Das geistliche Spiel des Mittelalters hat bekanntermaßen vor allem im Süden des deutschsprachigen Raums charakteristische Ausformungen erhalten. Tirol, von Bozen, Sterzing bis Schwaz, belegt dies bis ins 16. Jahrhundert nachdrücklich. Die Zahl der Texte im übrigen heutigen Österreich nimmt sich dagegen bescheiden aus, außerdem fehlt eine entsprechende Gesamtdarstellung.[918] Die Forschung ist zwar in den letzten Jahrzehnten erheblich vorangekommen, jedoch ist gerade für das 15. und 16. Jahrhundert noch viel Grundlagenarbeit zu leisten. Denn auch für die relativ späten Texte bildet die Entwicklung des Spätmittelalters eine wesentliche Voraussetzung.[919]
Für das 16. Jahrhundert stoßen wir noch auf zusätzliche Probleme, die uns die Forschungsgeschichte erklärlich macht, nämlich die Aufsplitterung der Germanistik in die Mediävistik und die sogenannte Neuere Literaturwissenschaft. Und diese hat sich hauptsächlich um Fastnachspiele gekümmert, wobei die Initiativen zur Erschließung der sogenannten „Mittleren Literatur” erwähnt werden müssen.[920]
Ein anderer Forschungsansatz, der in meinem Zusammenhang interessant scheint, ist die Forschung der sogenannten literarischen Volkskunde, die oft recht kritisch beurteilt wurde, jedoch im Zusammenhang mit dem Spiel nicht außer Acht gelassen werden soll. Denn sie hat sich um die Spiele des 16. bis 19. Jahrhunderts gekümmert, die ohne die mittelalterliche Tradition nicht denkbar sind. Die Spiele hatten sich in viele Landesteile verbreitet und wurden immer wieder aufgeführt. Einige Traditionen reichen ja bis in unsere Tage.[921]
Die folgenden Ausführungen sind zweigeteilt. Zunächst möchte ich darstellen, wie die Elemente des Spiels in den geistlichen Liedern des Mönchs von Salzburg gut sichtbar sind, und dann möchte ich ein bisher wenig beachtetes Passionsspiel vorstellen, das in Salzburg nachweislich im 16. Jahrhundert aufgeführt worden ist.
Aus Salzburg ist kein mittelalterliches Spiel erhalten, dennoch ist es möglich, die Spuren der szenischen Darstellung des Ostergeschehens nachzuzeichnen, auch des Weihnachtsbrauchtums. Dies ist durch die breite und aufschlussreiche Überlieferung der Lieder des Mönchs von Salzburg möglich, der als prominenter Kleriker mit dem bis heute nicht auflösbaren Pseudonym natürlich die liturgische und außerliturgische Tradition gekannt hat (Hof des Erzbischofs Pilgrim II., reg. 1365–96).
Jedoch schon zweihundert Jahre vor diesem Dichter und Komponisten von europäischem Format finden wir in einem Ordinarium des Salzburger Doms aus der Zeit um 1160 (Universitätsbibliothek Salzburg, Hs. II 6) auf Bl. 67 r das deutsche Incipit „Christ ist erstanden von der marter alle” mit Neumen eingetragen. Es steht, im Zusammenhang mit lateinischen Aufführungsanweisungen für den Besuch der drei Frauen beim Grab. Dieser Text folgt übrigens auch am Ende der Übersetzung des Mönchs von Salzburg von „Victimae paschali laudes” (G 29). Der Text des „Christ ist erstanden” bestand ursprünglich nur aus einer vierzeiligen Strophe, die textliches und melodisches Material aus der genannten Sequenz benutzt. Wie Lipphardt zeigen konnte, wurde diese Strophe vor allem in lateinischen Osterfeiern (Visitatio Sepulchri) der Augustiner Chorherren geprägt. Da dies schon früh für die Passauer und Salzburger Diözese nachzuweisen ist, sei daran erinnert, dass die Salzburger Erzdiözese mit ihren vielen Suffraganen damals eine sehr fortschrittliche Liturgie gepflegt hat. Das Salzburger Domkloster war nach den regulierten Augustiner Chorherren organisiert, was gerade zur Feststellung Lipphardts gut passt. Dabei erstaunt ja nicht, dass Seckau und St. Lambrecht schon im 12. Jahrhundert Incipits bezeugen. Auch diese Klöster gehörten zur Kirchenprovinz Salzburg sowie auch Brixen. Ein Element der lateinischen Osterfeier mit einem deutschen Zitat ist also für Salzburg belegbar.[922]
Das große Liedcorpus des Mönchs von Salzburg von 49 geistlichen Liedern enthält eine Reihe von Hinweisen auf die Aufführungsform der Lieder und ihre Funktionen am Rande der Liturgie. Die bekannteste Szene ist jene des Kindelwiegens mit dem Lied „Josef, lieber neve mein”[923] auf die Melodie des „Resonet in laudibus” für Weihnachten. Auch da weisen die ersten Quellen nach Seckau.[924]
Zahlreiche Lieder des Autors sind dem Osterfestkreis gewidmet. Aus den Marienliedern ist G 16, die Übertragung der Sequenz „Stabat mater” zu nennen; das Lied G 17 „Sälig sei der selden zeit” zum Osterfest ist auf die Melodie des „Mundi renovatio” gedichtet.[925] Ich kann in diesem Zusammenhang nur drei Lieder (G 24, 29, 30) unten näher besprechen, die übrigen (G 23, 25, 26, 27, 28, 31), welche ebenfalls das Osterfest betreffen, können nur kurz charakterisiert werden. G 23 mit der Überschrift „Des Munichs passion” behandelt in neun Strophen, die zum Teil (III bis VIII) den Tagzeiten (Prim bis Complet) zugeordnet werden, das Leiden Christi. Die Melodie zu den 22- zeiligen Strophen (Kanzonen) stammt vom Mönch von Salzburg selbst („korweise”; Überschrift im Liederbuch der Clara Hätzlerin: „Die siben tagzeitt des Münichs von Saltzburg”).
Alle übrigen genannten Lieder zur Osterzeit sind auf Melodien von lateinischen Sequenzen gedichtet. G 25 ist eine Übertragung des „Crux fidelis”, welches gemäß der Handschriftenbemerkung in A (cgm. 715) zur Kreuzesverehrung gesungen wurde; G 26 überträgt unter der Überschrift „An dem osterabent so man das fewer weicht” die Sequenz „Inventor rutili”. Mit G 27 hat der Autor das „Rex, Christe, factor omnium” übertragen; mit G 28 das „Mundi renovatio”, welches schon im lateinischen Text die Natur angesichts der Osterfreude mit einbezieht; G 31 hat die freudige Sequenz „Salve, festa dies” zur Vorlage, wobei die Handschrift A darauf hinweist, dass das Lied zur Prozession um die Kirche gesungen wurde.[926]
Wie bekannt, enthalten zahlreiche geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg Hinweise auf die Gebrauchsfunktion am Rande der Liturgie, die ja bis zum II. Vatikanischen Konzil (1963–65) nur lateinisch rechtsgültig war. Auch für die in unserem Zusammenhang besonders interessanten Lieder G 24, 29 und 30 gilt dies. G 24 „Eia der grossen liebe” mit „Kyrieleison etc.” als Kehrreim und Strophenabschluss hat im Zusammenhang mit dem geistlichen Spiel schon besondere Beachtung gefunden. Das Lied beschreibt die Leiden Jesu und schließt mit der berühmten Strophe:
0 du falscher Judas,
was hast du getan,
das du unsern herren
also verraten hast!
darum so muest du leiden
hellische pein,
Luzifer geselle
muest du immer sein.
Kyrieleison,
Christeleison,
Kyrieleison,
Christeleison,
Kyrieleison.[927]
Zu diesem Lied hat Walther Lipphardt im Zusammenhang mit dem Osterspiel auch aufgrund neuer Handschriftenfunde zeigen können, „wie dieses Lied in jahrhundertelanger Entwicklung, die längst vor dem Mönch von Salzburg einsetzt, aus der Liturgie der Karwoche, vor allem aus dem Hymnus Rex Christe factor omnium (s. G 27) organisch entwickelt worden ist. Die mittelalterliche Entwicklung setzt sich nach der Reformation noch in evangelischen und katholischen Gesangbüchern fort.”[928] Deutsche und lateinische Texte sind in den Handschriften zusammen zu finden. Das heißt der Mönch von Salzburg hat eine bestehende Tradition aufgenommen und ausgebaut und die sogenannte Judasstrophe als Abschluss angefügt, die ja besonders gut zu den Spielen passt. Immer stärker wird im Spätmittelalter die Schuld des Judas betont, sodass etwa in einem Brevier des 15. Jahrhunderts (Universitätsbibliothek Salzburg Hs. III 134, 212r; s. Lipphardt, S. 15) zum Ende der „Finstermetten” nur mehr die Judasstrophe zitiert wird. Lipphardt geht nun in seinen Überlegungen aufgrund seiner reichen Erfahrung noch weiter und stellt fest: „Beim Vergleich der lateinischen mit der deutschen Strophe macht man eine auffällige Entdeckung. Während die deutschen Strophen einen wohlbekannten Strophenbau, die aus dem Nibelungenlied und dem Hildebrandslied bekannte epische Langzeile in vierfacher Setzung haben, macht die lateinische Strophe einen völlig ungeordneten Eindruck. Ich habe schon 1961 die Vermutung ausgesprochen, dass die lat. Strophe erst eine nachträgliche Latinisierung der deutschen Strophe ‚Gelobet seist du Christe, der du littest Not' war …”.[929] Deutsch und Latein waren also in diesem Bereich ebenso eng verbunden wie im geistlichen Spiel.
Das Lied G 29 (s. Anhang) ist deswegen hier erwähnenswert, weil es eine Übertragung des „Victimae paschali laudes” ist und am Ende das oben besprochene „Alleluia, Christ ist erstanden” überliefert. Dazu findet sich in Str. IV die Frage an Maria Magdalena „Sag uns an, Maria, was sachst du an dem wege da?” wie schon in der lateinischen Vorlage. Die wenigen Zeilen weisen auf die Auferstehung, welche dann in G 30 (s. Anhang) ausführlich geschildert wird. Das Lied des Mönchs von Salzburg setzt die Fragen an Maria Magdalena (lateinische Vorlage: „Surgit Christus cum trophaeo”) eigens ab: „Sag, Maria, dein gesichte, zu beschawen das krewz Christe!” Dann schildert sie jeweils Jesus am Kreuz (Str. IV u. VI) und das Leid der Mutter Jesu (VIII u. IX). Das Lied birgt hier offenbar aus älterer, lateinischer Tradition eine szenische Darstellung mit verteilten Rollen, wodurch das Leiden besonders drastisch dargestellt werden konnte. Das bedeutet für die Liedforschung, dass es neben der szenischen Darstellung des Leidens und der Auferstehung Jesu auch in den Liedtexten zu bestimmten liturgischen Feiern kleine szenische Darstellungen durch die Sänger gegeben haben muss, die sich in der genannten Überlieferung bis ins Spätmittelalter und in die frühe Neuzeit erhalten haben. Es gab also das „Spiel im Lied” und das „Lied im Spiel”, um es auf eine verkürzte Formel zu bringen.
Obwohl also für das ganze Mittelalter in Salzburg kein Spiel nachzuweisen ist, können wir doch anhand der geistlichen Lyrik des Mönchs von Salzburg aus dem 14. Jahrhundert feststellen, dass die besprochenen Szenen des Oster- und des Weihnachtsspiels bekannt waren. Der erste erhaltene Text eines Salzburger Spiels, nämlich des Passionsspiels „Christus patiens”, stammt erst aus dem 16. Jahrhundert. Dieses Spiel soll hier im gegebenen Rahmen kurz der Germanistik vorgestellt werden, weil es bisher nur in der literarischen Volkskunde Erwähnung gefunden hat. Eine eingehendere Untersuchung im Kontext anderer geistlicher Spiele muss einer eigenen Arbeit vorbehalten bleiben.
Nach einigen Erwähnungen hat Hans Klein den Text veröffentlicht.[930] Die Handschrift liegt im Salzburger Museum Carolino-Augusteum und trägt die Nr. 2382 (20,5 x 14 cm). Das Büchlein ist in Pergament gebunden wie die Ratsprotokolle von Salzburg aus den Jahren 1582 bis 1655; das Papier zeigt das Wasserzeichen (großes B, verziert) der Salzburger Bürgerspitalsraitungen von 1582 bis 1610. Vermutlich ist es eine Abschrift, doch zeigen die Zusätze und Hinweise für einen Spielleiter, dass wir es mit einer Art „Regiebuch” zu tun haben, das Spiel also in Salzburg aufgeführt wurde. Dazu gibt es Vermerke an den Aktschlüssen und am Ende (Seite 117–119) sogar eine Rollenliste mit den Namen der Spieler. Diese Salzburger Bürger müssen erst identifiziert werden. Ganz besonders interessant ist die Tabelle auf Seite 1 vor Beginn des Spiels (Seite 3), welche einige Rollengruppen zusammenstellt und mit den Buchstaben A bis G bezeichnet. Als Nachträge Seite 114 finden wir das Urteil des Pilatus, juristisch genau formuliert; Seite 115 die „NB” (Bemerkung): „An statt der 4 Knaben beym Göttlichen Rath sub nominibus Veritas, omnipotentia, Charitas und Innocentia seindt 4 Propheten sub nominibus Moyses, Esaias, Jeremias und Ezechiel gebraucht worden.” Die Seiten 120–125 (Ende der Handschrift) enthalten eine Texterweiterung zu Akt 1, Szene 4 (Heilung der Kranken).
Das Passionsspiel umfasst 2292 vierhebige Verse in Paarreimen, wobei einzelne Teile auch zweihebige Paarreime enthalten, zum Beispiel der Text der sechs Engel am Ende des Spiels. Die Gliederung des Spiels ist entgegen den mittelalterlichen Texten exakt mit fünf Akten zu je fünf bis sieben Szenen bezeichnet. Sowohl bezüglich des Versbaues als auch der Akteinteilung wurde auf Hans Sachs verwiesen, der ja 1558 auch ein Passionsspiel geschrieben hat („Der gantz passio”). (Ein Einfluss ist natürlich nicht nachzuweisen, doch war Hans Sachs in Salzburg bekannt und hat ja auch ein Gedicht auf Salzburg geschrieben.) Die strenge Gliederung in Akte und Szenen erinnert an das Humanistendrama, welches auch in Salzburg gepflegt wurde. Die Aufarbeitung dieser Texte ist eine Aufgabe, die erst angegangen werden muss.[931]
Den fünf Akten vorangestellt sind ein „Prologus” und ein „Praeludium”. Im „Prologus” kündigt ein nicht näher benannter Spielansager nach mittelalterlicher Tradition den Zuschauern das Spiel vom Leiden und Tod Jesu an. Neu ist die Gliederung in vier Teile gemäß den Abschnitten der Predigt: Praedicatio, Explicatio, Applicatio, Exhortatio. Am Anfang steht das Zitat „waß Isaias der Gross Prophet / am 53 Capitel redt” (Vers 3 –4). In diesem vierten Lied vom Gottesknecht (Is. 52, 13–53, 12) wird der Erlösungstod vorausgesagt; das ist die beliebte Predigtstelle mit dem Lamm, das man zur Schlachtbank führt und das alles erduldet. Das „Praeludium” bringt die Figuren Lucifer, Mundus und Mors auf die Bühne, die ihre jeweilige Macht preisen. Am Rand der Handschrift lesen wir: „Schwarzer Töpich”. Sie werden also feierlich vorgestellt, wobei Lucifer in Mundus einen Helfer, in Mors einen Gegenspieler hat. Lucifer trachtet aus Neid nach dem Fall der Menschen.
Der Akt I mit seinen fünf Szenen beginnt mit einer Disputation im Himmel (Szenen 1–3=I/1–3) zwischen Deus, Michael, Omnipotentia, Innocentia, Veritas und Caritas. Wie öfter, mischen sich biblische und allegorische Figuren, wobei Gott Vater den Anfang macht, der kurz die Verführung des Menschen im Paradies als Grund für das menschliche Elend auf dieser Welt schildert.
Dazwischen tritt in I/2 kurz Adam auf, der sein Los beklagt und Gott an die versprochene Hilfe erinnert. Die Disputation geht sozusagen weiter, indem in Szene 5 (I/4) Jesus selbst auftritt und einerseits seine göttliche Natur bestätigt, andererseits die Welt beklagt. Seine Gesprächspartner sind Jacobus und Johannes der Täufer. (In diese Szene können die Verse über die Heilung der Kranken durch Jesus eingefügt werden, die am Ende der Handschrift stehen. Sie bekräftigen, dass Jesus als Sohn Gottes Wunder wirken kann.) Erst mit Szene 4 (I/5) beginnt die eigentliche Passion, indem Jesus die Jünger Petrus, Jacobus, Johannes beauftragt, das Paschamahl vorzubereiten. Am Ende der Szene spricht Judas allein, enttäuscht, dass er nicht wie sonst einkaufen gehen darf. Er hat kein Geld und würde sogar seinen Herrn verkaufen. Erst jetzt beginnt die Passion Jesu.
Auch der Akt II geht in dieser Spannung zwischen der Darstellung des biblischen Geschehens und dem Einbau nichtbiblischer Personen und Handlungen weiter. So hat Nikodemus ein schlechtes Gewissen, dass er sich gegenüber Annas nicht deklariert (II/1); Maria will Jesus davon abhalten, nach Jerusalem zu ziehen (II/2); Pilatus wird als vorsichtiger Mann eingeführt und ist so wie in der Bibel der Gegenpol zu den Juden (II/3). In der Mitte des Akts (II/4) tritt Rabsaces auf, ein Teufel in der Maske eines Schriftgelehrten, der alle Juden aufhetzt und damit an die Teufelfiguren von I anschließt. Am Ende des Akts wird Judas für den Verrat gewonnen. Der Teufel Rabsaces ist zufrieden, wieder jemanden für die Hölle zu haben (II/6).
Am Beginn des Akts III stellt die Angst Jesu auf dem Ölberg; Petrus, Johannes und Jacobus sind dabei. Wie in der Bibel schlafen sie ein, Jesus sagt den Verrat des Petrus voraus. In III/2 bringt ein Engel (Angelus Consolans) die Botschaft des Gottvaters, dass Jesus den Tod für uns Sünder erleiden maß. Dann nehmen die Soldaten Jesus gefangen, Petrus verleugnet ihn. Es folgt eine Szene mit Engeln (III/5), in der diese die Gottesmutter trösten. Jesus wird vor Annas und Caiphas geführt. Am Ende des Akts (III/7) beklagt Judas vor Annas seine Tat, der Chor klagt „Judas mercator pessimus”.
Im Akt IV geht das biblische Geschehen mit der Anklage Jesu vor Pilatus weiter, wobei in Szene 4 noch einmal die Figur des Judas dargestellt wird, wie ihm die Teufel (Rabsaces und seine Genossen Maphi und Pluto) helfen, sich zu erhängen und seiner spotten. Nach der Geißelung und der drastisch geschilderten Verspottung durch die Soldaten spricht Pilatus am Ende des Akts (IV/5) das Todesurteil, obwohl er von der Unschuld Jesu überzeugt ist. Der Urteilsspruch in juristisch gefeilter Sprache ist am Ende des Spiels nachgetragen.
Akt V setzt mit der Klage der Mutter Jesu (zu Johannes und Maria Magdalena) über die Marter ein. Johannes und Maria Magdalena fragen nach den Jüngern, die sich verlaufen haben. Nun folgen der Kreuzweg (V/2), bei dem besonders die spottenden Soldaten dramatisch effektvolle Rollen spielen, die Kreuzigung (V/3) und die sieben Worte Jesu am Kreuz (V/4). In V/5 tragen Joseph und Nicodemus den Leichnam Jesu unter der Klage Mariae weg. Den Schluss des Spiels bildet Szene V/6 mit den „Sex Angeli cum armis Christi” (Kreuz, Geißeln, Dornenkrone, Nägel und Hammer, Lanze und Schwamm, Schweißtuch), die in lyrischen Kurzversen den Gekreuzigten besingen.
In diesem Salzburger Passionsspiel aus dem 16. Jahrhundert vereinigen sich, wie schon angedeutet, mehrere literarische Traditionen, wobei erst genauere Untersuchungen folgen müssen. Die Elemente der mittelalterlichen Passionsspiele werden erweitert, wie dies auch in ähnlichen Spielen der Zeit geschieht. Ich erinnere nur an das von Polheim herausgegebene Admonter Passionsspiel.[932] Die Scharen der Juden und der Folterknechte finden eine besondere Ausweitung, ferner treten allegorische Figuren auf und Engel, die zum Teil traktatartig das Leiden kommentieren. Letzteres bedingt gelehrte Kleriker als Verfasser oder Mitverfasser, durch die auch die Tradition des humanistischen Schuldramas in fünf Akten eingeführt wird, innerhalb derer auch die Szenen genau beziffert werden. Viele Anmerkungen und Hinweise in der Handschrift verweisen auf die Aufführung des Textes. Genau in der Mitte des Spiels im dritten Akt finden wir den Höhepunkt mit der Gefangennahme Jesu, wobei auch hier in der dritten Szene lyrische Klagen der Engel eingefügt sind wie auch am Ende des Spiels. Ganz besonders interessant ist, dass Gott Vater selbst im ersten Akt mit Erzengel Michael und allegorischen Figuren auftritt und dass Jesus selbst (nach dem Auftritt Adams) das Geschehen kommentiert. Das Mysterienspiel, wie später der „Jedermann”, weitet dies aus.
Dieses Spiel steht nicht allein in Salzburg, was die Germanistik noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Wir kennen die sogenannte Saalfeldener Passion, deren Handschrift leider verloren ist (18. Jahrhundert), das Pinzgauer Passionsspiel aus dem 19. Jahrhundert, die Loferer Passion aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, deren Lied (Loverleed) Cesar Bresgen wiederentdeckt und wiederbelebt hat.[933] Dieses Spiel steht nicht allein in Salzburg, was die Germanistik noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Wir kennen die sogenannte Saalfeldener Passion, deren Handschrift leider verloren ist (18. Jahrhundert), das Pinzgauer Passionsspiel aus dem 19. Jahrhundert, die Loferer Passion aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, deren Lied (Loverleed) Cesar Bresgen wiederentdeckt und wiederbelebt hat. 17 Dazu gibt es eine Handschrift aus dem 17. Jahrhundert in Salzburg mit dem Titel „Komedi-Buch über die Vorstellung des bitteren Leyden, und Sterben, unsers Herren Jesus Christus”, die über dem Titel den Eintrag „Abraham a Santa Clara” trägt. Dies muss erst aufgearbeitet werden, zeigt aber, dass das Passionsspiel im 16./17. Jahrhundert auch in Salzburg eine Blüte erlebt hat.
Hier werden zwei in diesem Zusammenhang besonders wichtige Lieder des Mönchs von Salzburg, G 29 und 30, abgedruckt, und zwar nach meiner Ausgabe: Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Berlin 1972. Alle Anmerkungen zu den Liedern, die Lesarten und auch die Ausführungen zum Autor und zur Überlieferung sind dort nachzulesen.
Victimae paschali Laudes
Zu Ostern die sequenzen
Victime pascaliI Sig und säld ist zu bedewten
uns hie, den christenlewten.
1. Victimae paschali laudes
immolent christinai.
II Das lamb die scheffel erlost hat,
Christus seinem vater drat
versüent, die da waren
in missetat.
2. Agnus redemit oves,
Christus innocens patri
reconciliavit
peccatores.
III Der tod und auch das leben
heten wunderbares streben,
der fürst der do starb, reicht
lebentig eben.
3. Mors et vita duello
conflixere mirando;
dux vitae mortuus
reganat vivus.
IV Sag uns an, Maria:
was sachst du an dem wege da?
‚das grab Christi des lebentigen
und die urstent des urstentigen,
4. Dic nobis, Maria,
quid vidisti in via?
‚Sepulcrum Christi viventis
et gloriam vidi resurgentis;
V englische zeugenuß zehant,
das swaistuech und das gewant.
Christus, mein hofnung, ist erstanden
und den seinen gein Galilea füergangen.'
5. Angelicos testes,
sudarium et vestes.
Surrexit Christus, spes mea;
praecedet suos in Galilaea.'
VI Zu glauben ist vil mer
allain Marie der wahrhaften
dann der falschen juden schar
untrew und lugenhaften.
6. Credendum est magis soli
Mariae veraci,
quam Judaeorum
turbae fallaci.
VII Wir wissen warleich, das Jesus Christ
von dem Tod erstanden ist;
du uns, überwinder,
könig, erparmend pist.
7. Scimus Christum surrexisse
ex mortuis vere;
tu nobis, victor
rex, Miserere.
Alleluia, Christ ist erstanden.
An. h. 54, S. 12–14. Siehe auch W. a. d. Fünten S. 181. Die Hs. Fehlt bei W. Lipphardt: „Christ ist erstanden”, JLH 5 (1960), S. 96–114. 3 scheffel Akk. Pl. mhd. Schaefel stn. ‚Schäflein'. 4 Zur Konjektur s. lat. patri. 9 Zur Konjektur s. lat. mortuus. reichen ‚regieren', 3. Sg. Präs., s. dazu regnat. 11 Maria = Maria Magdalena, s. auch G 30.
Surgit Christus cum trophaeo
Surgit Christus cum tropheo zu Ostern,
darinn Magdalena gevragt wirt menigerlaiI Christus erstuend mit siges van,
do wart aus lamb ein leb getan
mit hochzeitleicher sigeskraft.
den tot er stört mit seines todes art
und slows auf uns der helle port
mit seines todes genadenschaft.
1. Surgit Chistus cum trophaeo
Iam ex agno factus leo
Sollemni victoria.
2. Mortem vicit sua morte,
Reseravit seras portae
Suae mortis gratia.
II Hie ist das lamb, das da hieng plos,
an dem krewz es do erlost
alle hert seiner scheffelein. dem
do nie-/mand het mitleiden
Magdalena tet da beleiben
in inprünstiger herzenpein.
3. Hic est agnus, qui pendebat
Et in cruce redimebat
Totum gregem ovium;
4. Cui cum nullus condolobat,
Magdalenam consumebat
Doloris incendium.
III Sag, Maria, dein gesichte,
zu beschawen das krewz Christe!
IV ‚Ich sach Jesum gar enplecket
und an das krewz sere gestrecket
mit sunder hende aribait.
sein haupt was mit dorn bekrönet,
sein anplikch mit spürz behönet
und gar voller serikait.'
5. Dic, Maria, quid vidisti
Contemplando
crucem Christi?
‚Vidi Iesum spoliari
Et in curce sublevari
Peccatorum manibus.'
6. Dic, Maria, quid vidisti
Contemplando
crucem Christi?
‚Spinis caput coronatum,
Vultum sputis maculatum
Et plenum livoribus.'
V Sag, Maria, dein gesichte,
ze beschwawen das kreuz Christe!
VI ‚Mit nageln seine hend gepunden,
in sein seiten mit sper ein wunden,
lebentigs wasser daraus gie.
er enphalich sich dem vater sein
und naigt das hawpt in jamers pein.
und sein geist er do auflie.'
7. Dic, Maria, quid vidisti
Contemplando
Crucem Christi?
‚Clavis manus
perforare
Hasta latus vulnerare,
Vivi fontis exitum.'
8. Dic, Maria, quid vidisti
Contemplando
crucem Christi?
‚Quod se patri
commendavit
Et quod caput inclinavit
Et emisit spiritum.'
VII Sag, Maria, was du da tet,
do du Jesum verloren het!
VIII ‚Die mueter waint, füegt ich mit mir her,
die ich haim füert mit beger,
auf das erdreich strakt ich mich ser,
umb creaturn laid waint ich mer,
darnach salben berait ich,
zu dem grab kam ich snelliklich,
nit vand ich der do lieb het mich,
mein klage die zwifeltigt sich.'
11. Dic, Maria, quid fecisti,
Postquam Iesum amisisti?
‚Matrem flentem sociavi,
Quam ad domum reportavi
Et in terram me prostravi
Et utrumque deploravi.'
12. Dic, Maria, quid fecisti,
Postquam Iesum amisisti?
‚Post unguenta praeparavi
Et sepulcrum visitavi;
Non inveni, quem amavi,
Planctus meos duplicavi.'
IX O Maria, wain nicht mere,
wann erstanden ist Christ, der here.
‚Petre, mit vil weiben behende
sach ich zaichen der urstende.'
13. O Maria, noli flere;
Iam surrexit Christus vere.
14. ‚Certe, multis argumentis
Vidi signa resurgentis.'
X Sag, Maria, was sachst du an dem wege,
da Christ ist erstanden?
15. Dic nobis, Maria,
Quid vidisti in via?
An. h. 54, S. 364–368 (364: Str. 1–4, S. 366: Str. 5 ff.). Die Sequenz, ein Dialog mit Maria Magdalena, ist eigentlich ein Einschub (Tropierung) zwischen Str. 3 und 4 der Ostersequenz „Victimae paschali laudes”, die der Mönch ebenfalls übertragen hat (G 29). „Der Vortrag fand vielfach ... in einem dramatischen Dialoge statt.” (An. h. 54, S. 368). Dieser Form hat der Mönch besonders dadurch Rechnung getragen, dass die Fragen Sag Maria usw. außerhalb des Strophenbandes stehen. Die Str. III. V. VII entsprechen jeweils den Fragen der lat. Str. 5/6. 7/8. 11/12. Die lat. Str. 9 und 10 fehlen in zahlreichen lat. Hss. und sind auch vom Mönch nicht übertragen worden. Die Funktion der Sequenz als Einschub bedingt Str. X (lat. 15) als Schluss; diese entspricht der Str. IV (lat. 4) von G 29. – Konjekturen (jeweils gut belegt): Str. 4: Magdalenam] Matrem eius (dies spätere Umarbeitung). Str. 7: Clavis] Clavos. Hasta] Hastam (s. dt. Text). – Zum Lied noch W. a. d. Fünten S. 167ff.
A 85 r (Mel.). Überschr.: Surgit Christus cum tropheo dy sequenczen singt man an den freytagen darinn Maria Magdalena meniger mal von den czwelfpoten vnd den vrawen gefragt wirt was sy gesehen hab pey dem krëwez von vnnsers lieben herren leiden vnd pey dem Grab vnd an dem wege A 3 r (Reg.).
[917] Erstveröffentlicht in: [Spechtler 1994]. Dem Originaltext wurden Zwischenüberschriften eingefügt.
[918] Ich verweise besonders auf die letzten Artikel im Verfasserlexikon [Ruh 1978], Verweise auf alle Passionsspiele Sp. 352. Im weiteren gebe ich nur die für diesen Beitrag einschlägige Literatur an (...). Die Vortragsform wurde nur leicht bearbeitet und durch die Texte (Anhang) und die Anmerkungen ergänzt.
[919] Auch das neueste Sammelwerk zur österreichischen Literatur erfasst nur einen Teil der Spiele: [Zeman/Knapp 1986]; [Janota 1986]; [Neumann 1986]; [BauerWM 1986].
[920] Die Forschung arbeitet also sozusagen auf drei Ebenen, was das Drama/Theater des Mittelalters und der früh Neuzeit betrifft; das ist von großem Nachteil. Für die Liedforschung vgl. den Versuch einer übergreifenden Forschung: [Spechtler 1984]. Vgl. auch: [Daphnis] und die übergreifenden Ansätze von [Kuhn 1980].
[921] [SchmidtL 1962], zu Salzburg S. 310–320. Ein richtungsweisendes Beispiel der neueren Forschung: [Polheim 1972]; dazu jetzt [Polheim 1992] mit umfassender Aufarbeitung der Quellen.
[922] [Lipphardt 1978b], Sp. 1197–1201 (mit weiterer Lit.). [Reiffenstein 1983], zum „Christ ist erstanden”, S. 1101.
[923] Vgl. [Spechtler 2002].
[924] [Spechtler 1976], (zum Weihnachtsspiel und zum „Josef, lieber neve mein”). Vgl. auch [Lipphardt 1974].
[925] Liedernummern nach der Ausgabe: [Spechtler 1972]; dort auch alle näheren Angaben zum Autor und zur Überlieferung. [Wachinger 1987], Sp. 658–670. [Wachinger 1989]. [Spechtler/Korth 1980]; (Josef, lieber neve mein, S. 142–143; Übertragung des „Mundi renovatio”: „Aller werlde gelegenhait”, S. 144–146.).
[926] Grundlegend [Janota 1968]; [Spechtler 1980]; [Spechtler 1988]; [BärnthalerG 1983].
[927] Den Liedtext siehe in meiner Ausgabe [Spechtler 1972], S. 232–242.
[928] [Lipphardt 1978a], S. 12.
[929] [Lipphardt 1978a], S. 19.
[930] [KleinH 1969].
[931] Vgl. [Zelewitz 1979].
[932] Siehe [Polheim 1972].