. Der tragische Grund dafür, dass sich diese Erkenntnis so außerordentlich schwer Bahn brechen kann, scheint darin zu liegen, dass der katholische Genius Österreichs [...] sich bisher kaum dazu durchringen vermochte, zu den an sich unzweifelhaft wertbetonten Gehalten, wie Volkstum, Landschaft, Tradition, Geschichte, einen anderen Zugang zu finden, als den über eine gewisse enge, provinzielle Kleinbürgerlichkeit.“[3200]

Es gehe darum, aus diesem Zustand von gestern herauszukommen. Allerdings konnte die Heimatkunst/Provinz zu der von Křenek angepeilten „katholischen und österreichischen Avantgarde“[3201] gar nichts beitragen – im Gegenteil. Erst Monsignore Otto Mauer sollte nach 1945 versuchen, in der Enklave um die Galerie St. Stephan die Moderne im Bereich der bildenden Kunst zu befördern.

10.3.4. Textbeispiele

Ich beschäftige mich im Folgenden mit einigen repräsentativen Text-Beispielen, die „Heimat“ assoziieren lassen und im NS-Dichtungs-Kanon einen festen Platz haben. Sie sind Teil der bescheidenen Bandbreite dieser Art von „Heimatliteratur“. „Heimatdichtung“ nach Art der Nationalsozialisten erscheint in folgenden Facetten:

1. Als Lob und Feier des „Bleibende[n], [des] Sicheren, als „Erbgnade für unser unseliges Geschlecht“,[3202] wie sich Karl Heinrich Waggerl ausdrückte. Der ursprünglich aus dem „Wagrainer Tagebuch“ (1936) stammende Text, der zugleich einer Passage vorangestellt ist, in der sich der Erzähler den Besitz eines eigenen Bauern-„Lehens“ imaginiert – „Ackerboden, Wiesenland, eine Hütte darauf“ – und der mit einigen leicht instrumentalisierbaren ideologieträchtigen Sätzen angereichert ist, ist ein gutes Beispiel für das gern gebrauchte Motiv des nach langen Wanderungen in der Fremde letztlich glücklich in die Heimat, auch in die heimatliche Kindheitswelt Zurückgekehrten: „und dann wird mir leicht und fröhlich zu Mute, weil ich alle die bekannten, die getreuen Dinge um mich versammelt sehe. [...] Die beste Kraft kommt aus den Wurzeln.“[3203]

Es verwundert nicht, dass Heimatideologen verschiedener Provenienz, nicht nur die Nationalsozialisten, diese Passagen gerne zitierten. Josef Friedrich Perkonig etwa nahm sie schon 1936 in seine Anthologie „Deutsche Ostmark. Zehn Dichter und hundert Bilder lobpreisen Österreich“ auf, so wie Kurt Ziesel 1938 in seine NS-„Feierabendfolge“„Stimmen der Ostmark“ oder Heinz Kindermann 1939 in seine repräsentative Anthologie „Heimkehr ins Reich. Großdeutsche Dichtung aus Ostmark und Sudetenland 1866–1938“. Auch in einer Geburtstagsanthologie für Adolf Hitler fand der Text im Jahre 1941 seinen Platz: „Dem Führer. Worte deutscher Dichter. Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht“ und in diversen Wehrmachtsausgaben seit 1938, sogar noch 1945 – hier im Zuge der seit 1941 politisch wichtigen Heimatfront-Arbeit.[3204]

Auch Max Mell hat auf dem Gebiet des Lobes und Feierns der „Heimat“ seinen festen Platz im NS-Kanon, und zwar mit seinem immer wieder zitierten Text „Heimat“[3205] , mahnt dieser doch die Liebe zu dieser pauschal ein, indem das Vertraute gegen das Fremde ausgespielt wird, überwölbt, beschützt und sakralisiert vom „Sternenzelt“. „Mell [...] geht den Weg zum Volkstum, zum religiös verwurzelten Volkstum des alpenländischen Menschen“,[3206] schrieb Adalbert Schmidt in seiner „Deutschen Dichtung in Österreich“ (1935).

Auch Richard Billingers Text „Heimat“, der Mottotext der Zeitschrift „Oberdonau. Querschnitt durch Kultur und Schaffen im Heimatgau des Führers“ (1941),[3207] gehört in diesen Zusammenhang. Sieht man von einigen Passagen ab, die den dort gepriesenen Heimatsucher und geheilten Heimkehrer als „Baustein des Reiches, des großen und ewigen Deutschen Reiches“ feiert, hätte der Text auch vor 1938 und nach 1945 für die Propagierung von Heimat- und Landesbewusstsein herhalten können. Der Text huldigt – den Idyllen-Konventionen entsprechend – einer „Dorfheimat“, die angeblich „seit Jahrtausenden die steten, die ewigen Gesetze“ in sich trägt. Symbiotisch verschmolzen mit diesen habe man so Anteil am Volk. So sei auch „Gott“ erfahrbar: „Du musst, bist du irgendwer, Heimat ausströmen“ und Giften wehren, so heißt es dort, um auch als Künstler „groß“werden zu können.

2. Die wichtigste Facette von „Heimatliteratur“ ist die Thematisierung von Heimat als gottgewolltem und unveränderbarem Bauernreich, den Überlieferungen und dem Besitzstand der Sippe treu ergeben, den Ahnen streng verpflichtet, jegliche Abweichung davon als Verrat rächend, wie dies z. B. in den von der NS-Literaturpropaganda viel gelobten Romanen von Joseph Georg Oberkofler, „Das Stierhorn“ (1938)[3208] und „Der Bannwald“ (1939), zum Ausdruck kommt. Der Roman „Der Bannwald“, der 1939 den „Volkspreis für deutsche Dichtung“ erhalten hat, gestaltet die „Idee des Glaubens an die ewige Dauer großer und starker Bauerngeschlechter, die so lange verbürgt ist, als die verantwortlichen Träger des Geschlechtserbes sich des Lebensgesetzes ihres Geschlechtes bewußt bleiben“.[3209] „Gott und [das Genner-Geschlecht auf] Vorin [der Hofname] bleiben“,[3210] so lautet die letzte Botschaft des Romans. „Allen vor geht altes Recht, /Tief aus Land und Brauch und Samen. / Höfe sind wie Völkernamen / Und wie Schicksal dem Geschlecht.“[3211] Dieser Spruch hält das Hauptthema von Oberkoflers Arbeiten fest.

Zweifellos kann man Oberkoflers Text als Beispiel dafür betrachten, wie das „Bauerntum mit seiner ‚Gesundheit‘ und stabilen Ordnung“ exemplarisch für das beschworene „Volkstum“ stand – „als ein allen gemeinsames, sowohl rassisches wie spirituelles Substrat für die Reintegration der Gesellschaft jenseits klassen- und schichtsspezifischer Unterschiede“, als ein im Zuge der Arbeitsteilung der Künste wichtiger Beitrag der „volkhaften Dichtung“ zu „einer politisch und spirituell ‚neuen Gesellschaft‘, der ‚Volksgemeinschaft‘“.[3212]

Es liegt nahe, hier auch einen sehr viel besser erzählten, aber in seiner geistigen Fundamentierung ähnlichen Bauernroman zu nennen, nämlich Karl Heinrich Waggerls Roman „Brot“ (1930), eine Adaption des Knut-Hamsun-Textes „Segen der Erde“. Schließlich haben die Nationalsozialisten das Werk Waggerls hauptsächlich mit „Brot“ identifiziert – der Roman war tatsächlich Waggerls Eintrittskarte in den NS-Literaturkanon.

„Wenn man dem Buch überhaupt eine Bedeutung unterlegen will, so wäre es die, daß wir alle, wie Simon, zu irgendeiner Zeit wieder unten anfangen müssen. [...] Ich wollte auch sagen, es sei der tiefste Trieb im Menschen auf das Eigentum gerichtet, auf das ‚Wurzelfassen‘“, heißt es in Waggerls „Autobiographischen Notizen“ (1930) über Waggerls Schreibmotivation.

Simon Röck, „ein Mann“, „ein Mensch“, „ein Auferstandener“, „nicht ungeprüft vor Gott“,[3213] hat, wie der Leser erst spät erfährt, schlimme Erfahrungen mit der modernen, zivilisierten Welt gemacht. Der Mann „von irgendwoher“,[3214] trägt nicht zufällig denselben Familiennamen wie Georg, nämlich Röck, aus dem bis heute nur teilweise publizierten „Georg“-Roman (1925) Waggerls. Aber Simon Röck ist jetzt, anders als Georg, aus der städtischen Welt der Dekadenz herausgenommen, er wird nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten sozusagen an den biblischen Beginn der Zeiten gestellt, um sein bäuerliches Schöpfungs- und Aufbauwerk zu beginnen und zu vollenden. Dies ist eine harte und glückselig machende Aufgabe und umfasst alle Dimensionen des Lebens, vom Urbachmachen bis zum Fortpflanzen. Mythisches ist im Spiel:

„Vielleicht ist seit Jahrzehnten niemand mehr in diese Einöde gekommen, niemand, seit die Bauern von Eben ihr Land verlassen haben, dieses verwunschene Land, so arm, daß sich kein Käufer dafür finden ließ. Es sank allmählich wieder in die Wildnis zurück [...]. Hier, wo der Grund fest ist und wo man Steine für die Mauern brechen kann, hier will Simon bauen. [...] Aber am neunten Tage brachte der Südwind Wildwasser in die Halde, und am Morgen war alles Holz verschwunden, weggeschwemmt [...]. Aber gegen Ende des Tages, als er trockenes Holz für seine letzte Suppe suchte, entdeckte Simon den Bretterboden auf der Tenne. Es war wunderbar [...]. Simon hat ein Dach über dem Kopf, ein eigenes, festgefügtes Dach. [...] Es ist die Nacht der Prüfung. Simon ist hochmütig gewesen, er kam irgendwoher, aus der Tiefe, und wollte Herr sein in der Einöde, darum ist er gestraft worden. [...] Simon ist nicht der Mann, der nachgibt. [...] Da geht die Jugend [die schwangere Frau seines Sohnes Peter] vor ihm her, die Zukunft trägt sie in ihrem Schoß, den Enkel, das hat Simon gesehen.“[3215]

Eine dauerhaft gefestigte, bei näherem Zusehen ausgeprägt patriarchale, auch eine teil-autarke Lebensordnung, überglänzt vom Sternenhimmel – darauf läuft die Erzählung hinaus. Gegen Ende des Romans versucht die dekadente Außenwelt, Simon erneut zu vernichten. Simons Gegenspieler, der Müller, und dessen Trabanten verstoßen gegen die „natürliche“ Ordnung des „erdigen“, schollengebundenen, hart-schönen Daseins. Ihnen werden die aus der Heimatkunst bekannten Attribute zugeschrieben: unmoralisch, verbrecherisch, ordnungsgefährdend, hoffärtig, ruhmsüchtig, der Spekulation und dem Mammon hingegeben: „Der Müller ist ja auch ein Simon auf seine Art, ein Wegbereiter, ein Prophet. [...] Brot! dachte Simon. Ruhm! dachte der Müller.“[3216]

„Brot“ ist ein Beschwörungsroman des Starken und Gesunden sowie des Stabilen und Dauernden. Der Roman feiert das bewusste Hintersichlassen des angeblich ungesund Schwachen, des Nicht-Sesshaften, des „Fliegenden Holländers“, verkörpert in Sebastian.

Als Simon nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis auf dem Weg nach Hause ist, kreuzt sich sein Weg zeichenhaft mit dem Sebastians, des Sohnes von Simons Frau Regina und des Müllers aus jener Zeit, als Regina noch fern von der „Erde“in der „Stadt“dem korrupten Müller begegnete. Sebastian ist wieder einmal beim Weggehen, Simon beim Heimkommen. Sebastian wird als der Inbegriff des ruhelosen, ungefestigten Wanderers dargestellt – ein zwar nicht unsympathischer Mensch, aber ein übersensibler Schwächling. Regina hat sich zur erdhaften Mutter gewandelt und Simons Sohn, den starken Erben Peter, geboren. Sebastian hingegen trägt das Schwache in sich, er ist ein zwar intelligenter und begabter, künstlerisch und technisch interessierter, aber ein unruhiger, „wurzelloser“Wanderer und Landstreicher. Krankes ist im Spiel, Vererbtes ist am Werk. Zweifellos hat Waggerl Anteile seines Selbst in Sebastian verkörpert, aber solche, die es abzuspalten galt. Nicht zufällig ist es denn auch der verzweifelte, einsame Müller, der „die Hände vor das Gesicht“[3217] schlägt und damit das Bild abgibt, so wie sich Waggerl selbst in den zwanziger Jahren fotografierte oder fotografieren ließ: das einsame Ich, monadenhaft, offensichtlich krank, bindungslos, metaphysisch obdachlos, verzweifelt. „Brot“ ist insofern auch ein Reinigungsroman: „unzerstörbare Kraft und Wirkung des Glaubens an sich selbst noch einmal.“[3218]

„Brot“lebt von den in alle Fugen der Romanwelt eindringenden dichotomischen Vorstellungsbereichen „fest“und „schwankend“, „sicher“und „unsicher“, „stetig“ und „unstetig“. „Erde“, „Scholle“ und „Hof“einerseits und „Wasser“, „Teich“ und „Stadt“ andererseits sind Orte, an denen Heil oder Unheil passieren. Die biblische Metaphorik – „Nacht“, „Verhängnis“, „Finsternis“ – unterstützt das Wesentliche.[3219] Alles das war nichts Neues um 1930 – „Hamsun“ war eine Formel für das, was damals zur Debatte stand – Zivilisationsskepsis bis -feindschaft im Zeichen des Erdhaften: „Unter dem Eindruck dieser wirtschaftlichen Konstellation [die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf den Bauernstand] entstand vor allem seit Ende der zwanziger Jahre eine Fülle bäuerlicher Siedlungsliteratur. Als großes Vorbild galt Knut Hamsuns damals in Deutschland überaus populärer Roman ‚Segen der Erde‘ (1917), der den Siedler, der allein auf sich gestellt in der Einöde Neuland kultiviert, zur mythischen Urgestalt stilisiert.“[3220]

Auf Oberkofler und – mit Abweichungen – auch auf Waggerl trifft zu, was die Literaturwissenschaft als Typologie/Poetik am Beispiel des traditionellen Heimatromans der Jahrhundertwende erarbeitet hat. In seiner Arbeit über die „Heimatkunstbewegung und Heimatroman“(1976) hat Karlheinz Rossbacher anhand von vielen Beispielen dieses Genres um 1900 die tragenden motivischen und formalen Aspekte, die strukturellen Merkmale analysiert.[3221] Zusammenfassend beschreibt er in einem später publizierten Aufsatz das Merkmalbündel, die mikroskopisch erfassten Form-Elemente folgendermaßen: Einen „Niederschlag von Reflexionen [...], die man von Autoren der Moderne kennt“, werde man kaum finden, meint Rossbacher. „Ob Leben, Personenkonstellationen und Schicksale überhaupt noch entlang eines Fadens von Und- dann-und-dann-Stationen erzählt werden konnten (Robert Musil), ob der Gestus der Mimesis bzw. der Wiederspiegelung von etwas nicht durch Konstruktion eines Etwas ersetzt werden sollte (Hermann Broch), ob komplexer gewordene Menschenbilder (nach Sigmund Freud) und Gesellschaftsbilder (wie Weber und Simmel sie soziologische analysiert haben) aus der Position eines (und nur eines) Erzählers, der eine bestimmte (und nur diese) Erzählposition einnahm, noch erfasst werden konnten, darüber machten sich die Heimatromanromanciers keine Gedanken. Sie scheuten sich nicht, Lebensstrecken in einem einzigen Satz zu referieren, etwas, das im modernen Roman sehr selten war.[3222]

Mit diesen literarischen Werkzeugen werde eine Welt strukturiert, die sich durch die oppositionelle Setzung von „Stadt“und „Land“, durch Naturhaftigkeit und „Kreisläufigkeit“ von Geschichte und Gesellschaft auszeichne und in der „Schicksalsgläubigkeit“und „Autoritätsverfallenheit“sowie das „souveräne und handlungsstarke Ich“dominiere, das „zum Platzhalter für eine späteres, kruderes geworden“[3223] sei.[3224]

3. Auch an die beliebte Figur des mythischen Ur-Bauern, wie er z. B. in Karl Springenschmids Thingspiel „Das Lamprechtshausener Weihespiel“ (1938) auftaucht und die nazistischen Wahrheitssätze über die „Befreiung der Ostmark“sagt, soll erinnert werden. Springenschmid verarbeitete in seinem Weihespiel Lamprechtshausener Vorkommnisse während des NS Putsches im Juli 1934 – Dollfuß wurde damals in Wien ermordet –, bei dem auch einige NS- Putschisten ums Leben kamen oder danach ins ständestaatliche Gefängnis wanderten, aus dem sie – entgegen den Behauptungen im Weihespiel Springenschmids – aber schon 1936 im Zuge der neuen „Befriedungspolitik“Schuschniggs wieder entlassen wurden.[3225].

Springenschmid will, wie er sagt, „den Kampf und Sieg dieses Dorfes in die Herzen [des Volkes] brennen.“[3226] Die ihm zur Verfügung stehenden poetischen Mittel aus dem Reservoir biblisch-religiösen Sprechens, expressionistisch klingender Typisierung und alt-deutscher Rhythmisierung nützt er für die Vermittlung des Hitler-Mythos, einer rassistisch begründeten Geschichtsmystik und für die Heiligung der Opferbereitschaft.

Springenschmids Spiel reaktiviert die im Deutschen Reich schon Mitte der dreißiger Jahre abgeklungene Thingspiel-Mode, um die „Heimkehr ins Reich“Hitlers als geschichtsendgültige und naturnotwendige Befreiung aus dem Kerker des volksfeindlichen Judenstaates Österreich, des verbrecherischen Kruckenkreuz-Staates, zu feiern. Volksrecht bricht Staatsrecht, so lautet die ideologische Botschaft. Hitler erscheint schließlich als arischer Heiland: „Der Führer ist unter uns“, heißt es abschließend, oder „auferstanden sind deine Toten“, so verkündet der mythische Urbauer am Ende, der durch die Weihehandlung geführt hat. Im Standgerichtsprozess gegen die NS-Putschisten wird der Prozess Jesu aktualisiert. Bei Springenschmid ist es der Urbauer, der NS-Apostel, der die Vermittlungsfigur darstellt: „mit breit gegrätschten Beinen“steht er da, „mühsam in der Sprache des Dorfes“sprechend, eine mythische Erscheinung „mitten im Volk“ und zugleich der Nachbar von nebenan. Der ewige Bauer spricht die NS-Wahrheit aus:

„Der Judas geht um und tut sein Handel
verlogen und falsch ist aller Handel
[...]
Sechs Männer gehn dem Dorf voran, Ihr Tod hat das Leben aufgetan,
Ihr Opfer kündet das große Reich,
Ihr Namen ist Feldruf und Fahne zugleich.
Fasset Schritt,
Die Toten schreiten mit!“[3227]

4. Dass sich die „Heimatdichtung“in besonderer Weise im und für den Krieg nutzen ließ, ist eines der bedrängenden Kapitel der Literaturgeschichte. Die „Heimatfront“wurde auch mit Hilfe der Dichtung gebaut und gefestigt.

Zwischen 1938 und 1945 erschien eine Reihe von Anthologien, die den Heimatdiskurs im dargestellten Sinne in den Mittelpunkt rücken. Der Bogen spannt sich z. B. von Kurt Ziesels „Feierabend“-Vorschlägen (1938) für die Hitlerjugend, den BDM, die SA, die SS und den Arbeitsdienst, die u.a. mit den bekannten Texten von Richard Billinger, Joseph Georg Oberkofler, Karl Heinrich Waggerl oder Carl Hans Watzinger („Einkehr im Dorf“) zur nazistischen Heimat- und Volkstumsarbeit beitragen sollten, bis zu Sammelbänden, die nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Zuge der von der Partei-Kanzlei verordneten „Aktivierung der Dorfkultur“[3228] erschienen sind. Dazu zählten z. B. Anton Haasbauers „Der Ruf der Heimat“(1942), aber auch Soldaten-Zeitschriften, die zu diesem Zweck gegründet wurden. Die „Salzburger Soldatenzeitung“mit vielen Beiträgen zum Heimatschutz- und zur Heimatfrontarbeit sei stellvertretend genannt. Auch die Heimatwerk-Bewegung muss hier genannt werden.[3229]

Besonders beliebt war Karl Heinrich Waggerls „Feierabend“-Text aus dem gleichnamigen Sammelband, ein Lob des Dorfes „in der warmen Mulde“, angereichert mit einigen im Krieg gut instrumentalisierbaren Sentenzen wie z. B. dem Satz „Nur die Treulosen läßt Gott wirklich fallen.“[3230] – nützlich und brauchbar sozusagen als Ausstiegsdroge aus dem bedrängenden Alltag während des Krieges. Die NS-Filmwirtschaft hat auf diesem Gebiet wohl das Wichtigste geleistet.

Klarerweise haben NS-Blätter ähnliche Waggerl-Texte mit Vorliebe auf ihre Feuilleton-Seiten gesetzt, noch dazu gegen Kriegsende: „Es ist immer irgendwo Sonne. Dazu braucht es ein langes Leben, um herauszufinden, daß immer irgendwo Freude und Fröhlichkeit ist, Unglück und Trauer anderswo. Man darf freilich nicht erwarten, es müßten alle guten Stunden dorthin fallen, wo man sich im Trotz und in der Angst des Lebens festgeklammert hat. Wie Gott es ansieht, im ganzen liegt alles recht gewogen und im Gleichgewicht in seiner Hand. Und dann, wieviel wünschen wir überhaupt, wie wenig machen wir aus dem, was uns gefällt! Das ist ein anderes Geheimnis; alle Güter des Daseins haben ihren Wert von uns, und wer seine Armut beklagt, der ist in der Seele arm.“[3231]

Die Passage stammt aus dem Roman „Schweres Blut“.[3232] Genau das und Ähnliches wollte Waggerls Publikum lesen und von ihm selbst erzählt bekommen. Waggerl konnte auf vielen Lesereisen seine schon während der zwanziger und dreißiger Jahre erworbene Vortragskunst jetzt besonders gut gebrauchen. Dafür gab es „Beifall .... Beifall ... Beifall ...“.[3233] Waggerl freilich wusste, was er tat. Er hielt solche Texte selbst wahrscheinlich für „Kitsch“und seine Fans für „Kitschsüchtige“, die er verspottete.[3234]

Während Waggerls Heimatfront-Beiträge das Idyllische abdeckten, gab es in Anton Haasbauers „Ruf der Heimat“[3235] auch das Aggressive und das offen Rassistische, das im NS-Heimatdiskurs immer im Hintergrund schlummerte. Kurt Hildebrand Matzaks „Der Kampf um die Linde“handelt von einem, der per Gewalt zur „Heimattreue“bekehrt wird, und Rudolf Haas‘ „Der Bannfluch der Heimat“ schildert den rassisch bedingten und schließlich gesühnten Verrat eines Kärntner Bauernsohnes an der Kärntner Heimat, der – „entartet“– im Kärntner Abwehrkampf mit den Slawen kooperierte. Bemerkenswert sind auch solche Texte, die harmlos erscheinende Heimatmotive, so z. B. ein „Pongauer Bauernhaus“, dazu verwenden, um sie – als Zeichen „festverwurzelter“ Kraft – als Wurzelkraft für Kampf und Sieg zu feiern: „von ihm gehen die Unbesiegten aus!“,[3236] heißt es etwa bei Erna Blaas im Kunstjahrbuch des Reichsgaues Salzburg mit dem Titel „Das Flügelroß“ (1941). Die Realität sollte anderes bereithalten.

10.3.5. Weiterwirken, Ausblick

Im Ensemble der Gattungen hatte die „Heimatdichtung“ein klares Aufgabengebiet zu besorgen. Angesichts jener paradoxen Art „messbarer Modernisierungsschübe“(Ernst Hanisch), die das NS- Regime in Gang setzte – z. B. die Industrialisierung Westösterreichs und die Entprovinzialisierung, aber zugleich die Rückkehr zu Formen der Sklavenarbeit, die Vision eines modernen Sozialstaates, aber zugleich unter Ausschluss der „Minderwertigen“, die Technik- und Mechanisierungseuphorie, aber unter Betonung der Bauernmythologie, die Einführung der Prinzipien einer Leistungsgesellschaft, aber zugleich unter Entfesselung des Glaubens an alles Machbare bis hin zu „Auschwitz“– musste die „Heimatdichtung“die Agenden des Ausblendens von Wirklichkeit sowie jene des Entlastens von den Fährnissen des Alltags übernehmen. Zugleich war sie ein Instrument zur Vermittlung irrationaler Geschichts- und Menschenbilder. In Bildern des Vertrauten, des Stabilen und des Unveränderbaren lenkte sie ab von den rasanten Veränderungen der Gegenwart. Thomas Mann sprach von „hochtechnisiertem Romantizismus“, der Propagandaminister Joseph Goebbels feierte die „stählerne Romantik“.

„Heimat“war nach 1945 eine diskreditierte Vorstellung. „Worte wie ‚Blut‘, ‚Boden‘, ‚Scholle“, ‚Heimat‘ [...] nahm der Dichter im Dahingehen von der Erde auf, prüfte sie auf der flachen Hand und ließ sie angeekelt wieder zurückfallen. Sie waren mißbraucht, geschändet, entleert und entehrt“,[3237] schrieb Elisabeth Langgässer.

Aber galt das auch für das Bewusstsein der Allgemeinheit und jenes der so genannten politischen und kulturellen Eliten? Die Niederlage des so genannten Dritten Reiches war eine eindeutig militärische, der Schoß aber blieb fruchtbar noch, „das mentale Nazi-Syndrom“, wie das der Zeithistoriker Gerhard Botz[3238] nennt, lebte stark weiter – in unterschiedlichen Ausprägungen und mit vielfältigen Konsequenzen. Weder die Theorie von einem umfassenden Neubeginn in der „Stunde Null“des Jahres 1945 trifft zu noch jene vom fehlenden Bruch mit den NS-Mentalitäten. Vielmehr bestätigt sich die Auffassung, dass das literarische Leben als eine Gemengelage von „Neubeginn“und „Kontinuität“zu beschreiben ist.[3239] Spätestens ab 1948 gewannen die Kräfte der antimodernen Kontinuitüt größeren Einfluss und dominierten das kulturelle Klima bis in die sechziger Jahre. Es sind jene Kräfte, die spätestens seit den dreißiger Jahren den literaturpolitischen Sieg davongetragen und sehr oft sowohl als austrofaschistische als auch nationalsozialistische Kulturträger fungiert hatten.

Der Zorn und die Empörung über diejenigen, die als „Dichter“mit dem NS-Regime verstrickt waren, war im Jahre 1945 unbändig groß. Otto Basil, der Herausgeber der kurz nach Kriegsende wiedergegründeten Zeitschrift „Plan“schrieb: „Man kennt sie – oder wird sie kennen: an den Pranger mit ihnen! [...] Auch die ‚Ostmark‘ hatte ihre munterste Mannschaft gestellt.“[3240] Aber schon bald erlitt Basils Stunde-Null-Furor – Basil wollte mit seiner Aktivität ein geistiges Österreichertum von „europäischem Zuschnitt und weltbürgerlicher Fülle“wieder aufrichten – einen deutlichen Dämpfer. Denn nur ein halbes Jahr später, im März/April-Heft des Jahres 1946 derselben Zeitschrift heißt es: „Vom österreichischen NS-Parnass kommen etliche der jetzt meistgeschätzten österreichischen Dichter her. [...] Uns interessieren [...] weit weniger die patent-republikanischen Nazischriftsteller als die Dunkelmänner, die ihnen in den echt österreichischen Sattel geholfen haben.“[3241]

Schon blitzen einige für die weitere Nachkriegs-Entwicklung prägenden Faktoren auf: das schnelle Stumpfwerden der so genannten Entnazifizierung und die weitgehend versäumte Entfaschisierung auch des Kulturbereiches sowie die Folgen der sich schnell formierenden Österreich-Ideologie und ihrer Institutionen. Als austriakische Opfer-Theorie sollte sie sich geradezu als ein grundlegender Bedingungsfaktor und zugleich Fluchtpunkt, als der bestimmende Struktur-Rahmen erweisen, auf den hin auch künstlerische Produkte aus Österreich und ihre Rezeptionen zu beziehen sind.

Sollte es denn ein Zufall sein, dass z. B. Fritz Kortners Stück „Donauwellen. Ein Traum, kein Leben!“, das der in Wien geborene Autor und Regisseur (1892–1970) aus seinem US- amerikanischen Exil mitgebracht hatte und das am Beispiel eines Wiener Friseurs die Charakterstudie eines durchschnittlichen kleinbürglichen Nutznießers der so genannten „Arisierung“bot, anlässlich der Münchner Uraufführung am 15. Februar 1949 auf einen schon formierten österreich-ideologischen Block stieß, sodass es in der offiziösen Zeitung „Neues Österreich“vom 10. April 1949 als ein „penetrant antiwienerisches Machwerk“abgekanzelt werden konnte, das „unter dem Deckmantel antifaschistischer Emigrantengesinnung ein in jeder Hinsicht anrüchiges Zerrbild von Wien und allem Österreichischen entwirft.“[3242] Die Optik des „Neuen Österreich“war schon ganz auf antideutsche Abschottung, „Wiederaufbau“, einheitliche Widerstands-Identität und österreichische Opfer-Propaganda eingestellt, freilich auf eine Art und Weise, dass hinter dem Verdikt der „antifaschistischen Emigrantengesinnung“und durch das Ausblenden des Holocaust die Kontinuität antijüdischer Ressentiments bzw. traumatisierte Tabuisierung greifbar werden.

Oder: Sollte es etwa ein Zufall sein, dass z. B. Ilse Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“(1948), ein Text, der in lyrisch-symbolträchtiger Prosa die antisemitische Gewalt thematisiert, „nicht die geringste Sensation“erregte, wie sich Hans Weigel erinnerte (1966), ablesbar nicht zuletzt an der niedrigen Auflagenhöhe, während viele der noch im Jahr 1946 auf der republikanischen „Liste der gesperrten Autoren und Bücher“stehenden Titel der nationalsozialistischen Kulturträger wie z. B. Karl Springenschmid, Mirko Jelusich, Bruno Brehm, Erwin H. Rainalter, Robert Hohlbaum, Friedrich Schreyvogl oder Heinrich Zillich Auflagen von bis zu 200.000 Stück erreichten? Ganz abgesehen davon, dass z. B. Karl Heinrich Waggerl zum österreichischen Dichter – als Trostdichter und idyllisierender Heimatverkünder schlechthin – aufstieg.

Was Otto Basil schon 1946 konstatierte, nämlich den beginnenden Prozess der Reintegration und erneuten Profilierung von, wie man annehmen sollte, sowohl politisch-ideologisch als auch künstlerisch diskreditierten Kulturschaffenden, war spätestens zu Beginn der fünfziger Jahre vollzogen und durchflutete den Literaturbetrieb, folglich auch den literaturpolitischen, ja literarischen Diskurs. Elfriede Gerstl spricht von einer Zeit der „innenpolitisch sowie kulturpolitisch erstickenden Friedhofsruhe“.[3243] Gerhard Fritsch erinnert sich 1967, als er seinem ersten, dem österreich-elegischen Roman „Moos auf den Steinen“(1956) den österreich-kritischen Roman „Fasching“(1967) folgen ließ, dass sich „das öffentliche und private Bewußtsein so schnell wie bequem im geistigen Gestern, in ladenhütenden Klischees“ etablierte.[3244]

Auch Gerhard Rühm erinnert sich an die unmittelbare Nachkriegszeit, als „der ‚artclub‘ [...] von sich reden [machte]“, an die Aktivitäten der „Wiener Gruppe“in den fünfziger Jahren und jene antimoderne Kritik, die als Ausdruck eines „arroganten Provinzialismus“jede „kleinste abweichung vom Üblichen“in den Kategorien von Entartung und Kulturschänderischem denunzierte und auch vor Forderungen nach der Vernichtung der Verantwortlichen nicht zurückschreckte. Rühm schreibt: „schnell wurde deutlich, dass die mehrheit wohl vieles gegen die nazistische kriegspolitik, aber im grunde nichts gegen die ‚gesunde‘ kulturpolitik einzuwenden gehabt hatte. jetzt, da man der ‚entarteten‘ kunst wieder offen begegnen konnte, erregte sie die gemüter oft bis zu handgreiflichkeiten. schon wer für sie interesse zeigte, wurde für verrückt, abwegig erklärt – erst recht die, die sie vertraten.[3245]

Ingeborg Bachmann bringt das Thema in ihrem Gedicht „Früher Mittag“im Jahre 1952 auf ihren metaphorischen Begriff: „... sieben Jahre später, / in einem Totenhaus, / trinken die Henker von gestern / den goldenen Becher aus.“[3246] Als Theodor Kramer 1957 aus dem britischen Exil nach Wien zurückkehrte, schrieb er ein Gedicht mit dem Titel „Wiedersehen mit der Heimat“. Der Refrain lautet dreimal: „erst in der Heimat bin ich ewig fremd."[3247]



[3142] „Unsere heimischen Primitiven sind uns fremder als die der Südsee.“ Konstruktion von „Heimat“ und „Heimatliteratur“ während der NS-Zeit. Vortrag im Rahmen der Tagung „Die ‚österreichische‘ nationalsozialistische Ästhetik“ (Wien, März 2002). Veranstaltet von der Gesellschaft für interdisziplinäre Erkundungen in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst. Publiziert unter: [MüllerK 2003].

[3143] [Musil 1978b], S. 1171.

[3144] Vgl. [Schwert 1967], S. 136: „Der Ansatz zur Bürgerkriegssituation der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, die spätestens nach 1918 allgemein offensichtlich wurde, danach unter Hitler katastrophal ausgefochten, wurde bereits mitten im Wilhelminischen Zeitalter, um die Jahrhundertwende, gelegt, als, mit landschaftlichen, agrarischen, völkischen Vorzeichen, das ideologische Gegenwort ‚Heimatkunst‘ aufkam, programmatisch gerichtet gegen die angeblich national zersetzende sogenannte Großstadtliteratur, das heißt gegen die experimentierende und kritisch diskutierende Literatur der Moderne.“

[3145] [Musil 1978b], S. 1171.

[3146] [Musil 1978b], S. 1176.

[3147] [Musil 1978b], S. 1176.

[3148] [Musil 1978b], S. 1171.

[3149] [Musil 1978b], S. 1176.

[3150] [Musil 1978b], S. 1172f.

[3151] [Musil 1978b], S. 1171.

[3153] [Hanisch 1998], S. 25: Der Nationalsozialismus habe der „Radikalisierung des Bruches mit dem Publikum durch die Avantgarde [...] eine Radikalisierung des kleinbürgerlichen Kunstgeschmacks“ entgegengesetzt.

[3157] Vgl. die nationalsozialistischen Anstrengungen im Bereich der „deutschen Heimatpflege“: [Sepp 1937]. (Eine der rassistischen Figuren in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ heißt Sepp).

[3158] [Kluckhohn 1933], hier S. 178, S. 180f.

[3161] [Kindermann 1939]. Einführung, S. XXX.

[3162] [Kindermann 1939]. Einführung, S. XLII.

[3163] [Kindermann 1939]. Einführung, S. XLI.

[3165] [Kindermann 1939]. Einführung, S. XXX.

[3167] Rosenberg, Alfred: Rede vom 22. Februar 1934. Zit. nach: [Strothmann 1963], S. 267.

[3170] Vgl. [Vondung 1976], S. 57.

[3171] [Kindermann 1941]. Vorwort, S. 5 (Der Band enthält 15 Vorträge, die nach folgenden drei Kategorien geordnet sind: Das Schrifttum als Ausdruck des Volkstums; Die Dichtung im Aufbau der Nation; Die Dichtung im Kampf um das Großdeutsche Reich).

[3175] [Plessner 1959], S. 83f. (Zi. nach: [Wegener 1964], S. 58f.).

[3176] [KochF 1941], S. 302f.

[3179] [KochF 1941], S. 353; vgl. [Darré]; [Reinthaller 1938] (zum Abschluss: Schlögel, Franz: Bauernangriff 1625: „[...] Und jetzt: nieder die Spieß und voran/Tambur, schlag ein – –/ Es mueß sein!“)

[3181] [Langenbucher 1938].

[3185] [Weinheber 1939] (im Kapitel „Mutter Heimat“).

[3190] Nach: [Sauder 1985], S. 279f.

[3191] Nach: [Schmidt-Dengler 1985], hier S. 298.

[3192] [Perutz 1989], S. 295 (Erstveröffentlichung in: Die Presse, SPECTRUM 30.4./1.5.1988).

[3194] [Zernatto 1938],; vgl. auch: [Kneisel 1937]. Kneisel ordnet u. a. nach folgenden Kriterien: „Dichtung aus den herben Lebenskräften des Gebirgsbauerntums“, „Dichtung aus grenzvölkischen Wesenskräften“, „Dichtung aus der südlicheren Lebensader des deutschösterreichischen Volkstums“.

[3197] Über die ständestaatliche Heimat- und Kulturarbeit vgl. [Natter 1988]. Wie attraktiv der Heimat- und Erdediskurs auch für den österreichischen Ständestaat war, belegen z. B auch die Inhalte der für österreichischen Lehrer/innen-Bildungsanstalten zugelassenen „Deutschen Lesebücher“ von Josef Neumair und Anton Simonic (1. und 4. Bd., Wien, Leipzig: Östererreichischer Bundesverlag ). Texte des Rembrandt-Deutschen von Julius Langbehn sind genauso enthalten wie ‚Bauern- Texte‘ von Joseph Georg Oberkofler, Richard Billinger u.a.

[3204] [Perkonig 1936], S. 54ff; [Ziesel 1938], S. 18f; [Kindermann 1939], S. 175f; [Velmede 1941], S. 46.

[3208] Vgl. Neue Werke österreichischer Dichter (Rezension zum Roman „Das Stierhorn“). In: Bücherkunde 5 (1938), S. 245f. Hier auch eine Resension zu Eduard Munninger: „Die Beichte des Ambros Hannsen. Ein Roman aus der Riedmark um 1635“. Goslar 1937 (Gewidmet Karl Springenschmid).

[3209] [Langenbucher 1941a], S. 206. Vgl. auch den BDC-Aktenbestand zu Joseph Georg Oberkofler (Niederschrift über die Sitzung des Kuratoriums des Volkspreises der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände für deutsche Dichtung am 2. Dezember 1939, Kaiserhof, Berlin).

[3213] [Waggerl 1970a], S. 9, S. 96.

[3215] [Waggerl 1970a], S. 9ff., S. 230.

[3218] Waggerl, Karl Heinrich: Typoskript (Karl-Heinrich-Waggerl-Archiv, Wagrain).

[3219] In „Brot“ steht auch schon jenes Motiv, das 25 Jahre später die Titel-Miniatur der Sammlung „Liebe Dinge“ (1956) darstellen sollte, der Tisch: „Simon baut keine Paläste, und wenn er einen Tisch macht, so sind das vier Pfähle und eine Platte, nicht gedrechselt und nicht mit Rosenholz eingelegt, aber so, daß man auch nach fünfhundert Jahren noch wird sagen können : – Seht, ein fester Tisch !“ ([Waggerl 1970a], S. 184) Später hieß es: „Mein Tisch war das erste Stück Hausrat, das ich erwarb, als ich mich in jungen Jahren entschlossen hatte, seßhaft und ein gesitteter Mensch zu werden. Von nun an, dachte ich, muß dein Dasein eine feste Mitte haben, eben diesen Tisch. ([Waggerl 1970d], S. 477).

[3224] Vgl. auch [Kunne 1991].

[3228] Vgl. [Kerschbaumer 1998], S. 297.

[3229] Vgl. die Gründung des Salzburger Heimatwerkes im Jahre 1943. Vgl. auch: [Heimatgau].

[3232] [Waggler 1970b], S. 349.

[3233] Salzburger Zeitung, 17.12.1942.

[3234] [Waggler 1944c]. In einer veränderten Fassung unter: [Waggerl 1947].

[3238] [Botz/Müller 1992].

[3240] Dann nennt Otto Basil etwa 40 Schriftsteller, Mitglieder der „muntersten Mannschaft“, also literarische Aktivisten, und, wie er formuliert, „Mittuer“. Einige heute noch bekannte Namen sind darunter: Bruno Brehm, Erna Blaas, Mirko Jelusich, Joseph Georg Oberkofler, Friedrich Schreyvogl, Franz Tumler, Josef Weinheber, Richard Billinger oder Karl Heinrich Waggerl. Basil nannte folgende Autorinnen und Autoren: „Um nur einige daraus zu nennen: Erna Blaas, Bruno Brehm, Edmund Finke, Siegfried Freiberg, Hermann Graedener, Maria Grengg, Robert Hohlbaum, Karl Itzinger, Mirko Jelusich, Hans Gustl Kernmayr, Joseph Georg Oberkofler, Hermann Heinz Ortner, Erwin H. Rainalter, Ernst Scheibelreiter, Franz Schlögel, Friedrich Schreyvogl, Max Stebich, Karl Hans Strobl, Fritz Stüber, Hermann Stuppäck, Ingeborg Teuffenbach, Franz Tumler, Josef Weinheber, Kurt Ziesel; während die Billinger, Danszky, Dworschak, Hartlieb, Kotas, Landgrebe, Leitgeb, List, Löser, Maix, Menghin, Rendl, Sacher, Spunda, Urbanitzky, Waggerl, Wenter u.a. willig ‚mittaten‘“. (Plan, Oktober 1945) – Basil druckt in der ersten Nummer (Oktober 1945) das bis heute durch nichts überholte „Vorwort“ des ersten Heftes des „Plan“ vom Dezember 1937/ Jänner 1938 ab und ergänzt es mit einer hauptsächlich politischen Stellungnahme „Zum Wiederbeginn“, in der er alle, die „eines guten Willens sind“, insbesondere aber die Intellektuellen zur „Festigung des demokratisch- republikanischen Staatsgedankens und für die Wiederaufrichtung eines geistigen Österreichertums von europäschem Zuschnitt und weltbürgerlicher Fülle“ aufruft. (vgl. Herausgeber, Verlag und Redaktion: Zum Wiederbeginn. In: Plan 1 1(1945), S. 1.)

[3241] Plan, März/April 1946.

[3242] Neues Österreich, 10.4.1949.

[3245] [Rühm 1967], S. 7, S. 33, S. 30.

[3247] [KramerTH 1989], S. 590: „Nach Jahren kam, verstört, ich wieder her;/der alten Gassen manche sind nicht mehr,/der Ringturm kantig sich zum Himmel stemmt:/erst in der Heimat bin ich ewig fremd./ Mit schließt sich im Gedächtnis nicht das Loch;/Espressos glitzern, mich empfängt kein Tschoch,/das Moped braust, nur hastig wird geschlemmt:/erst in der Heimat bin ich ewig fremd./Sind auch die Lüfte anderswo bewohnt,/Mir ist, als zielte alles nach dem Mond,/Der saugte, zwischen Dächern eingeklemmt:/erst in der Heimat bin ich ewig fremd.“

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