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10.14. Die Straße der Sehnsüchte (Alexander G. Keul) - Langtext

Die historische linke Altstadt von Salzburg, UNESCO-Weltkulturerbe, erstreckt sich in Linsenform zwischen der Salzach, Mönchs- und Festungsberg mit einer maximalen Breite von 400 m und einer Länge von etwa einem Kilometer. Der von weniger als 1.000 Personen ständig bewohnte Stadtteil wird in der Sommersaison täglich von bis zu 25.000 Touristen besucht. Die Zahl touristischer Übernachtungen in der ganzen Stadt lag 1990/91 bei 1,9 Millionen jährlich und ist seither wieder etwas gesunken. Salzburgs Stadtkern, Ort der Festspiele, ist eine Destination des Kultur- Massentourismus.

„Am Ufer der Salzach, eingerahmt von den Stadtbergen, liegt das alte, historische Salzburg. Die unvergleichliche Silhouette der Kuppeln und Türme, überragt von der gewaltigen Festung Hohensalzburg, prägt das großartige Bild der Stadt, die auch als ‚Rom des Nordens' gepriesen wird”, schreibt ein Reiseführer.[3570] Der Tagestourismus konzentriert sich vor allem auf die Altstadt mit dem Dombezirk, seinem italienischen Baukonzept aus Barock und weitläufigen Plätzen. Das Bundesland Salzburg stellte in den neunziger Jahren mit etwa 25 Millionen Nächtigungen pro Jahr hinter Tirol die zweitwichtigste österreichische Urlaubsdestination dar; Salzburg ist nach Wien die beliebteste Städtetourismus-Attraktion. Die mittlere Aufenthaltsdauer der Touristen lag jahrelang konstant bei 1,9 Tagen. Für Österreicher war Salzburg nach Kärnten und Steiermark drittwichtigstes Inlandsziel.

Großer sozialer und ökonomischer Druck lastet auf einer kleinen Bodenfläche mit ihren knapp 480 Gebäuden (2,5 % der Stadt Salzburg). Das größte Problem des Zentrums aus Sicht der Salzburg Innenstadt Genossenschaft (der örtlichen Kaufmannschaft) ist die Abnahme der Wohnbevölkerung nach 1945, die auch zum Verschwinden kleiner Handelsbetriebe und zur Ausbreitung von Handelsketten führte. Nach Angaben des Amts für Statistik im Magistrat der Stadt Salzburg lebten mit Jahresbeginn 2000 im Stadtgebiet von Salzburg etwa 144.000 Einwohner, davon in der Kern-Altstadt 936 Personen, das sind 0,65 % der Stadtbevölkerung.

Beginnend mit 1994 kam es zur dauernden Zusammenarbeit zwischen der „Salzburg Innenstadt Genossenschaft” (Obmann: Ing. Richard Feierle) und dem Autor. Eines der Kerngebiete der Umweltpsychologie war immer die Stadt als Objekt sehr unterschiedlicher Nutzungsinteressen. Sämtliche in Kooperation entstandenen Studien liegen als CD-ROM in kleiner Auflage vor.[3571] Der „Österreichische Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung” (FWF) finanzierte ein zweijähriges Projekt „Umweltpsychologie des Städtetourismus”, das Erleben und Verhalten internationaler Touristen in der Salzburger Altstadt studierte. Kernmethode dabei war das „tracking” – die verdeckte kontinuierliche Beobachtung mit anschließendem Interview. Wochentags, während der Ladenöffnungszeiten und nur bei Schönwetter begannen die Trackings nach einem Zufallsschema an vier Altstadt-Stellen. Das Projekt konzentrierte sich auf Individualtouristen. Der Pfad einer Zielperson wurde samt Haltepunkten auf einem Stadtplan vermerkt, die Stehzeiten gestoppt, die Haltezeiten nach Aktivitäten codiert. Das Trackingintervall betrug je 15 Minuten.

Die 309 Salzburg-Trackings lieferten folgende Resultate: Über 50 % der Städtetouristen waren zu zweit unterwegs, jeder zweite kam aus Deutschland, das mittlere Alter lag bei 40 Jahren. Etwa die Hälfte waren Erstbesucher der Stadt. Ein typischer Altstadt- Aufenthalt dauerte vier Stunden, wobei in den willkürlich herausgegriffenen 15 Minuten 550 Meter zurückgelegt wurden. Sechsmal wurde dabei angehalten. Das mittlere Gehtempo von 1 m/s betrug nur zwei Drittel des Alltagstempos Salzburger Einheimischer. Überraschenderweise zeigten sich keinerlei Gehunterschiede Sommer-Winter und keine Unterschiede zwischen verschiedenen Nationalitäten. Eine hochsignifikante Beziehung zwischen der Gesamt-Stehzeit (pro 15 Minuten) und der Gehgeschwindigkeit (in der verbleibenden Restzeit) legte die Annahme nahe, dass im Kulturtourismus ein Verhaltensprogramm wie beim Einkauf abläuft („Supermarkt- Effekt”).

Erstbesucher von Salzburg gingen schneller, machten aber längere Stehpausen, was für ein intensiveres Such- und Explorationsverhalten spricht. 60 % der Besucher gingen ohne Karte und Reiseführer. Immerhin 40 % der Gäste äußerten keine Kaufabsichten, 14 % waren noch unentschlossen und 20 % interessierten sich für Souvenirs. Die Zahl tatsächlich beobachtbarer Käufe war minimal. Auf einer Karte aller Wege zeichneten sich „Trampelpfade” und „lichte Stellen” ab. Von den insgesamt 1.700 Stops fand sich die große Mehrzahl gehäuft an wenigen Orten der Altstadt. Die Zahl der Haltepunkte korrelierte von Sommer zu Winter unerwartet hoch (r=.90, p=kl. als .00), was einen starken Einfluss der architektonischen Situation belegt.

10.14.1. Tracking in Innsbruck

Zur Überprüfung, ob die Salzburger Tracking-Ergebnisse auch für andere (ähnlich große) Kulturstädte gelten, wurde Mitte Juli 1997 eine Parallelstudie mit 65 Trackings in der historischen Innsbrucker Altstadt durchgeführt. Hier betrug die mittlere Gehgeschwindigkeit 0,55 m/s oder 2 km/h (halb so schnell wie in Salzburg). Die andere Altstadt-Struktur (beidseitig Arkaden mit Geschäften) veränderte offenbar das Besuchertempo. Auch hier hatten 40 % keine Kaufabsichten.

10.14.2. Fototrackings

Aus der Salzburger Tracking-Studie war bekannt, dass an Haltepunkten Fotos und Videos mit etwa 20 % die zweithäufigste touristische Aktivität darstellen. Im Winter 1995 und Sommer 1996 wurden eigene „Fototrackings” durchgeführt. 239 Zielpersonen im Winter 1995 machten 726 Fotos, im Schnitt drei pro Tracking; 121 Personen im Sommer 1996 224, also zwei Fotos pro Viertelstunde. Der durchschnittliche Zeitaufwand pro Foto lag im Winter bei 38 Sekunden (Range: 5 Sekunden bis 3 Minuten) und im Sommer bei 37 Sekunden (identische Spannweite). Die Aktivität wird also wesentlich von Motiv und eigenen Zielen, nicht aber von der Außentemperatur bestimmt. Die mittlere Gesamtfotozeit betrug 10–15 % der Trackingzeit. Mit 30 % Architekturtotalen, 14 % Landschaftstotalen und 11 % Architekturdetails dominierte „die schöne Stadt” als Motiv klar vor Personenfotos (15 %). Die Anzahl der Fotostopps pro Landkartenraster (44 Felder) in Winter und Sommer korrelierte mit r=.89 (p= kl. als .00), ein ebenso hoher Wert wie bei der vorangegangenen Tracking-Studie. Mit dieser unabhängigen und umfangreichen Parallelstichprobe kann eine Verhaltenssteuerung durch die Stadtarchitektur als gesichert gelten.

10.14.3. Soziale Enge (Crowding)

persönliche Wohlbefinden von Touristen? Verabscheuen Touristen bei Überfüllung der Stadt die anderen Touristen? Die langgezogene, enge Getreidegasse im Kern der Salzburger Altstadt gilt bei Einheimischen als Musterbeispiel für den vermuteten Effekt. Als Pilotstudie wurden im August 1996 an zwei frequenzmäßig verschiedenen Tagen in der Getreidegasse Passantenflüsse bestimmt (Videoaufnahme mit nachträglicher Personenzählung) und Touristen gleichzeitig am Rand der Gasse nach ihrem Erleben befragt. Durchaus unerwartet waren dabei negative Kommentare selten; die Touristen kalkulierten Soziale Enge bereits im Voraus mit ein und tolerierten sie in der Situation. Zu Beklemmungen dürfte es erst bei – nicht beobachteter – Totalüberfüllung (kein Weiterkommen, „Touristenstau”) kommen.

10.14.4. Image-Interviews

Welche bewusst reflektierten Einstellungen und Meinungen, welches Städte-Image tragen Salzburg-Touristen im Reisegepäck mit, und woher stammen die Bausteine zu diesem Bild? Das FWF-Projekt stellte 1996/97 87 themenzentrierte Interviews mit internationalen Hotel- und Jugendherbergsgästen in Salzburg nach ihren Stadtbesuchen an. Das Befragungsinstrument umfasste 40 Fragen zu touristischen und soziodemografischen Daten, zum Stadtimage von Salzburg, aktuellem Erleben, Aktivitäten, „Typischem”, Mozart, Sound of Music, Stadtführung, Einkauf, Küche, touristischer Dichte/Enge. Im Folgenden werden einige Ergebnisse der zwei Gruppen näher ausgeführt:

48 % der Hotelgäste und 66 % der Jugendgäste waren zum ersten Mal in Salzburg, Hotelgäste wollten im Schnitt 3,4 Tage bleiben, Jugendgäste vier Tage. Nur 13 % der Hotelgäste waren in einer Reisegruppe unterwegs, aber 34 % der Jugendgäste (allerdings auch selbstorganisiert). Nur 7 % der Hotel- und 10 % der Jugendgäste hatten von Salzburg vor ihrer Reise nichts gehört/gelesen.

Auf die Frage, was Salzburg für sie persönlich bedeute, also nach dem generellen Stadt-Image, nannten die Hotelgäste charmant, wohl fühlen, Vergnügen, enjoyable, Mozart, schöne Stadt, Kunst/Kultur, Musik, historisch und Sound of Music. Die Jugendgäste nannten zuallererst Mozart, dann Musik, Sound of Music, schöne Stadt und historisch. Auf die Frage, welche Art von Stadt denn Salzburg sei, antworteten Hotelgäste mit den Clustern historisch-alt, gemütlich, friendly, charming, Kultur, schöne Stadt und touristisch. Bei Jugendgästen überwog dagegen Kultur und touristisch (sogar „made for tourists”) vor historisch-alt. Schön und Emotionales wurden selten genannt.

Um die Ansprüche der Gruppen zu erfahren, wurde danach gefragt, was denn für das Erleben einer Kulturstadt wichtig sei. In der Hotelgruppe nannten die Befragten die Cluster Musik, Architektur, Hoch- und Alltagskultur, Atmosphäre, Emotionales, Information und Soziales (freundliche Leute). Die Jugendgruppe nannte Atmosphäre, Erleben/Genuss, Soziales und Kultureinrichtungen, reihte also die Wertehierarchie der erwachsenen Hotelgäste um. Es verwundert bei diesen Ansprüchen nicht, dass erwachsene Salzburg-Touristen ihre Wünsche eher erfüllt sehen als Jugendliche („viele Cafes, aber kein jugendspezifisches Angebot”). Der Interrail-Reiseführer für Jugendtouristen vermerkt denn auch prompt: „Nette Stadt, die aber mehr auf reichere Gäste eingestellt zu sein scheint”.

Was das Image des touristischen Warenangebots („Einkaufsstadt”) und die Kaufabsichten betrifft, erweist sich Salzburg von den Erwartungen und Plänen her als teures Pflaster, das vor allem zum Souvenirkauf animiert. In der Gruppe Hotel äußerten 45 % keine Kaufabsichten, 19 % wollten Souvenirs, 14 % Kleidung oder Schuhe kaufen. Die tatsächlich getätigten Käufe lagen bei 45 %, vor allem im Souvenirbereich. Lob und Kritik hielten sich bei den Erwachsenen die Waage – 36 % fanden das Angebot gut (fair prices, variety, nicht teuer), 38 % schlecht (too expensive, Angebot schmal), 9 % „good but not cheap”. Die Jugendgruppe äußerte zu 48 % Souvenir-Kaufabsichten, 34 % wollten nichts kaufen. Real gaben dann 52 % Käufe an – durch die Bank Souvenirs. Salzburg war 48 % zu teuer (Touristenstadt, Wien war besser), nur 17 % gefiel das Angebot, 17 % meinten „es könnte schlimmer sein” und 10 % fanden es „gut, aber teuer”. Die geringe Jugendfreundlichkeit zieht sich auch quer durch das zielgruppenspezifische Warenangebot. Die Branchen verschenken bei diesem Erstkontakt (66 % Erstbesucher in der Befragung) wertvolle Image-Punkte für spätere Besuche im Erwachsenenalter.

10.14.5. Tiefeninterviews

Würde man zum Thema Städtetourismus ausschließlich auf Ergebnisse der Salzburger Tracking-Studien zurückgreifen, entstünde der Eindruck, touristisches Verhalten sei öde, austauschbar – stereotypes Geh- und Stehverhalten, unabhängig von Jahreszeit und Nationalität. Sozialwissenschaftlich ist Vorsicht angebracht – die Trackings lieferten, trotz kurzer Interviews, reine Beobachtungsdaten. Der Schluss, zwei sich gleich verhaltende Menschen wären auch gleich, ist aber ein Fehlschluss. Nach der Betrachtung bewusst geäußerter Image- und Erlebensdaten (Image-Interviews) fehlt noch ein wesentlicher Baustein aus der Lebenswelt des Touristen – die halbbewussten Gefühle und Motive der Reisenden. Gegen Ende des FWF-Projekts wurden deshalb zwanzig Tiefeninterviews mit SalzburgbesucherInnen durchgeführt.

Die Interviews bestanden aus 15 Fragen, deren Beantwortung in ruhiger Atmosphäre auf Tonband aufgenommen und später transkribiert wurde, und aus zehn soziodemografischen Fragen. Die Tiefeninterviews stammen aus dem Frühjahr 1998. Die Gruppe setzte sich aus zehn Frauen und zehn Männer im Alter zwischen 10 und 72 Jahren zusammen, aus sechs Nationalitäten (BRD, USA, Großbritannien, Österreich, Frankreich, Italien), davon 40 % Erstbesucher von Salzburg.

Die Stärke der Tiefeninterviews ist das assoziativ-freie Erfassen des Gegenstandes, wobei die bewusst gesteuerte und sozial erwünschte Rede unterlaufen wird, also halbbewusste Aussagen mit „hineinrutschen” und damit die innere Ambivalenz besser abbilden.

So lautete Frage acht: „Salzburg nennt sich ‚Mozartstadt'. Interessiert Sie Mozart? Wo ist Ihnen Mozart in Salzburg begegnet, also wo hatten Sie den Eindruck, ihm näherzukommen?” Dazu nun drei der zwanzig Antworten in Kurzfassung:

Student, USA, 21: „I mean sure. Because of the music, but not much more than the average. I would say most probably at Mozart Square, the statue. We tried to find his house actually, but we couldn't find it. That would have been a closer moment.”

Lehrerin, BRD, 48: „Ja, überall. Im Mozarthaus waren wir. Und wir sitzen jetzt gerade auf dem Mozartplatz. In jedem Schaufenster liegen Mozartkugeln aus und es hängen Plakate mit Mozartkonzerten. Gibt's denn überhaupt andere Konzerte auch außer Mozart?”

Automobilverkäuferin, BRD, 55: „Ja, natürlich interessiert mich Mozart. Mozart ist mir eigentlich nicht in Salzburg begegnet, sondern ich bin nach Salzburg, um dann Mozarts Geburtshaus zu sehen. Also, dass unbedingt Mozart mit Salzburg verbunden wird, also, Mozart ist Mozart. Und man schaut sich natürlich das Geburtshaus an und versucht sich da ein bisschen ‚reinzudenken'. Aber ich glaube nicht, dass ich nach Salzburg fahren will, um Mozart und sein Leben zu erleben.”

Die wenigen Beispiele machen deutlich, dass die Rezeption der „Mozartstadt Salzburg” sehr individuell verläuft und mehr von der jeweiligen Biografie abhängt. Der US-Student hat Salzburgs zentrale Sehenswürdigkeit „nicht gefunden”. Die Lehrerin beschreibt die sie umgebende Mozart-Inflation eher harmlos. Die BRD-Verkäuferin philosophiert, wie denn der Genius aus dem Genius loci zu erklären sei und wozu sie dann überhaupt da ist. Solche Rezeptionsmuster sind Kulturschaffenden wohl bekannt – jeder sieht etwas durch seine höchst individuelle Brille, aber kaum einer sieht dasselbe wie sein Nachbar.

Vergleichen wir Vielfalt und Chaos der Tiefeninterviews mit der „Ameisenstraße” – stereotyp dahinwandernder Touristen in der Beobachtung – zeigt sich ein interessantes Muster des modernen Kultur- und Städtetourismus: Äußerlich angepasste, unauffällige, sich monoton verhaltende Menschen, die dabei innerlich in völlig unterschiedlichen Sinnwelten leben und das sie umgebende kulturelle Ambiente oft diametral entgegengesetzt verarbeiten.

Das wirtschaftliche Wachstumsgebiet Kulturtourismus ist ein Bereich des Reisens, bei dem sich Erleben und Wert-Interpretation intensiv gegenseitig bedingen und aufschaukeln. Wie Karlheinz Wöhler 3 ausführte, bedingt die Idealisierung des Reiseziels explizit oder implizit eine Abwertung der Alltagswelt. „Kulturstädte” und ihr Gegenteil, „öde Orte”, sind damit wie das „neue” und das „gewöhnliche Waschmittel” eine gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.

10.14.6. Altstadtbewohner

Über die Wohnbevölkerung der Kern-Altstadt fehlten trotz interessanter Ansätze[3572] vergleichbare Daten. Projektziel einer Lehrveranstaltung war 1999 neben der (hier nicht referierten) Beobachtung von Altstadtbewohnern im öffentlichen Raum ein Verständnis für Motive, Pläne, Kritik, also das alltägliche Lebensgefühl anhand von Interviews. Beobachtet und befragt wurde im Altstadtkern (Alter Markt, Judengasse, Residenzplatz) mithilfe einer Bewohnerliste von Richard Feierle. Das Interviewprojekt startete am 21. Oktober und endete am 9. Dezember 1999. Die StudentInnen wurden eingeschult und fachlich begleitet.

Nach Angaben des Amts für Statistik im Magistrat der Stadt Salzburg (2000) lebten mit Stichtag 1. Jänner 2000 im gesamten Stadtgebiet von Salzburg 144.247 Einwohner, davon 116 096 Inländer. In den Zählsprengeln 163 bis 166, also der Kern-Altstadt, wohnten 936 Personen, davon 681 Inländer. Die Wohnbevölkerung der Altstadt lag damit bei 0,7 % der Stadtbevölkerung. Vor zehn Jahren, am 1. Jänner 1990, lag die Stadtsumme der Bevölkerung bei 140.589 Personen, jene der vier Altstadt-Zählsprengel bei 904 (also 0,6 %). Die Personenzahl pro Haushalt lag im Volkszählungsjahr 1991 in den vier Altstadtsprengeln bei 2,0 – die mittlere Haushaltsgröße der gesamten Stadt lag bei 2,1.

Wenn in der studentischen Untersuchung Ende 1999 also 43 BewohnerInnen der Altstadt interviewt wurden, so sind das 4,6 % aller Bewohner bzw. 6,3 % aller Inländer. Die mittlere Haushaltsgröße der Stichprobe lag bei zwei Personen und war stadttypisch auf der Basis von 1991. Laut Magistrats-Statistik war die befragte Stichprobe repräsentativ für den Altersschnitt der Kern-Altstadtbewohner.

Es wurden persönliche Interviews zu insgesamt 52 Fragen geführt. Nur wenige angesprochene Bewohner verweigerten ein Gespräch. 16 der 43 Befragten wünschten sich ein Feedback, was zunächst für ihr Interesse sprach. Trotz schriftlicher Einladung des Vizebürgermeisters erschien dann zur Abschlussveranstaltung im Hotel Elefant am 16. März 2000 nicht ein Einziger, was die Vertrauenskrise Bewohnerschaft-Stadtpolitik eindrucksvoll dokumentierte.

  • Die Interviews wurden mit 19 Männern (44 %) und 24 Frauen (56 %) geführt. Der Unterschied ergibt sich aus der verschiedenen Erreichbarkeit tagsüber.

  • Die Altersverteilung hat ihr Maximum bei etwa 50 Jahren und wirkt nicht so „antik”, wie man es sich von einer Altstadt-Stichprobe vorstellen würde.

  • Jeweils 18 (und damit jeweils über 40 %) waren ledig oder verheiratet/in Lebensgemeinschaft, vier geschieden, drei verwitwet.

  • Die meisten Haushalte bestanden aus einer oder zwei Personen (jeweils 35–40 %), mehr Personen waren selten – zusammen weniger als 25 %.

  • In 77 % der besuchten Haushalte gab es kein Kind, in dreien eines, in sechs Haushalten zwei, in einem sogar fünf. Kinderreich ist die Altstadt also nicht.

  • Beruflich waren 17 Personen angestellt, zehn Freiberufler, sieben in Ausbildung, sechs in Pension, drei im Haushalt/in Karenz tätig. 63 % besaßen einen PKW.

  • Die mittlere Wohndauer in der Altstadt lag bei 20 Jahren; die Verteilung ist stark linksschief, das heißt viele der Bewohner wohnten nicht sehr lange im Stadtkern. Ein kleines Maximum folgt bei 35 Jahren, eine Aufenthaltsdauer über 40 Jahre ist mit sechs Personen eher selten.

  • In der Altstadt geboren sind nur vier der Befragten (9 %), 33 % stammten aus Salzburg, 58 % von außerhalb. Bis zum zehnten Lebensjahr lebten 33 % in Salzburg, 67 % nicht.

  • 51 % schätzten sich selbst als sehr lebenszufrieden ein, 37 % noch als eher zufrieden, 7 % als neutral und nur mehr je eine Person (je 2 %) als eher oder sehr unzufrieden. Hier spielt die soziale Erwünschtheit eine Rolle - wer will sich vor Interviewern schon selbst als depressiv darstellen?

  • Genügend soziale Kontakte glaubten sogar 93 % zu haben. Gesundheitlich meinten 63 %, es gehe ihnen sehr gut, 28 % geht es noch eher gut.

Auch wenn solche Aussagen mehr Zuschreibungen als Tatsachen sind, signalisieren sie doch eine optimistische Grundhaltung.

10.14.7. Soziale Integration - Ortsidentität

  • 86 % haben Verwandte/Freunde/Bekannte außerhalb der Altstadt.

  • 72 % werden aber von Verwandten/Freunden/Bekannten öfter besucht.

  • 67 % haben ihren Lebensmittelpunkt (Arbeit, Alltag, Freizeit, Wohnen) in der Altstadt. 63 % kaufen hier täglich ein.

  • Typische Treffpunkte für Verwandte/Freunde/Bekannte sind Lokale (42 %; wovon 28 % Cafes), seltener die eigene Wohnung oder Würstelstand/Grünmarkt.

  • 12 % besuchen einen Stammtisch, 9 % ein Vereinslokal.

  • Die typische Kontaktfrequenz ist einmal pro Woche (47 % jener, die sich treffen) vor gelegentlich/selten (19 %), 2–3x/Woche (14 %) und täglich (5 %).

  • 74 % oder drei Viertel wollen weiter in der Altstadt bleiben, 60 % empfehlen Wohnen in der Altstadt auch anderen.

  • 53 %, also die Mehrheit, erwähnt spezielle Probleme: 28 % mit Kindern (vor allem fehlende Spielplätze/-flächen), 19 % konkret mit Alten (vor allem Lifte).

  • 71 % haben ein Stammgastgefühl (40 % Lokale, 19 % Geschäfte, 12 % Markt).

  • 88 %, also die große Mehrheit, fühlt sich in der Altstadt zu Hause.

  • Was gefällt in der Altstadt besonders? 43 Nennungen, das heißt: allen gefällt etwas. Themen sind: Atmosphäre, Flair, Stadtbild, Architektur, Schönheit, Kultur, Fußgängerzone, zentral, Stimmung. Das touristische Bild der Altstadt ist sehr ähnlich.

  • Was missfällt in der Altstadt besonders? 40 Nennungen, das heißt: alle stört auch etwas. Themen sind: teuer, Verkehrsprobleme/Parken, Tourismus und die Folgen, Kommerz, schlecht für Kinder/Jugend/alte Leute, Ghetto, Infrastruktur, Lärm.

  • 70 % haben Interesse an der Stadtpolitik. 58 % haben dabei kein Vertrauen, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden. 56 % äußerten, trotz des geringen Vertrauens, den Wunsch, über die Altstadt mit Politikern zu sprechen.

10.14.8. Rolle des Tourismus in Salzburg

  • Was am Salzburgtourismus wirkt auf Sie positiv? 35 Nennungen zu den Themen: Internationale Bekanntheit, Image, Stolz, Gewinn, Kultur, Festspiele.

  • Was am Salzburgtourismus wirkt auf Sie negativ? 37 Nennungen zu den Themen: Rummel, Geschäft, Lärm, Massentourismus, Müll.

  • 74 % sehen im Tourismus eine Bereicherung (auch durchaus wörtlich), 28 % eine Verarmung.

  • Als touristisch bewertet werden vor allem die Getreidegasse (60 %), Altstadt-Plätze, die ganze Altstadt, Festung, Dom und Kirchen.

  • 63 % vermeiden diese Orte (49 % im Sommer, zur Saison).

  • Positive Begegnungen mit Touristen schildern 49 %, Konflikte 23 %.

  • Bringt Ihnen als Altstadtbewohner der Tourismus Vorteile? 77 % sagen „nein”, 21 % „ja” (vor allem wirtschaftlich).

  • 79 % besuchten Aufführungen der Salzburger Festspiele (die es ohne Tourismus nicht geben würde, vgl. Vorfrage).

10.14.9. Zukunftsperspektive der Altstadt

  • Was hat sich, seit Sie hier wohnen, zum Positiven/Negativen verändert? 70 % berichten Negatives, 37 % Positives, 28 % beides (Mehrfachnennungen). Negativthemen sind Einkauf/Infrastruktur, Soziales und Veranstaltungen, Positivthemen sind Verkehr und Ästhetik/Bauten. Das Bild ist, entgegen allen populären Vorurteilen, vielgestaltig, nicht „schwarz”.

  • Ist die Altstadt ein lebendiger/sterbender Stadtteil? 63 % finden sie „sterbend”, 33 % „lebendig”. „Sterbende Altstadt” ist eine typische Zeitungsschlagzeile.

  • Wird sich die Altstadt positiv/negativ weiterentwickeln? 47 % meinen „negativ”, 42 % sagen „positiv”.

  • Haben Sie neue Altstadt-Ideen? Drei Viertel äußern konkrete Ideen. Themen sind: Verkehr, Geschäfte/Betriebe, Wohnungen, Events, Gastronomie, Treffpunkte und Jugend. 25 % äußern keine Ideen.

  • „Altstadtbelebung” – Was halten Sie davon? Ihre Wahl: mehr Feste/Events, mehr Geschäfte/Angebote, mehr Bewohner? (Mehrfachnennungen) 67 % geben Bewohnern Priorität, 47 % Geschäften/Angeboten, 37 % Festen/Events.

  • Welche Einrichtungen/Geschäfte vermissen Sie? (Mehrfachnennungen) 26 % vermissen Lebensmittelgeschäfte, 23 % Eisenwaren, 12 % den täglichen Bedarf, 12 % Kaufhäuser/Super-/Großmärkte, 9 % Haushaltswaren.

  • Was sollten Wirtschaft und Politik tun, um die Altstadt optimal zu fördern? Konkrete Maßnahmen äußern nur 14 %: Kontrolle neuer Geschäfte, Fußgängerzone beschränken, Mietobergrenzen, Ermäßigungen für Einheimische bei Kulturveranstaltungen, Altstadt-Ombudsmann als Vermittler und das „Konzept Reichenhall”. Der Rest bleibt unbestimmt: „andere Politiker”, „langfristiges Konzept”, „an einem Strang ziehen” usw.

10.14.10. Übersicht der Altstadt-Untersuchungen 1994–2003

Tabelle 10.3.

UntersuchungZeitraumThema, Methode(n)Stichprobe(n)
Bewohnerstudie (Sbg.Innenstadt)1994Gruppendiskussionen zur Salzburger Altstadt136 Nicht- Altstadtbewohner
Einkaufsstudie1994Straßenbefragung von in der Altstadt Einkaufenden200 Besucher
Kassenstudie1995Verkehrsmittelwahl und Einkaufsverhalten168 Einkaufende in 9 Geschäften
Salzburger Touristen-Tracking-Studien1994–1998Verdeckte Verhaltens- beobachtung und nachfolgendes Interview, Crowdingstudie (soziale Enge)309 Touristen Salzburg 49 Touristen Supermarkt 65 Touristen Innsbruck 251 Foto-Trackings Sbg. 10 Langzeit-Trackings
Image-Interviews1996–1997Themenzentrierte Interviews im Hotel nach Stadtbesuch57 Hotelgäste Salzburg 30 Jugendherbergsgäste
Tiefeninterviews1998Interviews in der Altstadt20 Touristen Salzburg
Bewohnerstudie1999–2000Altstadt-Trackings, Interviews zu Hause mit Altstadtbewohnern39 Trackings 43 Bewohnerinterviews
Christkindlmarkt (auch Soziologie)2000 Interview zu Besuchmotiven, verdeckte Beobachtungen354 Besucherinterviews 15 Ausstellerinterviews 42 Trackings, Zählungen
Vergleichende Bewohnerstudien Pavia, Italien Parma, Italien2002–2003Interviews zu Hause mit Altstadtbewohnern, italienischer Fragebogen60 Bewohnerinterviews Pavia durch Thomas Kraft, Parallelstudie läuft noch


Verwendete Literatur:

[Ainz/Hofer/Höck 1995] Ainz, Gerhard; Hofer, K.; Höck, A.: Kaiviertel – Struktur und Imageanalyse. Projektbericht für den Magistrat der Stadt Salzburg. Salzburg 1995.

[Bachleitner/Keul 1997] Bachleitner, Reinhard; Keul, Alexander G.: Tourismus in der Krise? Der Fremdenverkehr Salzburgs im Spannungsfeld von Differenzierung und Pluralisierung. In: Dachs, Herbert; Floimair, Roland (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 1997. Salzburg 1997 (Schriftenreihe des Landespressebüros / Sonderpublikationen 135a), S. 68–91.

[Feierle/Keul 2001] Feierle, Richard; Keul, Alexander G. (Hg.): Salzburg Altstadt Forschung. CD-ROM-Edition der Forschungsstudien in Kleinauflage. Salzburg 2001.

[GabrielM/Rose 1994] Gabriel, Manfred; Rose, Wolfgang: Im Schatten Mozarts. Eine Studie zum Salzburger Kaiviertel. In: Kultursoziologie 3/3 (1994), S. 28–43.

[GabrielM/Rose 1995] Gabriel, Manfred; Rose, Wolfgang: Das Salzburger Kaiviertel. Jahrbuch der Universität Salzburg 1991–1993. Salzburg 1995, S. 287–301.

[Kammerhofer-Aggermann/Keul 2000a] Kammerhofer-Aggermann, Ulrike; Keul, Alexander G. (Hg.): „The Sound of Music“ – zwischen Mythos und Marketing. Salzburg 2000 (Salzburger Beiträge zur Volkskunde 11).

[Keul 1996] Keul, Alexander G.: Tourismus-Feldforschung: Das Salzburger Trackingprojekt. In: Gruppendynamik 27 (1996), S. 51–56.

[Keul 1997] Keul, Alexander G.: Wohnqualität in der Altstadt. In: Salzburg Innenstadt (Hg.): Stadt erleben – nicht erleiden. Neue Entwicklungsziele für alte Städte. Salzburg 1997, S. 105–108.

[Keul 1998a] Keul, Alexander G.: Ameisenstraße für Individualisten. Feldbeobachtungen im Städtetourismus. In: Bachleitner, Reinhard; Kagelmann, Hans Jürgen; Keul, Alexander G. (Hg.): Der durchschaute Tourist. Arbeiten zur Tourismusforschung. München 1998 (Reihe Tourismuswissenschaftliche Manuskripte 3), S. 138–144.

[Keul 1998b] Keul, Alexander G.: Feldbeobachtungen im Städtetourismus. Bericht über ein FWF-Projekt. In: Bausch, T.; Schmölzer, A. (Hg.): TourismusForum 1998. Beiträge aus Forschung und Praxis des Wissenschaftszentrums der ITB Berlin. Hamburg 1998, S. 98–103.

[Keul 2000a] Keul, Alexander G.: Alltag im Kern der Altstadt. Aktivitäten und Lebensgefühl. Projektbericht für den Magistrat Salzburg, Altstadt-Ressort. Salzburg 2000.

[Keul 2000b] Keul, Alexander G.: Der Tourist in der Salzburger Erlebniswelt. In: Haas, Hanns; Hoffmann, Robert; Kriechbaumer, Robert (Hg.): Salzburg – Städtische Lebenswelt(en) seit 1945. Wien [u. a.] 2000 (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek 11), S. 425–437.

[Keul/Kühberger 1996] Keul, Alexander G.; Kühberger, Anton: Die Straße der Ameisen. Beobachtungen und Interviews zum Salzburger Städtetourismus. München 1996 (Reihe Tourismuswissenschaftliche Manuskripte 1).

[Keul/Kühberger 1997] Keul, Alexander G.; Kühberger, Anton: Tracking the Salzburg tourist. In: Annals of Tourism Research 24 (1997), S. 1008–1012.

[Murenwald 1991] Murenwald, Hansjörg: Salzburg. Bild-Stadtführer. Berchtesgaden 1991.

[Rose 1999] Rose, Wolfgang: Die Salzburger Steingasse als Objekt und Paradigma. Jahrbuch der Universität Salzburg 1995–1997. Salzburg 1999, S. 255–272.

[Salzburger Innenstadt 1997] Salzburg Innenstadt (Hg.): Stadt erleben – nicht erleiden. Neue Entwicklungsziele für alte Städte. Salzburg 1997.

[Wöhler 2000] Wöhler, Karlheinz: Pflege der Negation. Zur Produktion negativer Räume als Reiseauslöser. In: Keul, Alexander G.; Bachleitner, Reinhard; Kagelmann, Hans Jürgen (Hg.): Gesund durch Erleben? Beiträge zur Erforschung der Tourismusgesellschaft. München 2000, S. 29–37.



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