Touristen haben viele Bedürfnisse. Für ihre Befriedigung sorgt, seit es ihn gibt, der Tourismus. Dabei hat besonders der Massentourismus eine darauf gerichtete Industrie entwickelt, deren Logik und Wirkungen inzwischen aber auch andere, „gemäßigtere” Urlaubsstile erreicht hat. Zwei wichtige Merkmale kennzeichnen die jüngere Entwicklung an der Urlaubsfront, nämlich einerseits eine fortschreitende Diversifizierung und Spezialisierung im Bereich von Tourismusangeboten, anderseits eine steigende Zuwachsrate bei neu geschaffenen, künstlich produzierten Erlebniswelten. Dies deutet darauf hin, dass bisherige Urlaubsformen auf „gängiger” Basis (z.B. organisierte Gruppenreisen, Sightseeing, Folklore-Konsum) um ein postmodernes Segment erweitert wurden – Unterhaltung, Spaß und Spiel gehören längst dazu und werden immer wichtiger, nicht nur für Kinder und Jugendliche. Was diese Systemerweiterung alles beinhaltet, ist nicht wenig. Sie lockt nicht nur die Konsumentenschaft, Neues zu versuchen, sondern reizt auch die Tourismusforschung zum Nachdenken. Sie sieht sich hier vor neue Herausforderungen gestellt, auf makro- wie auf mikroanalytischer Ebene.
Der seit einigen Jahren anhaltende Trend hin zu so genannten Erlebniswelten[3480] geht ohne Zweifel mit strukturellen Verschiebungen im Produktions- wie im Konsumsystem einher. Dabei werden bisherige Grenzen an verschiedenen Orten durchbrochen, etwa dadurch, dass neue Räume in Form von fiktionalen, synthetischen oder virtuellen Gegenwelten erschlossen werden. Seitens der Touristen kann man beobachten, dass der Erlebnisbedarf zu erhöhter Abenteuerlust und zu vermehrtem Ereigniskonsum führt, aber auch andere Spielqualitäten, gesteigerten Aktionsdrang und Wettbewerbsfreude mobilisiert. Prototypisch seien hier die großen Vergnügungsparks im Stil von Disney World erwähnt, darunter Disney World Orlando (Florida), Disneyland Anaheim (Californien), Euro Disney (Paris) oder Tokyo Disney, doch ließen sich auch andere Unterhaltungsanlagen mit ähnlichen Strukturen anführen.
Als konstitutives Hauptmerkmal gilt die thematische Geschlossenheit, das heißt, „dass entweder der ganze Vergnügungspark oder aber einzelne, in sich geschlossene Teile auf bestimmte Motive, Themata, Figuren usf. sowie deren Wiedererkennbarkeit angelegt sind”.[3481] Was auch immer die BesucherInnen von Themenparks suchen und worauf sie letztendlich stoßen, es hat zum einen mit Künstlichkeit und Fiktionalität zu tun, zum anderen mit Erwartbarkeit, und zwar eine, die auf die Inszenierung und den Genuss von Inauthentizität gerichtet ist. Als solche täuscht sie Wirklichkeit stets nur vor, bleibt selber jedoch Imitat oder utopischer Entwurf von etwas. Beim Vergnügungspark geht es, wie Karin Hlavin-Schulze präzise dargelegt hat, um eine Form „begrenzter Grenzenlosigkeit”, kurz um eine konfliktfreie Traumwelt, die sich (fast) überall auf dem Globus installieren und vervielfachen lässt, was auch – zweites Merkmal – dazu führt, dass ihr Standort bedeutungsmäßig zurückgestuft wird oder überhaupt verschwindet. „Die Besucher strömen aus aller Welt in die Vergnügungsparks. Insofern können sie als Reiseziel durchaus Urlaub in einem anderen Land (USA, Frankreich, Japan etc.) bedeuten. Als solche sind sie jedoch lediglich geographische und keine kulturellen Grenzüberschreitungen, ohne Kontakt und aktive Auseinandersetzungen mit dem fremden Milieu.”[3482]
Dieser Befund ist gewichtig, zeichnet sich doch im Vergleich mit traditionellen Sehenswürdigkeiten ein neues Merkmal ab. Vom Ort als Erlebnisort selber gehen keine besonderen Wirkkräfte mehr aus; historische, natürliche oder kulturell gewachsene Symbolsubstanzenfehlen – ja, sie würden sogar ablenken oder stören. Gerade weil es um künstlich aufgebaute Areale geht, die dem Besucher das Gefühl einer heilen, problemlosen, durchstrukturierten, perfekt gestylten, technisch pannenfrei funktionierenden und cleanen Sonderwelt vermitteln sollen, verdichtet sich das Vergnügungsgeschehen gleichsam nach innen und eliminiert dadurch vollzugshemmende Außenbezüge: „Voraussetzung für das vollständige Eintauchen der Besucher in diese Traumwelt ist die perfekte Illusion. Nichts darf an die Außenwelt erinnern. Durch die thematisch gestalteten Bereiche der Parks können sich die Besucher von einer Phantasiewelt in die nächste bewegen.”[3483]
Die Ausblendung von Alltäglichkeit bzw. von Teilelementen aus einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit führt in solchen Themenparks, wie angedeutet, zu verschiedenen Grenzüberschreitungen im „Aufbruch” zu utopischen Gegenwelten. Daraus resultiert zugleich eine nachhaltige Entgrenzung im Tourismussystem,[3484] die ihrerseits auf eine gewisse Austauschbarkeit der Angebote und Bedürfnislagen verweist. Sie gilt nun aber keineswegs ausschließlich nur für das Muster von Disney World, sondern prägt auch andere Typen von Themenparks und Freizeitresorts, die touristische Relevanz haben und sich dem Bedürfnis nach Vergnügen, Erlebnis, Abenteuer und Spiel verschreiben. Unter dieser Perspektive betrachtet, darf man von einer Mundialisierung im Sinne weltweit ähnlicher konstruierter Erlebnisräume und ähnlich kodierter Erlebnisweisen im postmodernen Tourismus ausgehen.
Allerdings – und im vorliegenden Zusammenhang wichtig – darf von dieser Entwicklung nicht pauschal auf eine übergreifende Nivellierung und Homogenisierung geschlossen werden. Themenpark, so banal es klingen mag, ist nicht gleich Themenpark – es gilt auch hier, die groben und die feinen Unterschiede analytisch im Auge zu behalten. Für die Erstellung einer Typologie von Erlebniswelten und Unterhaltungsräumen sind gerade sie unabdingbar. Eine auf empirische Basis abstützende Typologie fehlt bislang, vorhanden sind immerhin einige diesbezügliche Vorschläge. So unterscheidet H. Jürgen Kagelmann „kommerzielle thematische Freizeitparks im weiteren Sinn” und „sonstige Freizeitparks mit unterschiedlichem Angebot an Attraktionen”.[3485] Zur ersten Gruppe zählt er historisch-didaktische und thematische Freizeitparks im engeren Sinn (z.B. Disney World, Knott's Berra Farm, Europapark, Phantasialand), Filmstudios und „Märchenländer”, zur zweiten Gruppe gehören stationäre Parks (z.B. Lunapark, Prater, Tivoli), Ferienparks (Center-Parks, Spaßbäder) oder Tierparks (Safari, Vogelpark usw.).
Die Beispiele machen deutlich, dass eine typologische Abgrenzung nicht immer einfach ist und neue Probleme (Kriterien) aufwirft. Lassen sich Tierparks, Filmstudios, Wasserparks, Phantasialands, Adventure-Worlds oder Spielparks aufgrund ihrer engen thematischen Ausrichtung noch miteinander vergleichen, wird es bei Freizeitanlagen mit „offenem” und diversifiziertem Angebot schon schwieriger, ganz abgesehen von der Rezeption. Tatsächlich gibt es eine Sorte von Erlebniswelten, die sich einer schnellen Zuordnung vorerst zu entziehen scheint: Gemeint ist die touristische Auszonung neuer „Länder” in der Art von Heidiland (Schweiz) und einigen anderen, derzeit noch in der Planungsphase steckenden Projekten, bei denen ähnliche Strukturmerkmale vermutet werden dürfen, darunter zum Beispiel Karl-May-Land (Lausitz), Puschkinland (Russland) oder Draculaland (Rumänien); andere ließen sich sicherlich finden. Im Anschluss an verschiedene Zugänge zum Heidiland[3486] sei nachfolgend dessen struktureller Eigenwert vertieft, diesmal mit der Absicht, einen Beitrag zuhanden der Diskussion um „Entgrenzungen” im postmodernen Tourismus zu leisten. Der Nachweis des hier interessierenden Eigenwerts soll die These stützen, dass der viel zitierten Beliebigkeit im postmodernen Tourismus auch Grenzen gesetzt sind – Austauschbarkeit ihrer Elemente ist nicht durchwegs und schon gar nicht prinzipiell gegeben, sie folgt ihrerseits einer inneren Struktur.
Mit Heidiland fassen wir ein Tourismusprojekt, dessen Konzept und Realisierung für die Schweiz tatsächlich als neu und einzigartig zu bezeichnen ist. Im Kern ging und geht es um das Vorhaben, aus dem bislang eher unbedeutenden Agglomerationsraum zwischen Walensee, Sargans und Bad Ragaz ein neues Urlaubsziel zu machen – eben die Ferienregion Heidiland. Die touristische Verwandlung, soziologisch als Schritt „vom Aggloland ins Heidiland” eingestuft, trifft die Situation und Identität einer Randregion auf nachhaltige Art. Je nach Standort (Peripherie, Zentren) lässt die einheimische Bevölkerung unterschiedliche Einstellungen hinsichtlich einer verstärkten Tourismusförderung erkennen, wie eine Befragung auswies: Eine Mehrheit optierte für den Ausbau von Lokaltourismus, während Elite und Entscheidungsträger auf einen international ausgerichteten Tourismus mit Globalexpansion setzten.[3487]
Darauf zugeschnitten ist nun all das, was eine junge Marketing-Organisation unter dem Label „Heidiland” 1997 in die Welt bzw. in die Region setzte. Unter diesem (bereits seit gut 20 Jahre existierenden, aber in St. Moritz seinerzeit nicht greifenden) Markenzeichen wurde nun einerseits ein Destinationstourismus propagiert, anderseits eine Markenstrategie auf einem einfachen Prinzip entwickelt. Die Strategie sorgt für den Zusammenschluss von daran interessierten Orten und Gemeinden mit ihren Leistungen, Produkten und Firmen auf dem erklärten Weg, in der erwähnten Region ein neues Freizeit- und Ferienparadies zu etablieren. Heidiland steht für ein Gesamtkonzept und ein Gesamtprodukt: „Wer heute im Tourismus seine Marktstellung entscheidend verbessern will”, wie seine Macher ausführten, „hat nur dann Chancen, wenn er als eine typische und geschlossene Region [...] auf den Märkten auftreten kann. Ein zersplitterter und unkoordinierter Auftritt bleibt ohne Resonanz.”[3488]
Dieser Konzeptgedanke wurde einer gezielten Tourismus-Offensive unterlegt, die mit der Eröffnungsparty von Heidiland vom 13.–15. Juni 1997 ihren Auftakt nahm. Er verzeichnete ein für schweizerische Verhältnisse bemerkenswert zu bezeichnendes Echo in den Medien, weit über den üblichen Rahmen von lokaler und regionaler Berichterstattung hinaus. Die Positionierung des neu ausgerufenen Destinationstourismus setzt nicht auf die Abgrenzung von einzelnen Angeboten, sondern auf eine variable Angebotsfülle, so wie sich eine solche über Naturschönheiten, Geschichte und Kultur der Region, aber auch in den Bereichen Gesundheit, Erholung, Sport, kulinarische Genüsse und neues Produkten zusammensetzen bzw. über ein griffiges Marketing umfassend aufbereiten und schließlich vermarkten lässt.
Der Zusammenschluss von tourismusinteressierten Gemeinden, Behörden, Anbietern und Leistungsträgern garantiert allein noch keine regionale Entwicklung, es braucht dazu, wie angedeutet, eine entsprechende Marketingstrategie und im Besonderen einen zugkräftigen Markennamen. Mit Heidi, der Hauptfigur aus der gleichnamigen Erzählung von Johanna Spyri, war solches gegeben. Es musste ein weltweit bereits bekannter „Star” nicht erst erfunden werden, es galt, lediglich, diesen in die projektierte Destination – nunmehr zum „Heidiland” erkoren – adäquat einzupassen. Einpassung meint gemäß der Vision von Tourismusmachern, vereinfacht ausgedrückt, Heidi zur „starken Marke” zu erheben, das heißt für neue Dienste im Sinne von Regionalentwicklung gefügig zu machen, es meint zugleich, Heidiland als Destination auszuzonen, um tourismusökonomischen Nutzen daraus zu ziehen. Heidi und Heidiland stützen sich hier gegenseitig in einem Verbundsystem.
Wie ein solches umgesetzt wurde, schlägt an verschiedenen Orten auf eindrückliche Art durch. In den ersten Heidiland-Ferienprospekten (1997/98) fand sich folgende Passage: „Die Geschichte von Heidi, dem Geissenpeter und dem Alpöhi ist in unserer Gegend angesiedelt. Johanna Spyri, die damals in unserer Region zur Kur weilte, liess sich vom Leben bei uns inspirieren. Wie sie das Leben in den Orten Maienfeld, Bad Ragaz, auf dem Maiensäss und der Alp schildert, war und ist zum Teil heute noch typisch für unsere Gegend. Einiges hat sich verändert, viel ist geblieben und erinnert heute noch an die Heidi-Geschichte. Diese alte Sehnsucht nach Freiheit und Erholung, nach Gastfreundschaft und Heimat lebt hier und heute bei uns wieder auf: Willkommen im Heidiland.”
Genau hier setzt die Konstruktion für ein modernes Heidiland an – die Rückbindung an Johanna Spyris 1880 geschriebene Heidi-Geschichte liefert gleichsam ein „historisierendes” Element. Sie suggeriert legitimierend, dass sich die neue Tourismusdestination auf Traditionen abstützen kann und sich zugleich nach vorne öffnet. Wie realitätsgetreu Spyris literarische Schilderungen über einzelne Orte und Plätze in der Region sind, ist nicht mehr von Belang – entscheidend wird dagegen ein Set von Wertvorstellungen, in denen sich auch postmoderne Touristen mit ihren eigenen Bedürfnissen erkennen. Diese werden als Sehnsüchte eingebettet in einen für jedermann nachvollziehbaren Zusammenhang: „Heidiland will die Philosophie der Heidigeschichte dem Gast rüberbringen, als Synonym für erholsame und gesund machende Ferien in einer natürlichen Umwelt. Viele Menschen verbinden mit Heidi [...] Menschlichkeit in der Bergwelt, Wärme, Gastfreundschaft und Lebensqualität.”[3489]
An dieser Philosophie hängt aber noch mehr, kann sich doch mit dem neuen Namen auch eine unbewusste Assoziation zu „verwandten Ländern” einstellen, nach dem Muster von Disneyland, Dreamland, Legoland, Phantasialand und wie sie alle sonst noch heißen mögen. Damit definiert sich Heidiland weder als strikt geographischer noch als historischer Name, sondern als „die erste echte Tourismusdestination der Schweiz, die aus der Sicht des Gastes und seiner Interessen definiert worden ist”.[3490] Individuelle Verbindungen zu virtuellen „Ländern” – und im Besonderen zu einem eigenständigen „Alpenland” – sind ebenso möglich wie Erinnerungen an Heidi, die, nachdem sie in der Großstadt Frankfurt krank geworden war, zusammen mit Klara in die hier angepriesene Bergwelt zurückkehrte, um an Seele, Körper und Geist wieder zu gesunden. Der von vielen Tourismuspropheten angesagte Trend „Zurück zur Natur” wird damit kräftig aufgeladen.
Durch den bewussten Rückgriff auf Teile aus Spyris Heidi-Geschichte, (die in dieser Region spielte), erfährt die Konstruktion Heidiland nicht nur ihre Legitimierung, sondern darüber hinaus auch eine eigene Art von Authentizität. Es versteht sich, dass dies die künstlich geschaffene Marke Heidiland vermehrt absichert und aufwertet. Da der Inhalt der Marke mit der Markenbezeichnung übereinstimmt, steht Heidiland als vorgeschaltetes, besonderes, weil schlicht einmaliges und weltweit bekanntes Herkunfts- und Qualitätssiegel. Von Heidis Land – aus der Region und Bergwelt, wo Heidi nach der literarischen Vorlage lebte – kann eigentlich nur Gutes für alle kommen, um den hier spielenden Vorstellungskomplex auf einfache Art zusammenzufassen. Für die neue Ferienregion heißt dies, dass ihr Marketing auf eine Auswahl von Qualitätsvorgaben zurückgreifen konnte, die bereits gesetzt waren, nunmehr aber zeitgemäß zu aktualisieren blieben.
Auf der Suche nach auffallenden Merkmalen im Heidiland, stößt man erwartungsgemäß auch auf Heidi, doch fällt auf, dass sie als Person eher selten dargestellt wird. Ihre visuelle Präsenz nimmt sich eher dürftig aus. Wo Heidi vereinzelt z.B. auf Postkarten als Figur auftaucht, erinnert sie, meist gemeinsam mit Alpöhi und Peter, an einzelne Szenerien der Geschichte; sie präsentiert sich dann im traditionellen Look vor rustikalem Ambiente, auch etwa mit Tieren. Ein zweites Heidi gibt sich in einer ganz anderen modernen Rolle, hinter der sich eine spielerische Erlebnisadaption zu erkennen gibt. Im Bildkommentar (Prospekt) erscheint sie als junges, frisches und sportbegeistertes Mädchen: „Heidi liebt den stiebenden Schnee unter den Brettern oder die Gischt, die ihr beim Surfen auf dem Walensee ins Gesicht spritzt”, wobei sie für die gesuchte Zielgruppe (Familien, junge Leute) gut abschneidet.
Dass Heidi als Person figurativ insgesamt aber nicht verkultet wird, hat seine Erklärung darin, dass dies gar nicht nötig ist – andere Zeichen und Spuren evozieren ihre Geschichte, Symbolkraft und vor allem den sie umgebenden Mythos deutlich genug. Die Revitalisierung gerade dieses Elements wird äußerst bedeutsam, auch mit Blick auf die Tourismusökonomie. Im Klartext: Nicht die Person wird vermarktet, sondern der Mythos um die Person. Konvergierend reproduziert sich dieses Prinzip in den ersten Prospekten unter dem ehrlichen Titel „Heidiland – ein Mythos lebt”. Dabei wird die ungebrochene Vitalität des Heidi-Mythos (als Traditionsstütze) unhinterfragt einfach „mitgezogen”, während die Vermarktung dessen künstliche Wiederbelebung und Neu- Ausstattung überdeckt, so als wäre Heidiland organisch natürlich gewachsen und würde seit langem existieren.
In der Region findet der Tourist zwei Heidi-Wege. Der ältere führt von Maienfeld, dem literarischen Schauplatz der Heidi-Geschichte, an der Geißenpeter-Hütte vorbei zum Ochsenberg und endet auf der „Original-Heidialp”, auf welcher der Südtiroler Luis Kärner als Alpöhi ankommende Gäste bewirtet, daneben aber auch eine richtige Herde hat. Auf der entgegengesetzten Talseite, nunmehr im Kanton St. Gallen, wurde oberhalb des Kurortes Bad Ragaz ein Heidi-Weg eingerichtet. Ihm entlang folgt man zahlreichen Bild-Tafeln, die die Heidi-Geschichte erzählen, bevor man zur Heidi-Alp Schwarzbüel gelangt, zum Alpöhi Heini. Der entsprechende Touristenprospekt empfiehlt den lehrpfadähnlichen Weg „mit direktem Blick auf alle Orte, welche Johanna Spyri in ihrem unvergänglichen Band beschreibt”. Der Blick richtet sich auf den entfernten Original-Schauplatz, doch die Blickqualität bleibt jene des neu geschaffenen Heidiland, für dessen Belebung allerlei Events sorgen: Im Juli 2000 lockte das Heidi- Festival mit Volksmusik und Schlagern unter schweizerischer und österreichischer Beteiligung, und es kam auch zu einem Heidi-Treffen in Bad Ragaz, wo sich 21 Heidis mit ihren Begleitpersonen zum Brunch auf einem Bauernhof begegneten. Saisonal permanent verankertes (ebenfalls neu eingeführtes) Spektakel ist, dass eine „Geisslerin” (Ziegenhirtin) vom Dorfplatz der Gemeinde Vilters täglich 80 Ziegen in die Berge treibt, „wie der Geissenpeter zu Heidi's Zeiten, vor über 150 Jahren”, wie es heisst. Sie führt gleichsam ein Stück Leben von früher vor, während nach dem Alpabtrieb Souvenirs und Lebensmittel aus der Region zum Verkauf angeboten werden.
Die hier beobachtete „Verdoppelung” vieler Elemente aus der Heidi-Geschichte ist äußerst bedeutsam. Sie zeigt zum einen den Anspruch auf die Teilbarkeit von Heidi und Heidi-Mythos und verweist zum anderen auf ein Konkurrenzgefälle zwischen Region (Projekt Heidiland) und Gemeinde (Projekt Maienfeld). Tatsächlich liegt gerade das von Johanna Spyri beschriebene Maienfeld nicht im Heidiland, sondern an dessen Peripherie. Hier, auf Graubündner Territorium, funktionierte bis anhin eine ältere „Heidi- Verehrung” mit dem bereits erwähnten Heidi-Weg, der Heidi-Alp, aber auch mit dem Heidi-Brunnen sowie dem Heidi-Hof (Restaurant) im so genannten „Heidi-Dörfli”, einem kleinen Weiler oberhalb Maienfeld. Dieses Angebot genügte jedoch nicht mehr. Wohl durch die erfolgreiche Tourismusentwicklung von Heidiland aufgescheucht, schloss sich die Gemeinde Maienfeld ihrerseits dem Heidi-Boom an.
Maienfeld realisierte 1997/98 das Projekt „Heididorf” unter dem Motto „Heidi gestern – heute – morgen”. Im Zentrum steht das 1998 als Museum eröffnete Heidihaus, für internationale Gäste als „Heidi's House – The Original” etikettiert, daneben finden sich eine Informationsstelle mit Souvenirs, eine Poststelle sowie einige Stallungen mit Tieren. Die lokale Projektgestaltung beruft sich durchwegs auf das Original von Johanna Spyris Geschichte, von der ein Monopol zur Auslegung von Authentizität abgeleitet und gewahrt wird. Die Heidi-Geschichte wird hier „unverfälscht vermittelt ” und zwar so, „dass Heidi unter Einbezug der Bevölkerung eine neue Dimension erhalten soll. Die Geschichte wird am Ursprungsort (Oberrofels), der Heimat von Heidi, authentisch dargestellt. Traditionelles und Modernes sollen in der natürlichen Szenerie der Maienfelder Landschaft spannende Erlebnisse und Auseinandersetzungen im Kontext zur modernen Welt vermitteln”.[3491]
Der gewählte Rahmen und die qualitativen Zielsetzungen werden sehr klar abgesteckt. Die Projektleiter schwenken voll auf einen kontrollierbaren, sanften Tourismus ein und „wollen die Natur in ihrer Urtümlichkeit bewahren. Heidi gilt als Synonym für Reinheit und Unverdorbenheit. Deshalb soll kein Disneyland entstehen, sondern ein erholsames, natürliches Erleben in der Umgebung von damals”.[3492] Das Prinzip der lokalen Authentisierung schlägt auf Schritt und Tritt durch, ablesbar an einer hier stärker geförderten Nähe zu Heidi als Person, aber ebenso an „historischen ” Schauplätzen, in Dienstleistungen und Produkten. Der Markenschutz mit dem Label „Heidi's House” erstreckt sich inzwischen längst auch auf Produkte, die mit der Heidi- Geschichte direkt nicht verbindbar sind, darunter z.B. Stoffkalender, T-Shirts, Rucksäcke, Geschirr, Gläser, Kerzen, Käse, Honig oder Gewürze. Werden diese Produkte in Maienfeld nur vor Ort abgesetzt, sind ausgewählte Heidiland-Produkte umgekehrt nur für den Export bestimmt. Das in Mels neu verarbeitete Mineralwasser (Heidiland Water Limited) oder die mit Naturprodukten aus der Region gefertigte Kosmetiklinie haben den amerikanischen, japanischen und deutschen Markt zum Ziel.
Trotz unterschiedlicher Konzepte fördern „Heidiland” und „Heididorf” auf je eigene Art eine übergreifende Tourismusentwicklung, obgleich sie nur in einem lockeren Verbund miteinander kooperieren. In diesem Verbund stützen sie beide (teilweise ungewollt) den Prozess einer touristischen Heidisierung, worunter eine fortschreitende Vermarktung von Heidi, Heidi-Geschichte und Heidi-Mythos zu fassen ist.[3493] Es erstaunt nicht, wenn dieser Prozess auch außerhalb der Region zu greifen beginnt. So bietet die Organisation „Zürich Tourismus” unter den „Top Highlights” die erfolgreiche „Heidiland Tour” an, während die Rhätische Bahn mit ihrem „Heidi-Express” auf Erlebnisbahn macht und von Landquart über Davos und St. Moritz nach Italien fährt. Der „neue ” Weg Heidis nach Süden (in Abweichung zur Heidi-Geschichte) wird im Werbetext spielerisch kommentiert: „Die Kühe und Ziegen sehen immer noch so aus wie daheim, doch die freundlichen Bauern sprechen italienisch: Ciao Heidi, come stai?”, dies unter Hinweis darauf, dass die Reise in Landquart beginne und ende, – „der Heimat des echten Heidis”. Bereits zuvor wurde auch vom Hirzel, einem vor Zürich liegenden Hügelzug und Ort, wo Johanna Spyri aufgewachsen ist und ein ihrer Person gewidmetes Museum steht, ein Anspruch auf „das wahre Heidiland” geäußert.[3494]
Mit den vielfachen Ansprüchen auf die „wahre Heimat” von Heidi ist die Frage verknüpft, wo denn das „wahre” Heidiland nun tatsächlich liegt. Mit seiner künstlichen Konstruktion hängt zusammen, dass es darauf auch verschiedene Antworten gibt, je nach eingenommenem Standpunkt. Heidiland, so wurde bisher gezeigt, deckt regionale und lokalkulturelle Bedürfnisse ab, verweist aber auch auf den nationalen Rahmen Schweiz. Lange bevor das moderne Heidiland ausgerufen wurde, diente der Welt- und Kinderstar Heidi als symbolische Repräsentationsfigur der Schweiz, betrieb ab den 1960er Jahren über die Swissair Imagewerbung für das Land und agierte als „Botschafte besonderen Aufgaben, besonders auffallend in Krisenzeiten.[3495] Die Heidi-Saga transportiert gleich mehrere Botschaften in die Moderne. Sie erzählt das Schicksal eines Waisenkindes, dem es nach der Überwindung von Entwurzelung, Heimweh und der bitteren Erfahrung von Heimatlosigkeit gelungen ist, in einem einfachen Leben im Einklang mit der Natur glücklich zu werden, und sie führt zum anderen vor, dass solches in der kleinen Schweizer Alpenwelt möglich ist. Diese ist mit einmaliger Naturschönheit, Gastfreundschaft, Traditionalität und Stabilität ausgestattet, oft klischeehaft überzeichnet und vielen Ausländern als Idyll oder heiles Kleinparadies erscheinend.
Unter ebendieser Perspektive erweist sich Heidis Botschaft immer auch als Botschaft über die Schweiz. Dadurch, dass die Symbolfigur unablässig an ihre Herkunft erinnert, wird die Schweiz bald selber zum Heidiland – jedenfalls haben dies die Tourismusmacher rasch erahnt und folgerichtig genutzt, indem sie das Heidiland in „The Heart of Switzerland” überführten, das heißt ihr Konzept als etwas Besonderes auch in den Rahmen eines nationalen Tourismus integrierten.[3496] Dabei konnten sie mit den wirksamen Vermittlungsdiensten von Heidi rechnen, die den eigenen Mythos nicht nur memoriert, sondern gleichsam vorlebt. Durch ihn vernehmen wir, dass uns Einfachheit, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und Gesundheit als Lebensglück von einst abhanden gekommen sind, sich über eine „richtige” Urlaubsgestaltung am „richtigen” Ort zumindest temporär wieder erfahren lassen.
Wirkt Heidi in der Eigenschaft als Lockvogel für die Schweiz als Touristenland, ermuntert sie als tugendreiche Symbolfigur und helvetisches Qualitätssiegel zum Aufbruch ins Heidiland, welcher Art auch immer – ob lokal, regional oder national ist hierbei zweitrangig. Um diese Rolle spielen zu können, bedurfte es jedoch vorerst einer „Verwandlung” im Sinne zeittypischer Anpassung: Heidi mutierte zu einer breiten Projektionsfläche, auf der „angestammte” Eigenschaften wie z.B. Unschuld, Reinheit, Häuslichkeit, Fröhlichkeit, Unbeschwertheit und Naturverbundenheit allein nicht mehr genügen. Die Palette wurde erweitert durch „neue” Attribute, darunter Sportlichkeit, Leistungsorientierung, Geselligkeit, Erlebnisdrang, Spaß und Genuss, um aktuellen Tourismusqualitäten adäquat zu entsprechen. Das Raffinierte an der enorm wandelbaren Figur ist die vielfältige Mischung, die den durchschlagenden Erfolg von Heidis Missionen garantiert, während der Mythos den Schritt in die touristische Postmoderne praktisch unverändert vollzog. Nach hinten erinnert er an das, was im Alpenland vielleicht einmal anders (und besser?) war, nach vorne bietet er therapeutische Mittel an, Verschüttetes im Urlaub zu kompensieren.
Stellten die bisherigen Ausführungen Konzept, Machart und den Aufbau von Heidiland dar, gilt es abschließend nach dessen Eigenwert zu fragen. Ähnlich wie andere Urlaubsregionen und Freizeitwelten bezieht auch das Ostschweizer Ferienland seine Substanz mehrheitlich durch künstliche Inszenierungen. Unter Inszenierung versteht die Branche „die marktorientierte Umsetzung eines tourismusrelevanten Themas mit unterschiedlichen Einrichtungen, Akteuren, Partnern und Medien auf der Grundlage einer klaren Handlungsanweisung”.[3497] Im Fall von Heidiland geht es um ein so genannten „brand land”, das heißt eine Marketingnutzung, bei der Besucher die Marke (Produkt) als geschlossene Themenwelt erleben. Das Besondere an der hier inszenierten Themenwelt liegt in der Story (Heidi-Geschichte) und dem Storytelling (strategisches Kommunikationsinstrument), dessen Ziel es ist, „mittels Geschichten Emotionen, Magic und Mythos/Kult eine ‚Touching Atmosphere' zu schaffen, wie Steinecke präzisiert.[3498]
Dabei ist zu bedenken, dass Thematisierung und touristische Inszenierung zusammengehören, aber eigenen Gesetzen folgen, zumeist abseits ästhetischer Normen, irgendwo im Spannungsfeld zwischen konstruierter Scheinwelt und realer Welt. Den durchschnittlichen Touristen stört diese „offene” Schwebelage nicht, er sucht vordringlich Bestätigung von Bildern und Erfahrungen des Anderen und Fremden, ausgelegt nach dem Prinzip typisierter Gegensätze in Gegenwelten. Der Tourismusforscher und Publizist Christoph Hennig geht noch einen Schritt weiter und meint gar, es gehe im Urlaub „wesentlich um die Realisierung von Phantasien und Träumen, die Einbildungskraft ist eine seiner zentralen Triebkräfte. Die dosierte Spannung des Ungewohnten, die wir unterwegs suchen, hängt nicht von der ‚Echtheit' oder ‚Künstlichkeit' ab; sie bildet sich im Verhältnis zum Normalleben heraus – einem Verhältnis, das jeder für sich selbst definiert”.[3499]
Das ist ein bemerkenswerter Denkansatz auch deshalb, weil er anregt, das viel diskutierte Problem der Authentizität im Tourismus zu überdenken und zu relativieren. Auf ähnliche Weise hatte der amerikanische Sozialwissenschafter Dean MacCannell bereits 1976 ausgeführt, das Verhalten von Touristen sei nichts anderes als der immer wieder neu gestartete Versuch, die durch Modernisierung und Technisierung abhanden gekommene Authentizität im Urlaub und auf Reisen zu suchen, um sie als Erfahrung wieder nachzuvollziehen. Die Tourismusindustrie hilft ihm dabei, indem sie geeignete Zeichen, Symbole und Strukturen in ausgewählten Orten und Zeiträumen bereithält, die Authentizität vorgeben, ihrerseits aber künstlich produziert und damit neu aufbereitet sind.
Touristen haben mit dieser Künstlichkeit kein grundsätzliches Problem mehr. Sie haben gelernt, die arrangierte Authentizität zu durchschauen und gehen längst anders mit ihr um. Offenbar, so belegte Regina Bendix[3500] mit Blick auf amerikanische Tourismusforschungen, eignet der Authentizität auch das Moment des individuellen (und häufig spielerischen) Aushandelns: Echt wird das, was man situativ als solches touristisch herstellen und für sich erhandeln kann. Dies scheint nun für heutige Touristen Normalfall zu sein: „Post-Touristen wird gerade der Genuss von Inauthentizität üblicher touristischer Erlebnisse zugeschrieben. Erlebnisse, die lediglich eine Art von Spiel sind, an dem man teilnehmen kann. Alles ist Kopie, aber die Fälschungen scheinen echter als die Realität.”[3501]
Überträgt man solche Einsichten auf das Tourismuskonzept Heidiland, erhält dessen Rezeptur klareres Profil. Zunächst zeigt sich, dass zwei unterschiedliche „Visionen ” vorliegen, nämlich Heidiland und Heididorf, die für den von außen kommenden Touristen aber keine Gegensätze bilden, sich vielmehr ergänzen. Durch den Rückgriff auf Heidi und Heidi-Mythos setzen sie beide bei der gleichen Substanz an, doch realisieren sie ihre Programme auf sehr unterschiedliche Weise. Im Maienfelder Heididorf werden höchst mögliche Nähe zu Johanna Spyris Lokalikone Heidi und höchst mögliche Nähe zur bäuerlichen Lebenswelt von damals museal inszeniert. Diese beiden Welten werden unhinterfragt zusammengeführt und erfahren als visuell zugängliche (gleichwohl künstliche) Rekonstruktion das vor Ort monopolistisch verwaltete Siegel des Echten, Originalen, Einmaligen und Authentischen. Denn: „Hier lebte Heidi ”, wie der derzeitige Sommerprospekt (2002) festhält.[3502]
Ganz anders verfährt Heidiland, dem es um den Umbau einer Region unter zeitgemäßer Touristisierung und Ökonomisierung geht. Die Überführung von Teilen aus der Heidi-Geschichte mutet an wie ein Transfer von Symbolrelikten in die spielerische Touristenwelt von heute. Zu Recht vergleicht der Innovator des Projekts, Urs Kamber, die Entwicklung von Heidiland rückblickend mit jenem Erfolgsmärchen, das auch dem Heidi-Buch beschieden war. Heidis Geschichte ist mehr als eine weltweit bekannte Erzählung: „Eine Geschichte aber auch, die zum Synonym für die Schweiz schlechthin geworden ist und die neben der Schweizer Schoggi, dem Käse, den Taschenmessern und (Swatch) Uhren die beste Botschafterin dieses kleinen Alpenlandes wurde. Eine Geschichte so rührend kitschig und schön, dass man sie erfinden müsste, um alle (positiven) Attribute des Tourismuslandes Schweiz ins richtige Licht zu setzen."[3503]
Heidi und Heidi-Mythos werden hier stärker instrumentalisiert, aber nicht mit dem Ziel, primär Authentisierung im Sinne des Unverfälschten zu vermitteln: Hier geht es vordringlich um die inspirative Nutzung von überlieferten Substanzen, genauer: um originelle und originale Anschubsleistungen und Lockvogeldienste. Zu Beginn der Tourismusoffensive wurde Heidi als Symbolträgerin intensiver eingesetzt, während die Heidiland-Werbung heute nur noch in Spots und Fragmenten an das literarische Original erinnert. Nachdem die Message von Heidiland angekommen ist, ist das Markenzeichen verankert, braucht es keine besonderen Inszenierungen mehr. An ihrer Stelle kommen vielmehr Spiel und Events zum Zug, darunter, wie erwähnt, der Geißenaufzug in Vilters, das Heidi-Festival, diverse Schaukäsereien oder ein Alphütten- Weekend. „Entdecken Sie Heidis Heimat. Vielleicht wird sie auch bald zu Ihrer? ”, genüg als Einladung: Erleben meint, „den Spuren von Heidi und Geissenpeter folgen ”, wie man im Sommerprospekt 2002 lesen kann.
Die jüngere Entwicklung der hier beschriebenen Region zu einer neuen touristischen Destination, an der sehr unterschiedliche Kräfte, Interessen und Visionen zusammenspielen, ist eindrücklich. Heidiland ist eine „gemachte” (= konstruierte und dachmarkengestützte) Region, die sich durch allerlei Identitätskonzepte und Erlebnisinszenierungen kennzeichnet, bisher mit beachtlichem Erfolg. Die Künstlichkeit der Konstruktion ist ziemlich umfassend, hat aber hier ein besonderes und einmaliges Kennzeichen: Sie wird durch eine eigene Wirklichkeit überdeckt, die sich vom (weltweit bekannten) Mythos Heidi ableitet. So fügen sich dessen ungebrochene Aktualität und die Personifikation einer „idealen” Schweizer Alpenregion zusammen: Der Heidi-Mythos verschmelzt sich stets mit dem touristisch gefragten Mythos des Authentischen und begegnet dem Besucher in spielerischen Elementen, die ihn an die berühmte Geschichte und damit an die Vergangenheit der Region erinnern. Dass auch Heidi, Geißenpeter und der Alpöhi fiktionale Erfindungen sind, real nie im neu bezeichneten Heidi-Haus (The Original) in Maienfeld gelebt haben, ist kein Störfaktor, sondern Legitimation zuhanden einer postmodernen Aufbereitung und Authentisierung.
Authentisierung durch Mythisierung auf fiktionaler Grundlage – dies scheint für die vorliegende Rezeptur einer Region wesentlich zu sein.[3504] Die Tatsache, dass ein Schauplatz literarisch bezeichnet war (Maienfeld), lässt andere Ausweitungen mit neuen Konstruktionen in der Region offenbar zu. Genau da begrenzt sich indessen die Entwicklung und enthüllt Raumansprüche: Der Mythos Heidi enthält zwar universale Strukturen, seine Umsetzung verlangt aus Gründen einer plausiblen Authentisierung aber Raumgebundenheit. Dadurch bezieht Heidiland als Erlebnisraum einen „original” gesetzten Eigenwert und schafft gleichzeitig ein Unterscheidungsmerkmal im Vergleich mit anderen künstlich aufbereiteten Urlaubsräumen, Erlebniszonen und Freizeitparks, bei denen Austauschbarkeit von Standorten und Elementen durchaus spielen kann. Im Fall des Paradigmas „Heidiland” werden unterschiedliche Vorstellungen von Authentisierung je Bedürfnislage wirksam: Für Schweizer unvorstellbar wäre es, ein Heidiland z.B. im Jura, auf dem Gotthardpass, im Elsass oder in Tirol anzusiedeln, während für Ausländer Heidiland wenigstens in alpinen Gebieten der Schweiz liegen muss. Heidis Heimat, obgleich literarisch erfunden und nunmehr touristisch künstlich verformt und vermarktet, lässt sich nicht beliebig verpflanzen und entgrenzen.
Verwendete Literatur:
[Bendix 1994] Bendix, Regina: Zur Problematik des Echtheitserlebnisses in Tourismus und Tourismustheorie. In: Pöttler, Burkhard (Hg.); Kammerhofer-Aggermann, Ulrike (Mitarb.): Tourismus und Regionalkultur. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1992 in Salzburg. Wien 1994 (Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde 12), S. 57–83.
[Gyr 1999a] Gyr, Ueli: Entgrenzung durch Mundialisierung? Dynamisierungsprozesse im massentouristischen Konsumsystem. In: Bachleitner, Reinhard; Schimany, Peter (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft – grenzenloser Tourismus? Mit Beiträgen von Reinhard Bachleitner u. a. München [u. a.] 1999 (Reihe tourismuswissenschaftliche Manuskripte 5), S. 55–66.
[Gyr 1999b] Gyr, Ueli: Heidi überall. Heidi-Figur und Heidi-Mythos als Identitätsmuster. In: Ethnologia Europaea 29/2 (1999), S. 75–95.
[Gyr 2001] Gyr, Ueli: Herzfigur und Markenzeichen. Zur Heidisierung im Schweizer Tourismus der Gegenwart. In: Haller, Ernst (Hg.): Heidi – Karrieren einer Figur. Zürich 2001, S. 187–199.
[HahnHein/Kagelmann 1993] Hahn, Heinz; Kagelmann, Hans Jürgen (Hg.): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft. München 1993 (Quintessenz Tourismuswissenschaft).
[Hennig 1997c] Hennig, Christoph: Der schöne Schein: Gemeinsamkeiten von ‚authentischen Reisen‘ und ‚künstlichen Urlaubswelten‘. In: Steinecke, Albrecht; Treinen, Matthias (Hg.): Inszenierung im Tourismus. Trends – Modelle – Prognosen. 5. Tourismus-Forum Luxemburg. Trier 1997 (ETI-Studien 3), S. 98–105.
[Hlavin-Schulze 1999] Hlavin-Schulze, Karin: Reiseziel Vergnügungspark. Begrenzte Grenzenlosigkeit. In: Bachleitner, Reinhard; Schimany, Peter (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft – grenzenloser Tourismus? Mit Beiträgen von Reinhard Bachleitner u. a. München [u. a.] 1999 (Reihe tourismuswissenschaftliche Manuskripte 5), S. 172–182.
[Hohermuth 1999] Hohermuth, Susanne: Vom Aggloland ins Heidiland und weiter in die Ferne. In: Bachleitner, Reinhard; Schimany, Peter (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft – grenzenloser Tourismus? Mit Beiträgen von Reinhard Bachleitner u. a. München [u. a.] 1999 (Reihe tourismuswissenschaftliche Manuskripte, Bd. 5), S. 156–171.
[Kappler/Kamber 1998] Kappler, Arnold; Kamber, Urs: Heidiland. Eine Tourismus-Region auf dem Weg zur Marke. In: Marketing-Journal 4 (1998), S. 252–256.
[KöstlinK 1994d] Köstlin, Konrad: Reisen, regionale Kultur und die Moderne. Wie die Menschen modern wurden, das Reisen lernten und dabei die Region entdeckten. In: Pöttler, Burkhard (Hg.); Kammerhofer-Aggermann, Ulrike (Mitarb.): Tourismus und Regionalkultur. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1992 in Salzburg. Wien 1994 (Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde 12), S. 11–24.
[MacCannell 1976] MacCannell, Dean: The Tourist. A new theory of the leisure class. New York 1976.
[Opaschowski 1993] Opaschowski, Horst: Freizeitökonomie. Marketing von Erlebniswelten. Opladen 1993 (Freizeit- und Tourismusstudien 5).
[Steinecke 1997] Steinecke, Albrecht: Inszenierung im Tourismus. Motor der künftigen touristischen Entwicklung. In: Steinecke, Albrecht; Treinen, Matthias (Hg.): Inszenierung im Tourismus. Trends – Modelle – Prognosen. 5. Tourismus-Forum Luxemburg. Trier 1997 (ETI-Studien 3), S. 7–17.
[Terra Plana] Terra Plana. Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Tourismus und Wirtschaft 1 (1993).
[3481] [HahnHein/Kagelmann 1993], S. 407.
[3482] [Hlavin-Schulze 1999], S. 179.
[3483] [Hlavin-Schulze 1999], S. 178.
[3485] [HahnHein/Kagelmann 1993], S. 408.
[3487] [Hohermuth 1999], S. 168.
[3489] [Heidi 1998].
[3490] [Terra Plana] 1 (1993), Bildkommentar, 3.
[3497] [Steinecke 1997], S. 10.
[3498] [Steinecke 1997], S. 10.
[3499] [Hennig 1997c], S. 103.
[3500] [Bendix 1994], S. 73f.
[3501] [Hlavin-Schulze 1999], S. 174.
[3502] „Natürlichkeit im Heididorf [...] Einblick in die damalige Zeitepoche, Erleben von Heidi’s und Alpöhi’s Gedanken und Emotionen im Heididorf oder auf der Heidialp [...] Machen Sie ein Foto von Ihnen oder einer nahestehenden Person, wenn Sie mit dem Heidi am Tisch sitzen oder wenn Sie sich ins Heidibett legen” (Prospekttext).
[3503] [Kamber 2000], hier S. 28.
[3504] Zur Entstehung von Region und Regionalkultur vgl. den grundsätzliche Fragen aufnehmenden Beitrag: [KöstlinK 1994d].