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5.22. Sternsingen, Christkind und Eintöpfe (Konrad Köstlin)

5.22.1. Kurztext[1732]

5.22.1.1. Brauchtransformationen in die Moderne

Historische Bräuche, ihre Muster und ihr Sachinventar können in der Moderne auf ganz verschiedene und oft widersprüchliche Weise genutzt und eingesetzt werden. Ihr ausdrückliches Anführen ist oft Bestandteil einer Strategie, gegenwärtige Anliegen und Deutungen aus dem Historischen und des ausdrücklich Eigenen zu stützen und so zu legitimieren.

Es überrascht immer wieder, wie selbstverständlich und auf den ersten Blick bruchlos Muster älterer Brauchformen in den modernen Alltag eingehen. Andererseits steht außer Frage, dass diese Bräuche gerade dort „modern“ werden müssen, wo sich ihre als „uralt“ gezogenen Konturen neuem Bedarf fügen. Kaum überraschen kann deshalb der regelmäßige Verweis auf die „Echtheit“ von Bräuchen, um sich solcherart der Rechtmäßigkeit zu versichern. Jene Kulturformen, die als regional oder lokal überliefert gelten, sind heute hoch symbolisch und werden in verschiedenen Richtungen neu genutzt. Die Transformation von Bräuchen ist immer ein selektiver Akt, der versucht, den Brauch durch einen guten Zweck zu adeln.

5.22.1.2. Gabenbringer

Die Debatte um den Verlust des Christkindes und den Vormarsch des Weihnachtsmannes hat 1997 in Österreich einige Wellen geschlagen. In der Tat haben Österreich und weite Teile Süd- und Westdeutschlands die längste Zeit allein dem Christkind gehört. Es geht dabei um die Kritik an der Vermarktung der Gefühle und am Tourismus, dem man eigentlich bereits zuviel geopfert habe, unter anderem auch die „echte“ Volkskultur mit ihren vielen alten Bräuchen. Die Globalisierung wird nicht nur als eine ökonomische Bedrohung gesehen, sondern vor allem für den Verlust der kulturellen Autonomie verantwortlich gemacht. Der Sektor der Kulturaneignung hat eine eigene Kraft entwickelt. Konsum wird kulturalisiert und nationalisiert. Und in diesen Kontext der Nutzung gehören auch all die weihnachtlichen Gestalten wie Christkind oder Weihnachtsmann.

Tatsächlich handelte die Debatte von der Sorge um das Verschwinden des „österreichischen“ Christkindes, das vorrangig als „eigen“ und von ausgesprochen österreichischem Zuschnitt interpretiert wurde. Damit verbunden war die Furcht vor dem Überhandnehmen des Weihnachtsmannes, der als Symbol einer drohenden kulturellen Überfremdung gesehen wurde. Das wahre Österreich erschien als Land einer Art inneren Rückzuges in die Werte der Stille, der Weihnachtsmann dagegen war der laute Kommerzbube, der diese Stille der Heiligen Nacht bedrohte. Seine Beziehung zum Nikolaus blieb unbehandelt. Gegen die Vermarktung sprach jedoch nicht, dass die jährliche Spendenaktion „Licht ins Dunkel“ um die Weihnachtszeit wieder mit einem neuen Spendenrekord aufwarten konnte: Hatte sie doch den Leuten bewiesen, dass sie, als Österreicher, gute Menschen sind.

5.22.1.3. Sternsinger

Seit „Menschengedenken“ haben sich in vielen Orten Süddeutschlands Erwachsene und später Kinder zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag als morgenländische Könige verkleidet und sind mit einem Stern auf der Stange von Haus zu Haus gezogen. Dafür hat die Gruppe Schnaps, Speck und Geld bzw. Süßigkeiten, Gebäck, Orangen und manchmal auch etwas Geld bekommen. Die essbaren Sachen haben sie zusammen verspeist, das Geld in die Sparbüchse getan oder – die Erwachsenen – in der Wirtschaft gemeinsam vertrunken.

Die katholische Kirche hat vor über 30 Jahren im Rahmen des Päpstlichen Missionswerkes begonnen, den „alten“ Sternsingerbrauch für neue, fromme Zwecke zu nutzen. Damit wurde ein ungeahnter Aufschwung der kirchlichen Jugendarbeit eingeleitet. In Österreich und Deutschland werden seitdem von den Pfarreien Sternsinger ausgeschickt, die mit verplombten Sammelbüchsen und Ausweisen ihre Runde machen. Das gesammelte Geld kommt Projekten in der Dritten Welt zugute.

Niemand wird gegen diese Umwandlung des Brauches etwas einzuwenden haben. Aber diese Indienstnahme des Brauches durch die Kirche und die Zuordnung des Zweckes hat zu einer bemerkenswerten Neubewertung geführt: Das „wilde“ Sternsingen wurde als Bettelei bezeichnet, als die „richtigen“ Sternsinger galten die Schulkinder mit dem Ausweis des Pfarramtes und der verplombten Sammelbüchse.

5.22.1.4. Suppenessen

Die Praxis des Eintopfessens für die „Dritte Welt“ ist nicht nur in Kirchengemeinden viel geübt. Die Professionalisierung des Sammelns ist auch bei anderen Organisationen hoch entwickelt. Das Fundraising der Umwelt-, Tierschutz- und Rettungsorganisationen nennen die Experten inzwischen auch in Anlehnung an das Sternsingermuster des Von-Tür-zu-Tür-Ziehens das „Drei-Königs-Prinzip“, das durch den Versand von Bettelbriefen mit Zahlscheinen und durch die Verbreitung von Zahlscheinen ergänzt wird. Ziel dieses Prinzips ist es, per Erlagschein und Dauerauftrag eine feste Spendenklientel für sich zu gewinnen. Die Aussichten, dieses Ziel zu erreichen, sind vor allem in der Advent- und Weihnachtszeit sehr groß.

Bereits das „Winterhilfswerk“ hat während des Dritten Reiches Sammelaktionen – die Eintopfsonntage – veranstaltet. Mit der formalen Beständigkeit der Eintopfsonntage konfrontiert, wird man fragen müssen, wie mit solchen historischen Mustern umzugehen ist. Ist es sinnvoll, an die NS-Tradition dieser Fundraising-Praxis zu erinnern, eine Tradition, die ebenfalls ihre Vorläufer hatte? Signifikant eingegraben hat sich ins kulturelle Gedächtnis die NS-Nutzung dieser Traditionsreihe: Bei Recherchen zum Eintopf vor etwa 15 Jahren haben einige Befragte zu verstehen gegeben, sie könnten keinen Eintopf essen, weil seine NS-Vergangenheit ihnen den Geschmack verderbe. Bei Befragungen in Österreich war immer wieder zu hören gewesen, man habe das Verweigern der NS-Eintöpfe als eine Art des spezifisch österreichischen inneren Widerstandes praktiziert.

5.22.2. Langtext[1733]

5.22.2.1. Brauch-Transformationen in die Moderne

Es überrascht immer wieder, wie selbstverständlich und auf den ersten Blick bruchlos Muster älterer Brauchformen in moderne Alltagspraxen eingehen. Andererseits steht außer Frage, dass diese Bräuche – wie jene Wissenschaft, die sie benannt, kategorisiert und gedeutet hat – gerade dort „modern“ werden müssen, wo ihre als „archaisch“ oder „uralt“ gezogenen Konturen neuem Bedarf sich fügen. Kaum überraschen kann deshalb der regelmäßige Verweis auf die Historizität oder gar die „Echtheit“ von Bräuchen, eine Bezugnahme, die ebenso regelmäßig mit den Begriffen „Tradition“ und „Volkskultur“ operiert, um sich solcherart der Legitimation zu versichern. Jene Kulturformen, die als regional oder lokal überliefert gelten, sind in unseren Tagen von hochsymbolischer und nach Expression drängender Potenz und werden in verschiedenen Richtungen neu genutzt.

Das bestätigt eine Vielzahl von Beobachtungen, die im Kontext beständiger gesellschaftlicher Veränderungen gemacht werden können. So kann man etwa mutmaßen, dass das Unsichtbarwerden der europäischen Staatsgrenzen, der Abbau der Übergänge und ihrer Markierungen (kein Grenzbeamter verlangt mehr nach einem Pass) wie auch der Ersatz staatlicher Zuständigkeiten insgesamt durch „Privatisierung“ und „Liberalisierung“ zu Zweifeln an der Verlässlichkeit der Instanzen und in Konsequenz zu einer neuen Wertschätzung der als alt und verlässlich und zudem als identitätsproduktiv ausgewiesenen regionalen Kultur geführt hat. Und man ist versucht, vorauszusagen, dass an die Stelle staatlicher Grenzmarken nun neue kulturelle Markierungen treten werden, dass etwa mithilfe der alten Volkskunde-Atlanten und ihrer Verbreitungskarten eine neue Wirklichkeit hergestellt werden wird, wobei ihre Materialien, Grenzziehungen und Daten der Neuformulierung und Etablierung von Kulturgrenzen dienlich werden. So wäre es denkbar, dass sich der „Kampf der Kulturen“, wie ihn Samuel P. Huntington[1734] vor einigen Jahren prophezeit hat, auf einer trivialeren, eher alltäglich-brauchkulturellen Ebene abspielen könnte.

Bemerkenswert ist, dass eine solche nachholende Verwirklichung einer wissenschaftlichen Konstruktion in der Vergangenheit nicht ganz selten gewesen ist. So kann man – um nur ein Beispiel zu nennen – fragen, ob die Begrenzung des Maskentyps „Weißnarren“ auf die schwäbische Baar und die etwa in einer Fernsehübertragung gemachte Aussage, dass ein Weißnarrenhäs aus einer Nachbarregion der Baar eigentlich „falsch“ sei, nicht das Ergebnis einer ordnenden Deutung sind, der ihre Verfestigung und Musealisierung nachgefolgt ist.[1735] Freilich: Der Versuch, Befunde zu systematisieren und zu ordnen, ist jeder Wissenschaft immanent; und es ist an sich auch nicht ungewöhnlich, dass wissenschaftliche Deutungen und Konstruktionen ihre eigene Wirklichkeit produzieren. Das lässt sich nicht nur für das Konstrukt „Volkskultur“ nachzeichnen, sondern ebenso für jene modernen Konstruktionen wie die der „Identität“, die heute zu weit mehr als zu einer bloßen Formel politisch-philosophischer Rhetorik geworden und mit ihrem hohen und als „human“ einklagbaren Verwirklichungsanspruch in der Lage sind, ein aggressives Potential zu entwickeln.[1736]

Auffällig bleibt allerdings, wie sehr sich die heutzutage in der Öffentlichkeit geführten Diskurse an regionalen und nationalen Traditionen festmachen. Und anzumerken ist, dass Kultur, inbesondere die historisch eingetiefte Kultur, in der Moderne eine neue Qualität als Ausdrucksmittel von Individualität und Unterscheidbarkeit gewonnen hat. Das soll hier an einigen Beispielen illustriert werden, an Bräuchen, die einer adaptiven Transformation im modernen Gebrauch unterliegen.

5.22.2.2. Gabenbringer

Die Debatte um den Verlust des Christkindes und den Terraingewinn des Weihnachtsmannes hat in Österreich im Advent 1997 einige publizistische Wellen geschlagen. In der Tat haben ja, so weisen es die Atlanten unseres Faches aus, Österreich und weite Teile Süd- und Westdeutschlands die längste Zeit allein dem Christkind gehört.[1737] Im „Kurier“, einer Wiener Boulevardzeitung, wurde die Angelegenheit unter dem Titel „Sogar Politiker kritisieren den Weihnachtsmann“ ausführlich analysiert, wobei die Aussage eines sechs Jahre alten Mädchens als Ausgangspunkt zitiert wurde: „Dem Christkind schreib’ ich meine Wünsche, und der Weihnachtsmann bringt die Geschenke“.[1738] In die Kerbe dieses Widerspruchs schlugen dann so manche Schreiber von Leserbriefen zu dieser Thematik. Doch kamen dabei nicht nur der Widersinn der von Kindermund angesprochenen Praxis (die zudem durch ein Weihnachtspostamt im Ort Christkindl bei Steyr gestützt wird), der Verlust des Gewohnten und die Erinnerung an die eigene Kindheit zum Ausdruck.[1739]

Es fällt nicht schwer, die Debatte – zugleich und daneben Ausdruck eines allgemeinen Kulturpessimismus – auch als ein Stück Modernisierungskritik zu bewerten: Es geht um die Kritik an der Vermarktung der Gefühle, am immer lauter werdenden Tourismus, dem es ohnehin nicht mehr so gut gehe und dem man eigentlich bereits zuviel geopfert habe (Stichwort: Elton John, Tina Turner als Pop-Events oberhalb der Baumgrenze), unter anderem auch die „echte“ Volkskultur mit ihren vielen schönen, alten Bräuchen, die von der Besonderheit Österreichs zeugten. Diese Betonung des österreichisch-Besonderen folgte dabei einem Muster aus der Kreisky-Ära: In der Idee von der „Insel der Seligen“ manifestierte sich ein Kontrastprogramm, das verdeutlichte, dass in Österreich die Dinge noch nicht so weit und damit vor allem nicht so schlimm gediehen seien wie andernorts.

Die Erosion der Werte, die ja auch eine Emanzipation in die Moderne anzeigt, revitalisiert das als überzeitlich Gedeutete (beispielsweise auch die Existenz der Engel[1740]), das sich der Moderne zu verweigern scheint. Bei all dem erweist sich das Thema als durchaus politikfähig. Die ÖVP-Politikerin Edeltraud Gatterer etwa forderte: „Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass das Christkind nicht vom Weihnachtsmann verdrängt wird“, und führte weiter aus: „Man soll doch den Kindern nicht das nehmen, was in Österreich seit Jahrzehnten liebenswerte Tradition und bewusster Brauch ist.“ Auch eine befragte Volkskundlerin äußerte dazu im „Kurier“, dass der Weihnachtsmann „besser in den irdischen Warenhimmel als das Christkind“ passe, er sei „ein Symbol für Geld und Konsum“. Sie ortet eine „Entwicklung hin zu zwei Festen, dem ursprünglich religiösen und dem kommerzialisierten Geschenkfest. Und weil die religiöse Bedeutung immer weiter zurückgeht, werden einfach die Weihnachtsmänner immer häufiger.“ Im Weiteren beschreibt das Blatt die „Konkurrenz durch den global agierenden Weihnachtsmann“ als „erdrückend“.[1741] Das mag – auf sehr allgemeine Weise – als eine Reaktion auf europäische Angststrukturen in Sachen Kultur interpretiert werden und seine besondere Virulenz gleichzeitig einer Aversion gegen das riesige Europa verdanken. Einer der Kandidaten zur Präsidentschaftswahl 1998, Karl Dvorak, verglich die EU-Mitgliedschaft gar mit dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im Jahre 1938,[1742] ein Bild, das im Umfeld der EU-Abstimmung 1994 mehrfach gebraucht worden war.

In der Tat ist mit dem „global agierenden“ Weihnachtsmann das Stichwort genannt: Die Auffassung, dass Globalisierung nicht nur eine ökonomische Bedrohung sei, sondern vor allem den Verlust der kulturellen Autonomie bedeute, hat sich erfolgreich durchgesetzt. Es lässt sich beobachten, dass die Interpreten moderner Befindlichkeiten und Zustände immer häufiger Schneisen der Verstehbarkeit anbieten, in der die als „eigen“ – und als durch „Fremde“ bedroht – gezeichnete Kultur einen neuen – auch nationalen – Symbolhaushalt mit offenbar hilfreichen und plausiblen Distinktionsangeboten organisiert. Hiervon scheint insbesondere jenes Segment zu profitieren, das, als „Volkskultur“ etikettiert, eben dieses Eigene verspricht, jene Unterscheidbarkeit und Einmaligkeit, die sich der Globalisierung entgegenzusetzen scheinen.

Für Individuen wie für Staaten – und nicht nur die „neuen“ Staaten der Nachwendezeit – hat dieser Sektor der Kulturaneignung eine eigene Kraft entwickelt. Beide geben sich zusehends „ethnisch“ und akzentuieren jene Eigenheiten, die dann als Mentalitätsunterschiede durch sogenannte „interkulturelle Kommunikation“ akzeptiert und hantierbar gemacht werden sollen. Dabei bieten die Medien und auch die Kulturakteure mit dem modernen Konsum ein neues Feld der Auseinandersetzung an: Konsum wird kulturalisiert, wird nationalisiert. Und in diesen Kontext der Nutzung gehören auch all die weihnachtlichen Gestalten, Christkind, Weihnachtsmann oder der niederländische Sinteklaas[1743] und sein Begleiter, der Swarte Piet.

Um noch einmal auf den eingangs zitierten Artikel[1744] und die Reaktionen auf ihn zurückzukommen: Auffallend an den zustimmenden Leserbriefen war eine Tendenz zur Sorge, zur Besorgtheit um das Nationale, um den Verlust österreichischer Identität. Und so lässt sich die Debatte also schon genauer fassen: Tatsächlich handelte sie von der Sorge um das Verschwinden des „österreichischen“ Christkindes, des Christkindes, das vorrangig als „eigen“ und von ausgesprochen österreichischem Zuschnitt interpretiert wurde – und nicht etwa oder erst an späterer Stelle als katholisch. Damit verbunden war die Furcht vor dem Überhandnehmen des Weihnachtsmannes, der nicht nur zum Indiz der Kommerzialisierung des Festes geworden ist, sondern zugleich und vor allem auch als kulturimperialistischer Import, als fremder „amerikanischer“ und „deutscher“ Weihnachtsmann gesehen wurde. Der Weihnachtsmann war als Symbol einer drohenden ökonomischen und kulturellen Hegemonie, einer drohenden kulturellen Überfremdung ausgemacht worden. Da mögen dann auch Aversionen gegen den protestantisch-preußischen „Piefke“ mitgespielt haben.

Klar war, dass in dieser Nationalisierungsstrategie das Christkind die Rolle des gemütvollen, antimodernen, der alpinen Weihnachtsstimmung entsprechenden Eigenen spielte, zugeordnet dem in der Fremdenverkehrswerbung und einem gerade gedrehten Fernsehfilm als ebenfalls zutiefst „österreichisch“ vermittelten Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“, das einem nationalen Konfliktfeld (zwischen Bayern und Österreich) seine Entstehung verdanke. Das wahre Österreich erschien so als Land einer Art inneren Emigration in die Werte der Stille. Der Weihnachtsmann dagegen – und da wurde dann auch das „Lutherische“ und, in Trivialisierung Webers, die „protestantische Ethik“ als kommerzfreundlich eingespielt – war der laute Kommerzbube, der diese Stille der heiligen Nacht bedrohte und die Kinder verwirrte. Seine Beziehung zum Nikolaus[1745] – die immerhin den Blick auf heimisch-Traditionelles hätte richten können – blieb unbehandelt. Und gegen die monierte Kommerzialisierung sprach auch nicht, dass die jährlich um die Weihnachtszeit in allen Medien präsente nationale Spendenaktion „Licht ins Dunkel“ – sie operiert mit der nur scheinbar antimodernen Kerze[1746] – wieder mit einem neuen Spendenrekord aufwarten konnte: Hatte sie doch den Leuten bewiesen, und so stand es auch in den Zeitungen, dass sie, als Österreicher, gute Menschen sind.

5.22.2.3. Sternsinger

Seit Menschengedenken – das ist in der volkskundlichen Literatur gut belegt – haben sich in vielen Orten Süddeutschlands Erwachsene und später Kinder zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag verkleidet. Mit Tüchern, Turbanen, Kronen, Gold- und Silberlitzen haben sie sich zu morgenländischen Königen gemacht und sind mit einem Stern auf der Stange von Haus zu Haus gezogen. Einer von ihnen hat sich das Gesicht mit Ruß oder Schminke geschwärzt und den Mohren gegeben, und sie sahen dann so aus wie die Figuren in der Krippe. Dafür hat die Gruppe, wenn es Erwachsene waren, Schnaps, Speck und Geld, wenn es Kinder waren, Süßigkeiten, Gebäck, Orangen und manchmal auch etwas Geld bekommen. Die essbaren Sachen haben sie zusammen verspeist, das Geld in die Sparbüchse getan oder – die Großen – in der Wirtschaft gemeinsam vertrunken.

Dietz-Rüdiger Moser hat in seinen Untersuchungen zum Sternsingen in Heiligenblut gezeigt, dass dort zwei Gattungen von Sternsingern sorgsam getrennt nebeneinander existieren: Zum einen sind es „Rotten“ erwachsener Männer, die traditionaliter von Haus zu Haus gehen und Texte singen, für die Moser als Vorlage eine Regensburger Handschrift des 16. Jahrhunderts benennen konnte,[1747] und die nicht als Könige verkleidet, sondern mit einer Art Kotze, einem lodenen Umhang, angetan sind.[1748] Zum anderen, als die jüngere Gattung, gibt es die Schulkinder, die, als heilige Könige verkleidet, ihre Runde machen, für einen guten Zweck sammeln und das eingesammelte Geld beim Pfarrer, von dem sie ausgesandt wurden, abliefern.

Vor über dreißig Jahren hat die katholische Kirche dem Sternsingerbrauch im Rahmen des Päpstlichen Missionswerkes einen neuen Anstrich gegeben und damit seinen ungeahnten Aufschwung im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit eingeleitet. Sie hat dem Brauch nicht nur seine Wildheit genommen, ihn also „versittet“,[1749] sondern auch begonnen, ihn für neue, fromme Zwecke zu adaptieren. In Deutschland ist daraus inzwischen eine Art Staatsaktion geworden: Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt alljährlich eine Delegation der immer erfolgreicheren Sammler in seinen Amtssitz, bewirtet und belobt die Schülerinnen und Schüler und ihre Betreuer, und das Fernsehen berichtet jedes Jahr ausführlich über diesen Auftritt. In Österreich wie in Deutschland werden seitdem von den Pfarreien Sternsinger ausgeschickt, mit verplombten Sammelbüchsen und Ausweisen ausgerüstet machen sie ihre Runde. Das gesammelte Geld kommt Projekten in der Dritten Welt zugute: „Sternsingen ist [...] lebendiges Brauchtum mit aktueller Bedeutung“.[1750] Und die sammelnden Kinder, in Schulungsabenden sorgfältig vorbereitet und bei ihren Rundgängen von verantwortlichen Begleitern beaufsichtigt, werden natürlich auch in Österreich regelmäßig belobigt.

Niemand wird gegen diese Transformation des Brauches etwas einzuwenden haben. Aber diese Indienstnahme des Brauches durch die Kirche und die Zuordnung des Zweckes hat zu einer bemerkenswerten Neubewertung geführt. In kirchlichen Aussendungen konnte man lesen, dass das Sternsingen ohne Ausweis unmoralisch, gar illegal sei, dass jenen „wilden“ Sternsingern nicht nur nichts zu geben sei, sondern man sie auch anzeigen solle. Bereits in den 1960er-Jahren wurde vor ihnen in München in der Pfarrei St. Sebastian ausdrücklich gewarnt und den Gläubigen eingeschärft, sich an der Türe immer den von der Pfarrei ausgestellten Ausweis zeigen zu lassen. In Kiel wurde um 1970 vor „wilden“ Rummelpottsängern gewarnt, und in Würzburg hat 1996 das Dompfarramt Buben und Mädchen, die sich den Turban auf den Kopf gesetzt haben, als „falsche Sternsinger“ bezeichnet, weil sie ohne kirchlichen Auftrag gesungen und gesammelt hätten.[1751] Das „wilde“ Sternsingen wurde als Bettelei bezeichnet, die „richtigen“ Sternsinger seien die Schulkinder mit dem Ausweis des Pfarramtes und der verplombten Sammelbüchse. In Heiligenblut wird der „alte“ Sternsingerbrauch „heute als so altertümlich und kirchenfern empfunden“, dass sich – hier allerdings ohne Konflikte – „die beiden Sternsingertraditionen überlagern“.[1752]

5.22.2.4. Suppenessen

Manche Sammelbüchse, übermalt gewiss, gibt bis heute bei genauerem Hinsehen ihre Prägung aus den Zeiten der Gaueinteilung des „Winterhilfswerkes“ im Dritten Reich preis (wenn auch viele Hilfsorganisationen inzwischen neue Büchsen angeschafft haben und die alten NS-Sammelbüchsen auf Flohmärkten feilgeboten werden[1753]). Nun mag es sein, dass die Büchsen eben da waren und dass sie einfach zweckmäßig und praktisch sind. Mit dem Winterhilfswerk haben sie freilich eine Prägung im doppelten Sinne erhalten und rufen die Erinnerung an eine Sammelaktion jener Zeit, an die Eintopfsonntage, wach.

Eben diese nationalsozialistischen Eintopfsonntage ließ jüngst auch eine Meldung des bereits genannten „Kurier“ assoziieren, auf dessen Titelseite der eben zum Kardinal ernannte Christoph Schönborn und Bundespräsident Thomas Klestil zu sehen waren: „Fastensuppe für Kardinal und Klestil“.[1754] „Suppe essen – Schnitzel zahlen“, sei das Motto eines Fastenessens der Katholischen Frauenbewegung gewesen, bei dem sich „Prominente aus Kirche und Politik [...] an einer kargen Klostersuppe“ gelabt hätten. Mit etwas süffisanter Ironie merkt der Bericht an, dass der Verzicht aufs Schnitzel wohl nicht schwer gefallen sei, schließlich habe es Fischbeuschl-, Erbsen-, Rahm-, Rollgerstl- und Specksuppe, zubereitet von zwei Spitzenköchen, gegeben. „Der Gewinn aus dieser Benefizveranstaltung, rund 21.000,-- ö. S. (= 3.000 DM!), wird Frauen in Sri Lanka, Indien und Nicaragua zur Verfügung gestellt.“ Das Prinzip dieser kirchlichen Aktion und der ausgerufene Fastentag gleicht dem der Eintopfsonntage des nationalsozialistischen Staates. In einer nationalen Kommunion sollte damals an den ab 1933 abgehaltenen Eintopfsonntagen am gleichen Tag und zur gleichen Zeit das gleiche Mahl gemeinsam mit dem Führer eingenommen werden und der so ersparte Betrag den Sammlern des Winterhilfswerks mit ihren Listen übergeben werden.[1755]

Diese Praxis des Eintopfessens für die „Dritte Welt“ ist nicht nur in Kirchengemeinden viel geübt. Die Sammelbüchse und ihre NS-Geschichte geraten dabei bald in den Hintergrund. Die Professionalisierung des Sammelns bei den Aktionen der „Hilfe unterm guten Stern“ ist hoch entwickelt. Das Dreikönigsaktions-Referat bei der Katholischen Jungschar in der Diözesanleitung Wien hat ein dickes Papierpaket mit Presseinformation, Presseheft für die örtliche Pfarrarbeit, Aktionsplakaten, Sternsinger-News (Folder für die Sternsinger), Begleitpersonen-Info, Methoden für den Religionsunterricht zum Brauch und zum Thema Dritte Welt, Liedern und Sprüchen etc. zusammengestellt, in dem auch der Hinweis auf einen Erlagschein für die Überweisung nicht fehlt.

Nun sind die karitativen Organisationen seit Langem nicht die einzigen Sammler. Was auf eine so lange und ertragreiche Tradition zurückblicken kann, wird zum Vorbild und findet Nachfolge, wird aber auch zur Konkurrenz, die die Methoden und zum Teil auch den jahreszeitlichen Termin übernommen hat. Das moderne und hochprofessionelle Fundraising der Umwelt-, Tierschutz- und Rettungsorganisationen (Greenpeace, Global 2000, Vier-Pfoten, Arbeiter-Samariter-Bund etc.) nennen die Experten, die bisher, wie in den USA, vom „canvassing“ (also dem „Umherwandern“) sprachen, inzwischen auch in Anlehnung an das Sternsingermuster des Von-Tür-zu-Tür-Ziehens das „Drei-Königs-Prinzip“.[1756] Dieses Prinzip wird ergänzt durch das System der „direct-mail“, dem Versand von Bettelbriefen mit Zahlscheinen (Rücklauf um 5 %), und durch die Verbreitung von Zahlscheinen, die auch für die Fastenaktion den Massenblättern (kostenlos?) beigelegt werden, nachdem die Print- und TV-Medien vorgearbeitet haben.

Ziel dieses Prinzips ist es, per Erlagschein und Dauerauftrag eine feste Spenderklientel für sich zu gewinnen. Dass die Aussichten, dieses Ziel zu erreichen, und damit der gesellschaftliche Bedarf an gutem Gewissen mit der Advents- und Weihnachtszeit auch einen jahreszeitlichen Hintergrund haben, wissen Spendeneintreiber und Spender gleichermaßen. Die Emotionalisierung der Jahreszeiten und ihre neue Deutung und Bedeutung als zeitliche Folie für Rituale gehört zu unserer Moderne, die diese Rituale in ihrer ordnungsstiftenden Funktion nutzt – als Stützen eines Ordnungsgefüges, das sich die Menschen heute selbst herzustellen haben – oftmals, indem sie auf „traditional“ genannte, in ihrer Geschichtlichkeit Dauer und Verlässlichkeit verheißende Formen zurückgreifen.

Mit der skizzierten formalen Kontinuität der Eintopfsonntage konfrontiert, wird man fragen müssen, wie mit solchen historischen Mustern, wie man mit dem gleichen Schein des als prinzipiell andersartig (in unserem Fall als „gut“ und „humanitär“) Ausgewiesenen umzugehen ist. Gibt es eine Prägung oder gar eine Befleckung des Musters und seiner neuen Anwendungen durch seine (böse) Genese, seine (bösen) ehemaligen Nutzer und deren (böse) Zwecke? Ist es sinnvoll, an die NS-Tradition dieser Fundraising-Praxis zu erinnern, eine Tradition, die ihrerseits ebenfalls ihre Vorläufer hatte?

Signifikant eingegraben ins kulturellen Gedächtnis freilich hat sich die NS-Nutzung dieser Traditionsreihe: Immerhin haben bei Recherchen zum Eintopf vor etwa fünfzehn Jahren nicht wenige Befragte zu verstehen gegeben, sie könnten keinen Eintopf essen, weil seine NS-Vergangenheit ihnen den Geschmack verderbe. Doch andererseits bietet diese NS-Geschichte – wenngleich von vielen bereits vergessen – auch Deutungspotenzen für das Narrativ vom guten österreichischen Menschen: Bei – freilich unsystematischen – Befragungen in Österreich war immer wieder zu hören gewesen, man habe das Verweigern der NS-Eintöpfe als eine Art spezifisch österreichischen inneren Widerstandes praktiziert.

Historische Bräuche, ihre Muster und ihr Sachinventar können in der Moderne auf ganz verschiedene und oft widersprüchliche Weise genutzt und eingesetzt werden. Ihr ausdrückliches Zitieren ist oft Bestandteil einer Strategie, gegenwärtige Anliegen und Deutungen aus dem Fundus des Historischen und des ausdrücklich Eigenen zu stützen und so zu legitimieren. Dabei gibt es keinen Gebrauchsmusterschutz, aber auch keinen warnenden Hinweis.

So flottieren Bräuche und ihre Teile als Zitatenschatz für modernen Gebrauch. Ihre Transformation in die Moderne argumentiert mit einem Text, der auf diesen neuen Gebrauch zugespitzt wird, und sie ist immer ein selektiver Akt, der mit dem Versuch einhergeht, den Brauch „gut“ zu machen bzw. sein „Schlechtes“, „Wildes“ – das wäre etwa das Betteln[1757] – durch einen guten Zweck zu adeln. Die Jugendlichen geben das Geld nicht bei einem gemeinsamen Gelage aus, das dann wohl bei McDonald’s stattfände. Brauchträger sind auch nicht mehr die Armen, deren Recht zu sammeln als Teil einer „plebejischen Ökonomie“ gedeutet worden ist. Wo dies noch so wäre, wird dem Brauch meist der Garaus durch eben diese Transformation gemacht. Eine dieser Transformationen ist unser Respekt vor dem Historischen. Sie ordnet ihn, wie in Heiligenblut, in eine moderne Rechtmäßigkeit ein, nämlich in die von der Wissenschaft etablierte moderne Kategorie „Brauchtum“, und rettet ihn so.

Die Eingängigkeit des Eintopfmusters „Suppe essen – Schnitzel zahlen“ gibt sich als Erfindung unserer Zeit, als kreative, als gute Idee. Sie trennt ihr „Kindheitsmuster“ von sich ab, auch wenn etwa die Prägung auf der Sammelbüchse auf die frühere Nutzung weist. Doch: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Christa Wolfs Bemerkung bleibt trotz scheinbarer Kreativität der Akteure und bei aller Plausibilität des guten Zwecks zu bedenken.



[1732] Kurzfassung von Andrea Bleyer.

[1733] Erstveröffentlichung: [Köstlin 1999b].

[1737] [Harmjanz/Röhr 1937], Karte 37: Die Karte zeigt die Verbreitung um 1930.

[1738] [Kurier] (1997-12-23).

[1739] „Danke für den Artikel über den totalen Verlust des Christkinds. Kitsch regiert leider heute unser Warenangebot, und die teils wirklich häßlichen Weihnachtsmänner sind leichter für die unsinnigen Artikel zu verwenden als ein Christkind in der Krippe. Diese Dinge kommen meist aus den USA, und da wir ja auch so viele Anglizismen in unserer Sprache – neben hässlichen bundesdeutschen Wörtern – verwenden, so ist eben auch der Weihnachtsmann zu uns gekommen. Da aber heutzutage alles in Trendwellen verläuft, vielleicht könnten die Weihnachtsartikelhersteller für 1998 eine Wiedergeburt des Christkinds versuchen. Es war so zauberhaft! Dann die Engerln dazu, man sah als Kind das Christkindl mit dem Wunschbrieferl wegfliegen ... Also bitte, schenkt den Kindern wieder das Christkind.“ [Kurier] (1998-01-06), Leserbrief.

[1741] [Kurier] (1997-12-23).

[1742] [Kurier] (1998-03-13).

[1744] [Kurier] (1997-12-23).

[1751] [Süddeutsche Zeitung] (1996-01-05/06/07).

[1753] Eine Büchse mit der Prägung „Gau Wien“ kostet derzeit – so gesehen am Flohmarkt in Stockerau, März 1998 – kaum weniger als 600,-- ö. S.

[1754] [Kurier] (1998-03-05).

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