Im September 1996 lud die österreichische Bischofskonferenz zu einer Tagung in Mariazell, in deren Rahmen Zukunftsperspektiven innerhalb der katholischen Kirche Österreichs diskutiert werden sollten. Der Aufruf zu diesem Gedankenaustausch stand unter dem Motto einer „Wallfahrt der Vielfalt” im Sinne der Bereitschaft zu einem Öffnungsversuch und -angebot für alternative und pluralistische Denkansätze. Die „Wallfahrt der Vielfalt”, in erster Linie gemeint als Metapher für ein pluralistisches Denken innerhalb der katholischen Kirche, verweist gleichzeitig auch auf einen Umgang mit dem Begriff „Wallfahrt”, der eindeutige Definitionen kaum mehr zulässt – nicht einmal vonseiten der Kirche. Eine Veranstaltung, die ihrem Charakter nach keineswegs an einen sakralen Ort gebunden ist, wird durch die Wahl des Veranstaltungsortes, nämlich Mariazell als berühmtestem Wallfahrtsort des Landes, zur „Wallfahrt” stilisiert.
Im Juni 1994 fand in Österreich die Abstimmung über den Beitritt zur EU statt. Die sozialdemokratische Politikerin Brigitte Ederer war damals als Staatssekretärin für EU- Angelegenheiten zuständig. Sie versprach eine Fußwallfahrt von Wien nach Mariazell (entlang des traditionellen Pilgerweges), sollten mehr als 51,5 % der Abstimmungsberechtigten für einen Beitritt stimmen. Bekanntlich waren es mehr als 66 %. So brach die Staatssekretärin am 8. Juli 1994 zur versprochenen Wallfahrt auf, begleitet von zahlreichen Presse-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattern. Offensichtlich handelte es sich hier um ein Ereignis, das mit der landläufigen Auffassung von sozialdemokratischer und katholischer Weltanschauung nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen war. Es hätten sich eben alle getäuscht, die gedacht hätten, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge als eine sozialdemokratische Politikerin nach Mariazell – so lautete der Kommentar im „Standard”.[1198] Eine weitere Tageszeitung weigerte sich schlicht, in diesem Zusammenhang von Wallfahrt zu sprechen. Ederer hätte allenfalls eine Wette eingelöst mit ihrer „Fußwanderung” nach Mariazell, keinesfalls ein Wallfahrtsversprechen.[1199] Und doch: die formalen Rahmenbedingungen für eine traditionelle Wallfahrt schienen erfüllt – das Versprechen und seine Einlösung durch eine Fußwanderung nach Mariazell verbunden mit dem Besuch der Kirche. Ihr darüber hinaus mangelnde innere Einstellung oder gar die mediengerechte Inszenierung vorzuwerfen, würde bedeuten, auch andere Wallfahrten als solche in Frage zu stellen bzw. anderen WallfahrerInnen eine dem Idealgedanken entsprechende, weitestgehend religiöse Motivation zu unterstellen.
Diese beiden Beispiele zeigen deutlich ein Problem im gegenwärtigen Umgang mit dem Begriff Wallfahrt. Doch nicht nur die Kirche verleiht dem Begriff Wallfahrt eine veränderte Qualität. Im Alltagsdiskurs sind wir längst gewohnt, die Bezeichnungen „Pilgern” und „Wallfahren” im profanen Kontext wahrzunehmen. Man denke an die Rituale im Zusammenhang mit dem Besuch der Grabstätte von Elvis Presley in Memphis (USA); insbesondere aber an den Tod „Lady Di´s” und an ihr Grab in Althorp (GB) „Althorp – Grab von Diana wurde zur Wallfahrtsstätte”, heißt es in einer Tageszeitung.[1200] Menschen „pilgern in Scharen” zu einem beliebigen Punkt, der sich ohne weiteres als In-Lokal entpuppen kann, das zum „Wallfahrtsort” stilisiert wird.
Das regionale ORF-Programm veranstaltet regelmäßig so genannte „Gemeindespiele”, wobei jeweils zwei steirische Gemeinden im Wettkampf aufeinandertreffen. Als ein Journalist dem bevorstehenden Treffen zwischen Weiz und Pinggau in einer „Energiegeladene Wallfahrt von Weiz ins Wechselland”:[1201] In Pinggau (im steirischen was offenbar ausreichte, um im Zusammenhang mit einer Fahrt zu einem spielerischen Wettstreit von „Wallfahrt” zu sprechen bzw. zu schreiben. Diese Beispiele ließen sich beliebig verlängern. Es stellt sich die Frage, ob wir „Wallfahrt” als wissenschaftlichen Terminus überhaupt noch ausschließlich für ein religiös oder zumindest überwiegend religiös bestimmtes Handlungsmuster verwenden können. „Könnten Wallfahrten im extremen Fall überhaupt nicht mehr religiös sein?[1202] , fragte Iso Baumer vor mehr als 20 Jahren, um die Frage anschließend negativ zu beantworten. Welche sichtbaren symbolischen Handlungen sind erforderlich (wenn sie überhaupt noch erforderlich sind), um von Wallfahrt zu sprechen? Die „Wallfahrt der Vielfalt” und die „Wanderung” Brigitte Ederers deuten es an: Einerseits verweigern kirchliche Kreise der bloßen Erfüllung formaler Kriterien die Anerkennung als Wallfahrt, andererseits ist dann aber die Frage ebenso berechtigt, ob eine religiöse Grundhaltung in Verbindung mit einem konkreten Anlass genügen kann, um ohne spezifische Wallfahrtsrituale diese Anerkennung auszusprechen.
1994 fand unter der Leitung von Helmut Eberhart eine Untersuchung statt, in deren Rahmen 87 Pilger befragt wurden. Weitere Studien zum Thema Wallfahrt wurden 1996/97 und 1997/98 durchgeführt.[1203] Zumindest einige Trends zum gegenwärtigen Wallfahrtsgeschehen lassen sich aufzeigen. Deutlich erkennbar ist z. B. die Verschiebung der Wallfahrtsmotivation. Vor dem Hintergrund des verbalen Einsatzes der Amtskirche für den Weltfrieden wird die Bitte für den Frieden in der Welt zum „Motiv- Topos”. Innerhalb der Gruppenwallfahrer drängt sich zudem ein neues Motiv in den Vordergrund: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach der temporären Geborgenheit in der Gruppe, die Spiritualität offenbar besonders intensiv erleben lässt. Mit dem Hinweis auf dieses besonders intensive spirituelle Erlebnis in der Gruppe sind überhaupt die zwei zentralen Antriebskräfte für rezentes Wallfahren angesprochen: Gemeinschaft und spirituelles Erlebnis.
„Die religiöse Erfahrung war eingebunden in die Körper- und Naturerfahrung, das Eigentliche ist mehr nebenbei geschehen, weniger im Nachdenken als im Nicht-Nachdenken, im Loslassen.”[1204]
„Ein Kirchenbild, das mir immer wichtiger wird, als das Bild einer Gemeinschaft, wo sich einer auf den anderen verlassen kann”[1205]
„Ich will jetzt auch für meine Seele und für die Seele anderer was machen. Und das ist doch das Schöne, ich meine der Grund, warum geht man denn eigentlich wallfahren? Das ist die Gemeinschaft, die Besinnung und die Öffnung.”[1206]
Interview mit einer Lourdes-Wallfahrerin im Mai 2002.[1207]
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang Mariazell herauszugreifen und anhand einiger Indikatoren einer näheren Betrachtung zu unterziehen. An dieser bedeutenden Gnadenstätte lassen sich die angesprochenen Veränderungen am besten diskutieren; darüber hinaus wird dabei gegenwärtiges Wallfahren als typisches kulturelles Muster unserer postmodernen Gesellschaft mit ihrem Hang zur Musealisierung der Kultur sichtbar.
Zunächst sei ein Blick auf die spezifischen Rahmenbedingungen von Mariazell erlaubt. Heidemarie Osterberger[1208] 11 hat sich 1993 in einer Diplomarbeit mit der Entwicklung der Pilgerzahlen befasst und dabei festgestellt, dass um 1950 eine Zahl erreicht war, die bis etwa Mitte der 70er Jahre einigermaßen stabil blieb (eine Ausnahme war die 800-Jahr-Feier von Mariazell 1957). Die Schätzungen bewegen sich auf der Basis der ausgegebenen Hostien ungefähr zwischen 250.000 und 280.000.[1209] Ab Mitte der 70er Jahre ist ein leichtes Ansteigen der Pilger zu registrieren, die Zahl der ausgegebenen Hostien liegt bis Ende der 80er Jahre bei ungefähr 280.000, in einzelnen Jahren steigt die Zahl auf etwa 300.000, in anderen Jahren geht die Zahl deutlich unter 280.000 zurück. Wenn man diese Zahlen mit den Verkehrsschätzungen der Polizei in Beziehung setzt, kommt man auf eine Zahl von etwa 500.000 bis 600.000 Pilger bzw. Besucher.[1210]
Das leichte Ansteigen der Pilgerzahlen ab 1975 ist sicher mit dem ab dieser Zeit zu beobachtenden allgemeinem Trend zur Spiritualität in Zusammenhang zu sehen, den Iso Baumer 1978 noch mit einem vorsichtigen Hinweis konstatiert: Er spricht von Wallfahrt als einer Frömmigkeitsform, „die auch in jüngster Zeit noch (oder wieder?) Anklang findet.[1211] Die „große Wende” 1989 brachte auch für Mariazell einen bedeutenden quantitativen und qualitativen Einschnitt: Mariazell galt seit dem Barock als „Magna Mater Austriae”, war aber schon im Spätmittelalter ein von den Habsburgern stark gefördertes Pilgerzentrum. Dementsprechend finden wir in frühen Aufzeichnungen Hinweise darauf, dass bereits um 1500 Wallfahrer aus Österreich (gemeint ist das Kernland im Donaugebiet), Böhmen, Mähren, Polen, Ungarn, Italien, Schweiz, Frankreich, Bayern, Preußen, Schlesien, Steiermark, Kärnten, Krain und Kroatien nach Mariazell pilgerten.[1212] Der Umbruch Europas im Jahre 1989 ermöglichte nun den Menschen aus Osteuropa erneut den Besuch der Magna Mater. Und sieht man von Frankreich und der Schweiz ab, kommt heute die weitaus größte Zahl der Pilger wieder aus jenen Ländern, die wir bereits um 1500 als die wichtigsten Zuzugsländer registriert haben.
Die Ostöffnung erlaubte das Wiederaufgreifen der traditionellen Wallfahrten der Ungarn, Tschechen und Slowaken, was besonders seit 1990 zu Veränderungen in Mariazell geführt hat. Quantitativ ist dies zunächst nur im Jahr 1990 zu bemerken, als die Zahl der ausgegebenen Hostien sprunghaft auf fast 350.000 anstieg, um sich bereits 1991 wieder dem üblichen Niveau, d. h. zwischen 270.000 und 280.000, anzugleichen.[1213] 16 Die Situation im Jahr 1990 glich wohl einem Dampfkochtopf, dessen Ventil nach langer Zeit größten Drucks geöffnet wurde; so strömten die Menschen aus dem Osten nach Mariazell, um für neue und ungewohnte Freiheiten zu danken. Interessant ist die Beobachtung, dass die Zahl der österreichischen Pilger im Jahr 1990 merklich zurückging,[1214] um ab 1991 wieder anzusteigen, als die Zahl der Pilger aus dem Osten wieder zurückging. Hier kann nur hypothetisch argumentiert werden, dass es sich dabei um die Entscheidung österreichischer Pilger gehandelt hat, dem großen Rummel in Mariazell fernzubleiben. Ein geringer werdender Anteil der Österreicher am Wallfahrtsgeschehen ist aber generell zu bemerken. Lag ihr Anteil an der Gesamtzahl der Pilger 1980 noch bei über 90 %, sank die Zahl bis 1990 auf etwa 35 %, um sich danach bei etwa 50 % einzupendeln.[1215]
Auswirkungen hatte die Ostöffnung auch auf die Wirtschaft des Marktes. Noch 1990 hatten die Devotionalienhändler in Mariazell über Umsatzeinbußen geklagt, da die Pilger aus Tschechien, Polen und Ungarn ihr weniges Geld in den Kaufhäusern ließen, um dort als Symbole freier Marktwirtschaft Kaffee und Bananen zu kaufen.[1216] Jene Bananen, die als Kennzeichen für Mangelwirtschaft und Konsumbedürfnisse des ehemaligen Ostens galten und die uns Gottfried Korff als Metapher zur Kennzeichnung kultureller Differenzen zwischen Ost und West erkennen ließ.[1217] Erst ab 1992 nahm die Kaufkraft insbesondere der Besucher aus Ungarn zu und sie begannen in bescheidenem Umfang auch Wallfahrtsandenken zu kaufen.[1218]
Die sowohl quantitativ wie qualitativ spürbaren Veränderungen in Mariazell lassen aber noch nicht auf die Qualität eines Paradigmenwechsels schließen. Die Suche nach weiteren Indikatoren der Veränderung führt uns in den Bereich des Devotionalienhandels. Der Bedarf an diesen Objekten der Frömmigkeit scheint nach wie vor ungetrübt. Allerdings hört man mehrfach Kritik am „Kitsch” und „Plunder”, der an den Ständen angeboten wird. So ambivalent wie die Käuferreaktionen sind auch die Reaktionen der Händler. Im Rahmen der Untersuchung (1994) wurde ein repräsentativer Querschnitt der Händler befragt. Das Ergebnis verkürzt auf den Punkt gebracht: den Kitsch verkaufen höchstens die anderen. Selbst steht „man” noch in der Tradition der typischen Wallfahrtssouvenirs: Kerzen, Häferl, Gläser, Andachtsbilder, Heiligenbilder und -statuen sowie Ansichtskarten stehen für den charakteristischen Eindruck eines Devotionalienstandes. Bei den Devotionalien wird nur mehr bedingt auf traditionelle handwerkliche Fertigung der Produkte Wert gelegt. Technischer Fortschritt in der Produktion und die Technisierung der Produkte sind durchaus willkommen: Die Madonnenstatue trägt einen Strahlenkranz mit elektrischen Lampen; auf Knopfdruck leuchten uns aus einem Marienbild Herz und Heiligenschein entgegen.
Die Verbindung von Technik und Tradition wird auch in der Kirche sichtbar. Die Emporen mit den Votivbildern zeigen die Entwicklung deutlich. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnt in Mariazell der Wandel vom gemalten Votivbild hin zur Nutzung der technischen Möglichkeiten wie Druckgraphik, Fotografie, Marmortafel und Collage. Die Spenden der letzten 20 – 30 Jahre decken nun die gesamte Vielfalt der künstlerischen Techniken ab. Längst ist es zur „Deindividualisierung” der Votivbilder gekommen. Sie werden als Massenprodukt am Stand gekauft und in der Kirche abgegeben. Individuellen Charakter erhalten sie höchstens durch eine Notiz auf der Rückseite oder einen beigelegten Zettel. Traditionelles und Modernes steht bzw. hängt nebeneinander[1219] und beide zusammen stehen für die Postmoderne, hier verstanden sowohl als Rückgriff auf die Vormoderne, wie auch als Ausdruck für die Parallelität der Vielfalt kultureller Ausdrucksmöglichkeiten und als mittlerweile abgenutzte Metapher für Beliebigkeit.
Zusätzliche Aspekte in der Motivation (z. B. Bitte um Frieden, Gemeinschaft), die Nutzung moderner Fortbewegungsmittel, um zum Wallfahrtsort zu gelangen, ein erweitertes Angebot am Devotionalienstand, eine große Vielfalt an Votivbildern: dies alles deutet auf eine lineare Entwicklung der Wallfahrt hin; gleichsam fest auf traditionellen Beinen stehend, sich aber dem Heute nicht verschließend. Dazu passt auch das Auflegen sogenannter „Pilgerbücher”, in die Gläubige ihre Anliegen und ihre Probleme eintragen.[1220] Selbst eine allenfalls weiter reichende Säkularisierung würde noch keinen Bruch im kulturellen System Wallfahrt bedeuten. Auch in der Vergangenheit waren Menschen dabei wohl eher selten ausschließlich von Frömmigkeit geleitet. Warum sonst hätte schon Luther die Wallfahrt unter anderem als „unzehlich Ursach der Sünde”[1221] verdammt und Joseph II. zunächst die Mehrtageswallfahrten verboten.
Um nun nicht mit dem Mantel einer linearen Entwicklung und gewissen Akzentverschiebung Brüche und „feine Unterschiede” zu verdecken, kehren wir zurück zum Ausgangspunkt. Wir erinnern uns: Einerseits wurde aus theologischer Sicht ein kirchenpolitisches Treffen in Mariazell als Wallfahrt bezeichnet, andererseits verweigerte man einer sozialdemokratischen Politikerin trotz Erfüllung des formalen Rahmens die Anerkennung als Pilgerin. Wir fügen dieser willkürlichen Einschränkung des Begriffes einen weiteren Hinweis an, der das Dilemma eines theologisch geprägten Blicks auf das Phänomen Wallfahrt deutlich macht: Als 1996 im Rahmen der Landesausstellung „Schatz und Schicksal”[1222] die Votivgaben und -bilder neu gehängt wurden, fand sich inmitten der Bilder und Dinge auch ein Tennisschläger. An sich nichts Ungewöhnliches. Man könnte meinen, die Votivgabe eines Gläubigen, der als Dank für einen wichtigen Sieg sein Racket gestiftet hat. Eine nähere Betrachtung des beigefügten Textes verwies aber auf einen anderen Zusammenhang. Der Schläger hatte dem dem österreichischen Tennisspieler Thomas Muster gehört, der sich als Werbeträger in den Dienst der baulichen Sanierung der Basilika gestellt und den Schläger als Werbemittel der Kirche geschenkt hatte. Das Racket sollte zu einem späteren Zeitpunkt zu Gunsten der Renovierungsarbeiten versteigert werden. Dennoch: Formal fällt es nicht aus dem Rahmen der Votivgaben; nur die kurze Notiz merkt seine besondere Funktion an, bei oberflächlicher Betrachtung deutet nichts darauf hin, dass es sich um keine Votivgabe im engeren Sinn handelt.
Gabor Barna stellte im Zusammenhang mit der Rolle religiöser Objekte einmal die Frage: Objekte der Devotion oder der Dekoration?[1223] Die Antwort müsste dementsprechend hier lauten: Dekoration inmitten der Devotion. Die symbolische Aufladung des Objektes erfolgt primär nicht durch den Pilger bzw. im konkreten Fall durch Thomas Muster, sondern erst durch die Priester des Wallfahrtsortes, die den Tennisschläger in den Kontext der Votivgaben stellen und ihm damit eine quasi-religiöse Bedeutung verleihen. Und hier liegt doch ein grundsätzliches Problem. Die Kirche und damit ein Teil des öffentliche Diskurses scheinen die Wallfahrt und ihre Symbole aus der Sicht des theologischen Nutzens zu definieren, was durchaus einen Verzicht auf ritualisierte Handlungsmuster einschließen kann. Andererseits steht dem gegenüber ein Ritual, das nicht mehr in allen Fällen mit seinen traditionellen Inhalten ausgefüllt scheint, aber von einer Kulturwissenschaft durchaus auch als Wallfahrt anzusprechen ist, vielleicht im Sinne Leopold Schmidts als „Brauch ohne Glaube”.[1224]
Die Brüche im traditionellen System lassen sich offenbar nur an Details festmachen, die Unterschiede zur „klassischen” Wallfahrt sind somit nur als „feine Unterschiede” zu erkennen, die sich einer vordergründigen Betrachtung entziehen. Wir haben bereits auf das generelle quantitative Ansteigen der Wallfahrten ab Mitte der 70er Jahre hingewiesen, das nicht nur in Mariazell zu beobachten war und ist. Zu Kirchenaustritten und einer immer stärker werdenden Säkularisierung unserer Gesellschaft scheint dies nicht zu passen, wüssten wir nicht längst von der neu entdeckten Sehnsucht nach dem Spirituellen, von der Sehnsucht nach neuer Mythologie: Auratische Orte, zu denen auch – aber nicht nur – Wallfahrtskirchen gehören, treten immer stärker in den Vordergrund. Psychologen haben dies als „Verdichtung ... (und) kompensatorische Gegenwelt zu dominanten Grundstimmungen des modernen Menschen” erklärt.[1225] Martin Scharfe hat schon vor beinahe zehn Jahren in anderen Zusammenhängen auf Kompensationsmechanismen als kulturproduzierende Faktoren verwiesen.[1226] Unter kritischer Bezugnahme auf den Ansatz des Philosophen Joachim Ritter[1227] und seines Schülers Odo Marquard[1228] befasst er sich mit den Museen, die seiner Auffassung nach nur mehr kulturelle Defizite unserer Industriegesellschaft ausgleichen helfen. Das heißt, jene Kulturgüter, die wir im realen Lebensvollzug verlieren, können wir in der Welt der Museen nacherleben.
Die „Musealisierung der Kultur” greift aber weit über Musealisierung im engeren Sinn hinaus, greift weit über die eigentlichen Museen hinaus. Der holländische Theologe Paul Post verwies z. B. unmittelbar im Kontext mit Wallfahrt auf dieses Phänomen: „The theme of ‚involvement with the past' is more closely examined, especially within the framework of the so called musealisation of culture."[1229]
Die gegenwärtige Sinnsuche, die viele wieder zur Spiritualität führt, hat eine ihrer wichtigsten Wurzeln ebenfalls im kulturell-spirituellen Defizit unserer Gesellschaft. Religion wird dabei als Mittel zur Selbstfindung eingesetzt, wobei das Christentum auch im so genannten christlichen Abendland längst seine Monopolstellung verloren hat. Für die Wallfahrt bedeutet dies eine qualitative Verschiebung, ihr kann hier im doppelten Sinn Bedeutung zukommen: Einerseits durch das Wallfahrtszentrum selbst, z. B. Mariazell, das jenseits aller katholischer Intentionen und Symbole zum Ort dieser Selbstfindung wird, andererseits unter Einbindung katholischer Symbolwelten durch die Wallfahrt selbst. Psychologen sehen in den regelmäßig wiederholten Gebetsformeln, wie sie z. B. bei traditionellen Fußwallfahrten noch geübt werden, eine „wiederentdeckte Psychotechnik”, eine Form der Meditation, „mit oder ohne expliziten Bezug zu Gott, in der es darum geht, mit sich ins Reine zu kommen, Ruhe zu finden.”[1230] Herbert Benson, Kardiologe an der Harvard-Universität, betont den Entspannungseffekt regelmäßiger Versenkung im Gebet. Das ständige Wiederholen von Worten oder Gedankeninhalten löst dabei einen physiologischen „Entspannungsreflex” aus.[1231]
Die Studien 1997/98[1232] machten allerdings deutlich, dass jene Wallfahrten, bei denen das Beten in Prozessionsordnung zum Ritual gehört, nur mehr eine Minderheit darstellen. Die „modernen”, seit den 70er Jahren entstandenen Wallfahrten zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass ihre TeilnehmerInnen mehrheitlich nicht mehr von Wandergruppen zu unterscheiden sind. Das spirituelle Erlebnis des Gebetes in ritualisierter Form fällt somit weg und wird durch individuelles Erleben ersetzt, das sich nicht ausschließlich an religiösen oder gar christlichen Vorstellungen orientieren muss. Das Symbolsystem Wallfahrt steht also auch jenen zur Verfügung, die nicht in der christlich-katholischen Tradition stehen, andererseits kann die Intention einer Wallfahrt bei einem Besuch einer Wallfahrtskirche auch unter „antiritualistischen” Aspekten erfüllt sein: Besuch der Kirche außerhalb der Messe, stille Gebete, selbst die Eintragung in das „Pilgerbuch” findet außerhalb ritueller Formen statt. Es wäre allerdings zu fragen, wie weit – im Sinne von Mary Douglas[1233] – in diesen bewussten oder unbewussten Antiritualen neue Rituale bereits grundgelegt sind.
Paul Post spricht in seiner Analyse gegenwärtiger autobiographischer Wallfahrtsberichte von „vessel-rituality”.[1234] Englisch „vessel” bedeutet „Gefäß”, „Behälter”, „Schiff”, auch „Luftschiff” oder „Fahrzeug”. Vessel-rituality meint, dass Wallfahrt sozusagen als „Gefäß” fungieren kann, als ritueller Rahmen oder als äußere Form, die den Vorstellungen und Bedürfnissen der Teilnehmenden entsprechend mit Bedeutung und Inhalt gefüllt werden kann. Es wird im Folgenden darum gehen, einige Aspekte des komplexen „Handlungsspieles Wallfahrt”[1235] herauszugreifen und zu fragen, worin die kaum übersehbare und vielfach belegte Attraktivität des Themas heute besteht, so dass vielerorts und gern von einem regelrechten Wallfahrtsboom die Rede ist. Wir haben es mit einem Wechselspiel von Offenheit bei gleichzeitiger Ausgerichtetheit und Begrenztheit zu tun. Das Ritual bietet die Form an, die eben nicht beliebig und vollkommen offen ist, sondern einen definierten Rahmen bzw. Ablauf vorgibt. Hier entsteht ein Spielraum, der durch seine Schutzfunktion gewissermaßen erst Öffnung und Offenheit innerhalb des Settings ermöglicht. Innerhalb dieses Bereiches werden Erfahrungen möglich und Austausch über Lebensthemen, die in der Alltagswelt als zu riskant, zu wenig „cool”, womöglich als zu abweichend von gefordertem Funktionieren-Müssen gesehen werden, die man meint, verbergen zu müssen, weil man sich schämt, nicht zu entsprechen, in seinen Ängsten womöglich zu banal, zu unbedeutend und orientierungslos zu sein.
Dieser geschützte Raum kann einerseits schlicht bedeuten, sich innerhalb einer Wallfahrtsgruppe sicherer zu fühlen, wenn man auf Reisen gehen möchte – ein Argument, dass eine alleinstehende ältere Frau für ihre Teilnahme an der Pfarrwallfahrt einer Grazer Pfarre im September 2001 nach Rom nannte. Er kann aber auch als Möglichkeit wahrgenommen werden, sich emotional zu öffnen und Gefühle zeigen und zulassen zu dürfen. Hier scheint einer der wesentlichen Punkte der Anziehungskraft gegenwärtigen Wallfahrens zu liegen, die zugleich eine unendlich vielfältige Palette unterschiedlichster Tönungen und Ausrichtungen der Emotionen zulässt, mehr oder weniger oder auch gar nicht „religiös” geprägte. Unterstützung findet dies zudem in den Möglichkeiten sinnlichen Erfahrens, ganz einfach in der Zeit zum bewussten Schauen, Hören, Riechen und Spüren. Natur- und Körpererfahrung, sakrale Architektur, Bilder, Musik, der Geruch von Kerzen und Weihrauch usf. als Elemente einer intensiven „Gegenwelt”, die zu erleben „gut tut”.
Christian, der als Gesprächspartner im Rahmen des Projektes „Wallfahrt in der Nachmoderne”[1236] über die dreitägige Fußwallfahrt von Judenburg nach Maria Waitschach berichtete – er hatte im vergangenen Jahr bereits das zehnte Mal teilgenommen und bei dieser Wallfahrt einst auch seine Frau kennen gelernt –, erzählt: „Durch das lange Gehen, auch durch den Schlafentzug, gehen die Menschen unheimlich aus sich heraus, man hat so viel Gelegenheit, Gespräche zu führen mit Menschen, die man kennt, aber was das Erstaunliche ist, auch mit Menschen, die man noch nie gesehen hat, die erzählen Dinge aus dem intimsten Bereich .... man öffnet sich einfach... Jeder von uns, vor allem wir aus dem städtischen Bereich, wir bauen ja eine Schutzmauer um uns auf, sonst würde man das ja nicht aushalten, und die wird da vollkommen niedergerissen. Das ist sicher eines der wesentlichsten Erlebnisse, dass die Menschen auch unheimlich schöne Gespräche führen. Es ist auch immer wieder dramatisch, welche Schicksale manche Menschen haben, die z. B. Kinder bei Verkehrsunfällen verloren haben, wie sie jahrelang daran herumtragen ... und wie gut es ihnen tut, darüber zu reden. ... Auch an Liebesverhältnissen passiert bei einer Wallfahrt so einiges, weil die Menschen so offen sind. Mich hat es ja auch dabei erwischt. Es gibt da immer wieder Dinge ...” Während einer Wallfahrt bieten sich vielerlei Möglichkeiten, sich auszutauschen, sich jemandem anzuvertrauen oder sich aus Gesprächen der Teilnehmenden untereinander auch ritualisierte Gesprächsformen wie Beichtgespräche, Gebete, oder das Eintragen von Anliegen oder Sorgen in ein Anliegenbuch. Es wird ein Raum geschaffen, in dem sowohl freudige wie traurige oder schmerzliche Emotionen geäußert und gezeigt werden dürfen, ohne Peinlichkeit zu riskieren.
Christian schildert den Beginn der Waitschacher-Marien-Wallfahrt: „Man geht um 14 Uhr von der Pfarrkirche in Judenburg weg, da ist eine feierliche Verabschiedung, da werden eben Marienlieder gesungen und das besonders schöne dabei ist eines, das heißt: ‚Wir ziehen zur Mutter der Gnaden'. Wobei also die meisten immer weinen dabei, wenn das gesungen wird, vor allem die, die oft mitgegangen sind und nicht mehr mitgehen können.”
In einem Kontext, der emotionale Offenheit erlaubt bzw. sogar fördert etwa durch gemeinsames Singen, Beten oder auch Schweigen, der zudem eine gemeinsame emotionale Ausrichtung auf ein Ziel hin vorgibt, mit welchen Vorstellungen es von den einzelnen Teilnehmern auch immer besetzt sein mag, ermöglicht auch ein Öffnen des Bewusstseins für spirituelle Erfahrungen. Eine Teilnehmerin an der Lourdes-Wallfahrt der Malteser im Mai 2002 erzählt: „Es finden sich Menschen mit gleicher Gesinnung und das ist das Schöne. Man redet sich die Sorgen von der Seele und immer wieder ist die Gleichgesinnung das Schöne. (...) Wissen Sie, was wunderschön ist: jung und alt. Und ein Verständnis der Jugend für das Alter, für die Kranken für die Behinderten, der Eindruck, das hat mich so beseelt – ich hab´ gar nicht reden können drüber. Ich bin noch immer angetan.”
Der Wiener Psychiater und Therapeut Alfred Längle definiert Spiritualität als geistige Offenheit für eine den Menschen übersteigende und ihn doch tragende Schicht.[1237] Lebensbezüge, in denen wir stehen und Erfahrungen ‚entfremden' uns und bringen uns ganz schön weit weg von unserem eigenem Wesen, sie stellen uns in eine Pragmatik und Nützlichkeit, in der wir funktionieren, und in der von dieser Spiritualität wenig fühlbar und auffindbar ist.”[1238] Dialog mit anderen Menschen, echter Dialog, einander aufmerksam machen, was einen wirklich bewegt und darüber zu sprechen, sich berühren lassen, von dem was ist, eine gewisse Offenheit demgegenüber darbringen, was da ist, braucht Übung und Können. Offenheit braucht einen Schutz und sie kann geübt werden, so dass tiefere Schichten erfahrbar werden. Christian erzählt über das Rosenkranzbeten während des Gehens: „Dabei werden Rosenkränze gebetet ... Dieses monotone, gleiche Beten, der gleiche Schritt, verhältnismäßig nicht zu langsam, aber auch nicht zu schnell, so ein angenehmer Schritt, man trägt das Gepäck, also es ist auch ein körperliche Anstrengung, dieses Beten, wo man auf den Text, den man betet, ja gar nicht mehr hinhört, es ist unwahrscheinlich, was einem da für Gedanken kommen. Mir kommt immer vor, man wird in eine andere geistige Ebene gebracht, es fallen einem Dinge ein, so wie im Traum ... Dinge, die oft schon längere Zeit zurückliegen, die kann man dabei verarbeiten.”
Peter Pawloski sagt: „Es ist kein Zufall, dass Spiritualität heute zu einem sehr gängigen Schlagwort geworden ist, darin formuliert sich so etwas vom Widerstand gegen die Geistlosigkeit der neoliberalen Wirtschaftsgesellschaft. Spiritualität als Art von Religiosität, die sich scheut, sich selbst so zu nennen, weil die Kirchen, die religiösen Institutionen immer noch ein Monopol auf Religion beanspruchen, aber gleichzeitig in den Augen vieler unglaubwürdig geworden sind. Spiritualität verfolgt das Ziel, den Menschen zu synchronisieren.”[1239] Unsere Erfahrungen sind gespalten, wir haben leibliche, wir haben seelisch-psychische Erfahrungen, wir haben geistige Erfahrungen, und diese Erfahrungen kommen oft nicht zur Deckung. Die Arbeitswelt heute, auch das Bildungssystem, sind mit daran beteiligt, dass diese Erfahrungen sehr oft auseinanderdriften. – „Ständig auf Abruf und in Bereitschaft, permanent mobil, finden wir kaum noch zu uns selbst. Ausgerüstet mit Beeper, Handy, Walkman, Kopfhörer ... hat der neue Prothesenmensch, der jeden Moment irgendeine Waffe zückt und mit der gesamten Welt vernetzt ist, große Ähnlichkeit mit einem Soldaten, der permanent im Einsatz ist. Erschöpfung und Überarbeitung seien unsere modernen Laster, sagt Nietzsche. Im beständigen Kampf mit Phantomen, erleiden wir nicht kalkulierbare Verletzungen, werden wir zu Alltagsverletzten statt Kriegsverletzten."[1240]
Wallfahrt bietet hier die Möglichkeit, sich aus den Verkettungen des Alltags, wenn auch befristet – und vor allem weil befristet – zu lösen und zu sich selbst zu kommen. Körper- und Naturerfahrung spielen eine wesentliche Rolle, um sich im ursprünglichen Wortsinn zu „sammeln”. Wenn Spiritualität einen Sinn haben soll, dann muss sie Erfahrungen zusammenführen können, dann muss sie sozusagen eine Einigungskraft für Kopf, Herz und Leib haben. Spiritualität muss nicht unbedingt etwas mit Gottesglauben zu tun haben, sie bezeichnet vielmehr zunächst nur die Sehnsucht nach menschlicher Ganzheit und hält nach Methoden Ausschau, diese Ganzheit zu gewinnen. Es kann dann allerdings sein, dass die Erfahrung, dass diese Ganzheit immer Fragment bleibt, möglicherweise den Blick auf die Transzendenz eröffnet, auf Transzendenz als eine vorausgesetzte Ganzheit. Die Suche nach Ganzheit ist eine Reaktion auf die Fragmentierung der Lebensbereiche durch die Moderne. Die Einteilung in eine Welt der Leistung und Effizienz und in eine Gegenwelt des Privaten, der Liebe und der Familie.
Diese Gegenwelt wurde im 19. Jahrhundert zum Bereich der Frauen. Die Wiener Theologin Christa Schnabel präsentiert eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass Frauen das spirituellere Geschlecht sind. In den letzten Jahrzehnten haben Frauen zunehmend eigene Formen von Spiritualität gesucht, jedoch auch innerhalb der ganz klassischen, traditionellen, institutionalisierten kirchenbezogenen Frömmigkeitsformen sind Frauen stärker verankert. Sie gehen häufiger in den Gottesdienst, sind mit Ausnahme von jenen Fußwallfahrten, die große körperliche Ausdauer und Fitness voraussetzen, fast immer in der Überzahl. Der Grazer Theologe und passionierte Fußwallfahrer Gottfried Heinzel erzählt, dass Frauen „aufmerksamer” unterwegs seien, sie sind nicht so sehr an körperlicher, sportlicher Leistung interessiert. Es gibt viele Ansätze, die in neue Richtungen weisen, aber auch Traditionen, auf die gegenwärtig verstärkt zurückgegriffen wird. (Weibliche Mystikerinnen wie z. B. Hildegard von Bingen sind momentan hoch im Kurs.)
Wie weit sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Wallfahrt einer spirituellen Erfahrung oder einer Erfahrung von Transzendenz nähern oder öffnen, ist klarerweise unterschiedlich. Spiritualität oder Religiosität ist nicht zwingend Voraussetzung für eine aus der Sicht der Teilnehmenden geglückte Wallfahrt. Insofern griffe auch eine Rückführung der Attraktivität von Wallfahrt ausschließlich auf eine „Wiederkehr der Religionen” zu kurz.
Vor allem bei mehrtägigen Wallfahrten, ob nun zu Fuß, mit dem Bus oder der Bahn, können wir als äußersten Handlungsrahmen die Rituale der Reise selbst ansehen. Hier ist anhand vieler Aussagen und vorliegender Untersuchungen klar ersichtlich, dass die Bedeutung der Wallfahrten sehr stark in den Erfahrungen des Unterwegsseins liegt. Gottfried Heinzel, der zig Male zu Fuß von Graz nach Mariazell gegangen ist unter anderem auch zu Fuß von Graz nach Santiago, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Wehmut beim Ankommen am Wallfahrtsort”. Die Malteser, die jährlich eine Pilgerfahrt mit einem Sonderzug nach Lourdes veranstalten, berichteten, dass sie vor drei Jahren den Versuch unternommen hatten, mit dem Flugzeug nach Lourdes zu reisen. Es blieb beim einmaligen Versuch, da Art und Tempo der Annäherung als zutiefst unbefriedigend erlebt wurden. Die körperlich durchaus mühsame und 24 Stunden lang dauernde Zugfahrt, jeweils zu sechst in einem Abteil, ermöglicht es den Teilnehmenden, einander näher zu kommen, sich kennen zu lernen und miteinander ins Gespräch zu kommen, auch Geduld füreinander aufzubringen, Nachsicht und Aufmerksamkeit.
„Und dafür bin ich so gerne mit der Schwester Martina gefahren, weil ich wollte selber gerne nach Lourdes, aus Überzeugung – wenn´s ihr was bringt und ich werd wieder ruhiger. Ich sag´ Ihnen die Gemeinschaft in dem Abteil war herrlich! [gemeint ist das Zugabteil] Die Bekanntschaft mit dieser MS Frau [Multiple Sklerose] – 40 Jahre, und so fröhlich und so voll Hoffnung. Und glücklich! Wenn sie geredet hat, das Gesicht hat gestrahlt – da denk´ ich mir: Da ist der Heilige Geist unterwegs. Dass er diese Menschen nicht unten lässt, dass er sie immer hebt. Es ist so wunderschön, das hat mir soviel gegeben. Eine Frau haben wir getroffen – die Schwester Martina wäre ja schon so gerne schlafen gegangen, sie war schon total fertig – diese Frau hat uns in Beschlag genommen und ihr ganzes Leid ausgeschüttet. Von der erst kürzlichen Scheidung ihres Sohnes, die Enkelkinder verloren. Da hab´ ich dann zu ihr gesagt [zur Schwester Martina]: Mein Gott, jetzt hast du deinen Schlaf gekürzt. Sagt sie: Die hat uns braucht!”, erzählt uns eine Lourdes-Wallfahrerin.
„Einander nur vorübergehend zu gemeinsamem Handeln und/oder Erleben vereinigende Individuen verleihen ... ihrer flüchtigen Gemeinsamkeit den Anschein einer relativ stabilen Gemeinschaft. Die mühelos nachvollziehbare Form und Durchgliederung des gemeinsamen Verhaltens steigern nicht nur die Bereitschaft der Teilnehmer zu Engagement, Glaubens- oder Überzeugungsbekenntnis und Empfindungsdemonstration, sondern sie stellen auch ein relativ standardisiertes und daher leicht ‚lesbares' Ausdrucks- und Darstellungsrepertoire dar, mit dessen Hilfe sich das als subjektiv erlebte ‚Innere' jedes Einzelnen kollektiv nach ‚außen' kehren und ausdrücken lässt. Die von den Teilnehmern immer wieder erlebte und erstrebte Einzigartigkeit solcher Gemeinschaften lebt von der Illusion der Mitwirkenden, sich in einer Gemeinschaft von Einzelnen zu befinden, eben nicht das zu sein, was das Ritual schließlich sichtbar doch aus ihnen macht – eine zwar durchgestaltete, aber anonyme ‚Masse': Existenz, Ausdrucksform und Intensität des zeitlich begrenzten Gemeinschaftserlebnisses verdanken ihre ‚Halbwertszeit' dem Ordnungs- und Gestaltungsmuster des Rituals.”[1241]
Die Pilgerfahrt als solche war und ist immer mehr als pures Mittel zur möglichst raschen Erreichung eines Zieles. Sie ist Teil des Ritus, Einstimmung auf das Ziel, Zeichen des Glaubens, der Opferbereitschaft und der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft. Auf der Reise wachsen die einzelnen Pilger in die Gemeinschaft, die sie dadurch wiederum stabilisieren. Insofern ist für die Glaubensgemeinschaft die Pilgerfahrt als solche ebenso wichtig wie die Ankunft am Ziel. Das Heilige kann nicht ohne Mühe erreicht werden.[1242] Während der Jubiläumswallfahrt einer Grazer Pfarre im September 2001 bei der es organisatorisch und durch die Lage und Beschaffenheit des Quartiers in Rom zu wiederholtem Unmut vonseiten der Teilnehmenden kam, wurde genau dies halb ernst, halb ironisch als entschuldigendes Argument angeführt: „Wir sind auf einer Wallfahrt. Das ist anstrengend und man muss Mühsal auf sich nehmen.”
Reisen, der Prozess des Wegfahrens selber, also das Sich-von-einem-Ort-zu-dem- anderen-Bewegen, kann als notwendige Häutung verstanden und erlebt werden. Unsere Alltagshaut ist dick, sie muss dick sein, um dem Alltag über standzuhalten. Sich auf die Reise machen, um sich zu häuten. „Fortgehen heißt den Ort ausziehen, den man bewohnte: seinen Hut des Kirchturms absetzen, seine Tunika aus Wiesen ablegen, aus seinen Ärmeln der Hügel schlüpfen, seine Hose aus Pfaden mit den bewohnten Taschen ausziehen; und man wird geographisch nackt bis zu dem neuen Ort, der uns den feinen Schleier seines Zaubers oder den schweren Mantel seines Schicksals reichen wird.”[1243]
Reisen muss nicht zwingend als Flucht vor der Realität aufgefasst werden, wie manche Tourismuskritiker gerne argumentieren, sondern kann auch als Wechsel der Realität fungieren. Als wesentliche Funktion des Reisens kann der Wechsel zwischen alltäglicher Realität und Gegenwelt oder Phantasiewelten genannt werden. Es führt zwar in eine reale Andersartigkeit, die wir aber mit unseren Träumen, Vorstellungen überlagern, wir „verfälschen” sozusagen ständig, picken uns etwas heraus und in diesem Sinne hat Reisen nicht (nur) mit Flucht vor der Realität zu tun, sondern mit wechselnden Realitätsebenen.
„Ich reise, also bin ich”, schreibt Hans-Jürgen Heinrichs. „So. Geworden. Ich reise weiter, um nicht so zu bleiben. Reisen ist eine existentielle Möglichkeitsform, ein doppelter Konjunktiv: So könnte es gewesen sein und das könnte im Leben daraus werden. Reisen ist auch ein Beharren auf dem Schein, auf dem schönen Schein des Illusionären. Ihn inszeniert der Reisende mit jedem Schritt, setzt ihn in Szene, hält ihn in Bewegung, führt ihn als etwas Unzerstörbares vor.”[1244] Reisen schließlich als mögliche Therapie, als Regeneration, also Neuschöpfung. „Das Reisen verspricht ... aus Krisen herauszuführen. Der Aufbruch zu neuen Horizonten und die Therapie der Ortsveränderung, trotz besseren Wissens.”[1245] „Reisende sind Gebrechliche: an Seele, Körper, oder Geist. Kranke, Behinderte, die aufbrechen, um in der Gegenwelt sich mit einem Ruck zu heilen: vom Liebeskummer, von grenzenloser Sehnsucht und vom Saufen, von Asthma, Ischias, Rheuma und Gicht. Reisen als Schocktherapie.”[1246]
Auch die Dimension des Vergangenen, der Tradition, kann ein entscheidendes Argument im Kontext Wallfahrt darstellen. Christian erzählt, welche Bedeutung Tradition für ihn in Zusammenhang mit der Gelöbniswallfahrt der Judenburger nach Maria Waitschach hat: „Man soll diese Wallfahrt an die nächste Generation weitergeben, damit diese Wallfahrt nicht abkommt. Bei mir war das so: meine Großeltern stammen beide aus Judenburg und meine Großmutter ist besonders eifrig mitgegangen, so oft man halt gehen kann, etwa 20 Mal, und sie war dann schon 80 und hat mir dann ans Herz gelegt, ob ich diese Tradition nicht weiterführen möchte. Ich habe gesagt, ‚Ja ich mache das!' Für mich hat es auch eine ein bissl andere Bedeutung bekommen, ich habe bei dieser Wallfahrt meine Frau kannengelernt. Es ist also nicht nur eine Gelöbniswallfahrt, sondern auch eine Dankwallfahrt.”
Die Wiederentdeckung der Vergangenheit kann ein Widerstandspotential sein gegen die Einseitigkeiten der Moderne. Der Münchner Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald sprach in seiner Festrede bei den Salzburger Hochschulwochen von Erinnerung als spirituellem Akt. Die Moderne ist durch ein sehr rasches Lebenstempo gekennzeichnet, durch die Beschleunigung der Erfahrung, die so groß werden kann, dass die Menschen Erinnerung vergessen.
Eine wichtige Rolle in Bezug auf die Bedeutung von Vergangenheit spielt in unserem Zusammenhang die „Musealisierung der Kultur”. Religiöse Riten und Symbole können als Teilbereich dieses Prozesses gelten. Als neue Bedeutungs- und Sinnkomponente wäre Wallfahrt als Rahmen für unterschiedliche individuelle Formen der Selbstrepräsentation und der Suche nach Erlebnissen kontrastierend zum Alltag zu sehen. Musealisierung der Kultur lässt sich unter zwei Gesichtspunkten betrachten: Einerseits im Hinblick auf Prozesse der Historisierung, d. h. Vergangenheit fungiert als interessante, exotische Gegenwelt und andererseits im Hinblick auf Ästhetisierungsprozesse. Hier wird der Bezug zu den jeweiligen kulturellen Elementen vielmehr durch Distanz, durch Betrachtung und Besichtigung bestimmt als durch Integration in das alltägliche Leben. Vergangenheit fungiert als das „total Andere” – Wallfahrt sozusagen als Reise in die Vergangenheit, indem man beispielsweise traditionellen Pilgerwegen folgt oder Schauplätze historischer Pilgererzählungen aufsucht. Die Versuche, der Vergangenheit nachzuspüren, können ein wichtiges Element des „Pilger-Seins” ausmachen. Nicht zufällig lautet ein Motto eines Projektes der Abteilung für Sport und Tourismus des Landes Steiermark, in dem Wallfahrt touristisch erschlossen und für weitere Bevölkerungsgruppen erschlossen werden soll: „Neuer Sinn auf alten Wegen”! Pilgern wird neben zahlreichen anderen themenspezifischen Wandermöglichkeiten als „Themenwanderung” aufbereitet.
In ihren Überlegungen zu „Boom und Bedürfnis” in Bezug auf Wallfahrt verweisen Scharfe/Schmolze/Schubert auf Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen religiösen Vorlieben und den Defiziten gegenwärtigen Daseins. „‚Die menschliche Autonomie verwandelte sich in eine Tyrannei der Möglichkeiten', wie Hannah Arendt eindrücklich bemerkte. Das Kleingedruckte des großen modernen Emanzipationsgesetztes enthielt eine Klausel gegen jedes beruhigende Gefühl der Gewissheit.”[1247] Die „reduzierte Komplexität im Schein-Leben Wallfahrt” erscheint auch „als Heilmittel gegen die real größer gewordene, als Bedrohung empfundene Komplexität des Alltags".[1248] Auch die Sinn-Systeme haben sich multipliziert, sind in ihrer Vielfalt kaum überschaubar und entziehen sich einer klaren Bewertbarkeit durch den Einzelnen.
„Die Menschen sind mit konkurrierenden Ideologien und Religionen und Lebensentwürfen konfrontiert: wie nun ist´s richtig? Man hört so viel, so viele wollen einen überzeugen, man zweifelt, wo geht die Reise hin, wenn man ans ‚richtige' Ziel kommen will? Da empfiehlt sich dann vielleicht doch wieder ein bewährtes Verhaltensmuster, das bekannt ist und ‚Erfolge' vorzuweisen hat: römischer Katholizismus plus Handlungsvariante Wallfahrt: man weiß, wie das geht; man weiß, was man zu erwarten hat; und sie sagen es einem immer wieder aufs neue. Solcher Rückgriff ist auch eine Möglichkeit, sich in der Dschungelwelt kultureller Alternativen zurechtzufinden.”[1249]
Eine wesentliche Rolle in unserem Zusammenhang spielt wohl auch der Umgang mit und die Bedeutung von Leiden bzw. beinahe so etwas wie eine „Verpflichtung” zum Glück, oder zu „fun” in einer so genannten Spaß- oder Erlebnisgesellschaft. „Verdammt zum Glück”, wie Pascal Bruckner seine ebenso scharfsinnige wie scharfzüngige Diagnose der Gegenwart nennt. „Leiden, seines religiösen Sinnes beraubt, bedeutet nichts mehr, es steht uns im Weg wie ein Paket voller hässlicher Dinge, mit dem wir nichts anzufangen wissen. Es wird nicht mehr erklärt, es wird konstatiert. Es ist zum Feind geworden, den es zu bekämpfen gilt, denn es trotzt all unseren Absichten, auf Erden eine auf Vernunft gebaute Ordnung zu errichten. (...) Doch durch ein sonderbares Paradox ... wächst und vervielfältigt es sich umso mehr, je mehr wir es auszurotten versuchen. Alles, was sich der Kraft des Verstandes, der Befriedigung der Sinne, der Verbreitung des Fortschritts entgegenstellt, wird nun als Leiden bezeichnet: Die Gesellschaft des proklamierten Glücks wird nach und nach zu einer Gesellschaft, die von Verzweiflung heimgesucht und von der Angst vor Tod, Krankheit und Alter gezeichnet ist. Unter einer lächelnden Maske wittert sie überall den unerträglichen Geruch des Unheils.”[1250] Je mehr man sich gegen Erfahrungen des Leidens, der Schwäche zur Wehr setzt und es vermeiden möchte, sie zu erfahren, umso hartnäckiger werden diese Erfahrungen uns begleiten – Widerstand als verlässlichste Methode, etwas nicht los zu werden und ständig aufs Neue zu erleben. „... unsere westlichen Gesellschaften stufen als pathologisch ein, was andere Kulturen als normal betrachten – die Allmacht des Schmerzes, und sie bezeichnen das als normal und sogar notwendig, was andere als Ausnahmezustand erleben – das Gefühl des Glücks. ... wir sind vermutlich die ersten Gesellschaften in der Geschichte, in denen die Menschen dazu gebracht werden, unglücklich darüber zu sein, dass sie nicht glücklich sind.”[1251]
Der Soziologe und Psychoanalytiker Peter L. Berger erkundet die Möglichkeit für religiösen Glauben in einer Zeit, die als säkular und skeptisch gilt. Berger charakterisiert sie als „Zeitalter der Leichtgläubigkeit”,[1252] in dem alles oder auch gar nichts geglaubt werden kann. Die Moderne mit ihrem Fortschritt von Wissenschaft und Technik habe uns kein rationales Utopia beschert, in dem das Bedürfnis nach Transzendenz ausgelöscht ist. Die Vielzahl von religiösen und quasi-religiösen Ideen und Heilslehren außerhalb der Kirche ist nach Berger ein Symptom für die Tatsache, dass viele jenseits der „weltlichen Werte” nach einer Quelle tieferen Sinns in ihrem Leben suchen. Hier sind vermehrt Konzepte und Prozesse beobachtbar, die einen umfassenden Geltungsanspruch der Säkularisierungstheorie für die Gesellschaft der Moderne in Frage stellen bzw. das Phänomen der Säkularisierung nur als Teilaspekt innerhalb weitaus komplexerer Zusammenhänge gelten lassen können.
Doch genauso wie es falsch wäre, Modernisierung und Säkularisierung als einbahnige, unaufhaltsame Prozesse anzusehen, ist es falsch, die Pluralisierung als einen solchen anzusehen. Die Erfahrungen der Moderne haben neue Formen der Religiosität hervorgebracht, und sie haben teilweise zu einer Entkoppelung des Religiösen von der Religion im traditionellen Sinne geführt bzw. zu einer Umfunktionierung traditioneller religiöser Praktiken, die sich auch innerhalb der kirchlichen Institutionen gerade im Zusammenhang mit dem Wallfahrtsgeschehen manifestieren. Dabei vermag der Rückgriff auf traditionell bewährte Formen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, und die Bedeutungsverlagerung auf soziale Aspekte neuen Sinn und Gemeinschaft zu produzieren.
Daran knüpfen schließlich auch Bestrebungen vonseiten der kirchlichen Institutionen an, um ein fortschreitendes Abwandern ihrer Mitglieder aufzuhalten. Aus der gegebenen Situation, in der die Legitimität der Kirche als alleinige Sinnstifterin stark beeinträchtigt ist, entstehen einerseits in verstärktem Maße Anforderungen an die offiziellen kirchlichen Institutionen. Andererseits versucht die Kirche ihrerseits, sich erneut auf einem stärker denn je ausdifferenzierten Markt der Sinnstiftung und der Versorgung mit Heilsgütern zu profilieren. „Immer mehr Menschen auf der Suche nach geistlichen Werten – die katholische Kirche bietet in 2000 Jahren Erprobtes: Gebet, Meditation, Tage der Stille, Bibelgespräche, Musik, Tanz, Gesang, Besinnung, Einkehr, Exerzitien, Fasten, Liturgie, Vorbereitung auf Ostern, Reisen, Wallfahrten, Emmausgänge, Mitfeiern von Karwoche und Ostern”, heißt es in einem Zeitungsartikel, in dem eine Aktion des Canisiuswerkes (das österreichische Zentrum für geistliche Berufe) und der österreichischen Ordensgemeinschaften vorgestellt wird, durch die die Angebote der katholischen Kirche der Öffentlichkeit besser zugänglich gemacht werden sollten.
In der Maiausgabe 1999 der „Brücke”, dem Bezirkspfarrblatt von St. Leonhard in Graz, lädt die Pfarre zur „Pfarrwallfahrt nach Mariazell”: „Auch dieses Jahr wandern wir zu Fuß gemütlich in drei Tagen über unsere schönen Berge zur Gnadenmutter (Gepäck wird befördert). Wir fahren am Freitag, dem 4. Juni, um 7 Uhr früh vom Parkplatz der Pfarre mit dem Autobus auf die Sommeralm und beginnen dort mit der Wanderung Richtung Straßegg-Schanz zur Stanglalm. Alle, die Freude am Wandern und schöner Gemeinschaft haben, sind herzlich eingeladen. (...)”[1253]
Das Hauptwerbeargument in dieser von der Pfarre ausgesprochenen Einladung ist nun nicht mehr im traditionell religiösen Bereich angesiedelt, vielmehr werden eine gemütliche Wanderung in schöner Berglandschaft und eine schöne Gemeinschaft als Anreiz zur Teilnahme geboten. Auffallend am angeführten Beispiel ist, dass selbst vonseiten der Kirche eine „profane” Argumentationslinie in Zusammenhang mit Wallfahrt ins Spiel gebracht wird. „Zahlreiche Versuche belegen die Bereitschaft der Postmoderne zur Wiederverzauberung der Welt. Viele Autorinnen und Autoren halten den individuellen und kollektiven Rückgriff auf religiöse Formen nicht nur für möglich, sondern geradezu für notwendig, um kohärente Interpretationsmuster neu zu gewährleisten. Eine kollektivierende Sinngebung, die Teilhabe an großen ‚Narrativen' bilden wichtige Ingredienzen des Interesses, das Menschen heute weltweit den Ritualen (wieder) entgegenbringen.”[1254]
Über mannigfaltige Indizien zur „Wiederverzauberung” der Welt hinausgehend, gilt es, die Ursachen des Wallfahrtsbooms vor dem Hintergrund eines generell verstärkten Bedürfnisses nach Ritualen zu sehen. Das bedeutet, dass eine Eingrenzung, sei es nun auf ein so genanntes katholisches Milieu oder einen primär religiösen Bezugsrahmen welcher Ausrichtung auch immer, zu kurz greift. Giddens verweist auf die sinnstiftende Rolle der Tradition: „Tradition ist ... ein Medium, in dem sich Identität bildet. Identität, sowohl persönliche als auch kollektive, setzt Sinn voraus; doch sie basiert auch auf dem kontinuierlichen Prozeß von Erinnern und Neu-Interpretation."[1255]
Die Wiederbelebung von Ritualen ist oft verbunden mit dem Verleihen neuer Bedeutungen und Funktionen. Dieses Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation ermöglicht einerseits die Anbindung an Bewährtes in der Vergangenheit, unterstützt damit ein Bedürfnis nach Sicherheit und Bestätigung von Identitätsentwürfen und erzeugt gleichzeitig einen „Kick”, indem das Alltagsleben durch eine Reihe von kontrastierenden Erfahrungen befristet verlassen werden kann. Dieser sozusagen geschützte Ausbruch aus der Alltagserfahrung vermag schließlich zu einem Gefühl erhöhter Lebensqualität beizutragen. „Wenn ich diese dreieinhalb Tage dabei war und ich komme wieder zurück ... dann ist mir vorgekommen, ich war wochenlang weg, so dicht war das”, beschreibt ein Gesprächspartner dieses Gefühl.
Man könnte in diesem Zusammenhang von einem „kulinarischen Ritualgebrauch” sprechen, in dem das Ritual-Repertoire der Religionen als eine unter anderen Spielarten genützt wird und nicht mehr unbedingt in direktem Zusammenhang zu religiösen Bekenntnissen und Glaubensvorstellungen stehen muss. Der Unverbindlichkeitscharakter erlaubt das Erproben von Ritualen über konfessionelle Grenzen hinweg. Nicht zuletzt darin gründet sich die wachsende Attraktivität von Wallfahrt in der Gegenwart. So resümierte ein Teilnehmer an der Wallfahrt der Pfarre Stadl an der Mur im Juli 2002, die über Krakau und Auschwitz nach Tschenstochau führte: „Leute mit mehr oder weniger religiöser Gesinnung, sogar verschiedener Konfessionen, feiern miteinander eine katholische Messe und sitzen miteinander im jüdischen Viertel bei koscherem Essen zusammen – also ich finde das großartig!” (Ein Ehepaar aus Deutschland, das seit langem den Urlaub in Stadl verbringt und der evangelischem Kirche angehört, begleitete die Gruppe. In Krakau besuchten wir zum Abendessen ein Restaurant im jüdischen Stadtviertel.)
Wir haben versucht, das breite Spektrum, unter dem inzwischen „Frömmigkeitsforschung” gesehen wird,[1256] auf den Komplex Wallfahrt zu übertragen. Es sollte deutlich gemacht werden, dass „Wallfahrt” kein eindeutig zu definierendes Symbolsystem mehr ist und die Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne, von spirituellem und säkularisiertem Denken und Fühlen, von Ritualen und Antiritualen zum Charakteristikum der gegenwärtigen Wallfahrt geworden ist. Die Wallfahrt gehört auch in unseren katholischen Landen weniger den je der Kirche allein. Vor einigen Jahren bereits warnte Konrad Köstlin vor einem diesbezüglichen Denkfehler: „Manche Theologen frohlocken bereits und sehen ein neues Zeitalter, eine ‚Renaissance des Religiösen' heraufziehen. Das könnte ein Denkfehler sein. Denn diese neue ‚Massenreligiosität' wird nicht auf einen Nenner und schon gar nicht auf einen kirchlichen zu bringen sein, weil sie alles enthält und aufnimmt und weil die Richtungen nicht leicht zu vereinen sind.”[1257] Das, was Köstlin für die „Wiederkehr der Engel” festhielt, gilt ebenso, wenn nicht verstärkt, für die Wallfahrt der Gegenwart zwischen Vielfalt und Beliebigkeit.
Verwendete Literatur
[Barna 1994] Barna, Gábor: Objects of Devotion or Decoration? The role of religious objects in everyday life in the nineteenth and twentieth centuries. In: Bringéus, Nils-Arvid (Hg.): Religion in everyday life. Papers given at a symposium in Stockholm, 13–15 September 1993, arranged by the Royal Academy of Letters, History and Antiquities along with The Foundation Natur och Kultur, Publishers. Stockholm 1994 (Konferenser/Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien 31), S. 105–120.
[Barz 1995] Barz, Heiner: Meine Religion mach ich mir selbst! In: Psychologie Heute 22 (1995) 7, S. 27.
[BaumannZ 1999] Baumann, Zygmunt: Unbehagen in der Postmoderne. Übersetzung aus dem Englischen durch Wiebke Schmaltz. Hamburg 1999.
[Baumer 1977] Baumer, Iso: Wallfahrt als Handlungsspiel. Ein Beitrag zum Verständnis religiösen Handelns. Frankfurt am Main 1977.
[Baumer 1978] Baumer, Iso: Gestalt und Sinn der Wallfahrt heute. In: Baumer, Iso; Heim, Walter: Wallfahrt heute. Freiburg 1978, S. 24.
[BergerPe 1994] Berger, Peter L.: Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Übersetzung aus dem Englischen durch Hanne Herkommer. Frankfurt am Main [u. a.] 1994.
[BrucknerP 2001] Bruckner, Pascal: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Berlin 2001.
[Caduff/Pfaff-Czarnecka] Caduff, Corinna; Pfaff-Czarnecka, Joanna (Hg.): Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe. Berlin 1999.
[Douglas 1981] Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körbersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Übersetzung aus dem Englischen durch Eberhard Bubser. Frankfurt am Main 1981.
[Eberhart 1992] Eberhart, Helmut: „... durch ein gethanes Gelübt“. Zur Bedeutung des Wallfahrtsgedankens im Barock. In: Schwarzkogler, Ileane (Red.): Lust und Leid. Katalog zur Steiermärkischen Landesausstellung 1992. Graz 1992, S. 215–226.
[Eberhart 1996] Eberhart, Helmut: Magna Mater Austriae. Zur Wallfahrtsgeschichte von Mariazell von der Gründung bis in das 19. Jahrhundert. In: Eberhart, Helmut; Fell, Heidelinde (Hg.): Schatz und Schicksal – Mariazell. Beiträge zur Steirischen Landesausstellung 1996, Mariazell & Neuberg an der Mürz, 04.05–27.10.1996. Graz 1996, S. 23–34.
[Eberhart/Ponisch 2000] Eberhart, Helmut; Ponisch, Gabriele: Hallo lieber Gott! Aspekte zu schriftlichen Devotionsformen in der Gegenwart. In: Kuti, Klára; Rásky, Béla (Hg.): Konvergenzen und Divergenzen. Gegenwärtige volkskundliche Forschungsansätze in Österreich und Ungarn. Budapest 2000, S. 11–27.
[Giddens 1996] Giddens, Anthony: Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft. In: Beck, Ulrich; Giddens, Anthony; Lash, Scott (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt am Main 1996, S. 113–194.
[HeinrichsHJ 1993] Heinrichs, Hans-Jürgen: Die geheimen Wunder des Reisens. Graz 1993.
[KöstlinK 1994c] Köstlin, Konrad: Die Wiederkehr der Engel. In: Bringéus, Nils-Arvid (Hg.): Religion in everyday life. Papers given at a symposium in Stockholm, 13–15 September 1993, arranged by the Royal Academy of Letters, History and Antiquities along with The Foundation Natur och Kultur, Publishers. Stockholm 1994 (Konferenser/Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien 31), S. 79–95.
[Marquard 1986b] Marquard, Odo: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Marquard, Odo: Apologie des Zufälligen: philosophische Studien. Stuttgart 1986, S. 98–116.
[Osterberger 1993] Osterberger, Heidemarie: Wallfahrt nach Mariazell. Unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung seit der Öffnung nach dem Osten. Dipl.-Arb. Graz 1993.
[Ponisch 1996] Ponisch, Gabriele: „Bitte um weiteres Glück“. Anliegenbücher als Möglichkeit zeitgenössischer Devotion. In: Eberhart, Helmut; Fell, Heidelinde (Hg.): Schatz und Schicksal – Mariazell. Beiträge zur Steirischen Landesausstellung 1996, Mariazell & Neuberg an der Mürz, 04.05.–27.10.1996. Graz 1996, S. 261–272.
[Ponisch 2001] Ponisch, Gabriele: „Danke! Thank you! Merci!”. Die Pilgerbücher der Wallfahrtskirche Mariatrost bei Graz, Frankfurt am Main [u. a.] 2001 (Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie 9).
[Post 1994] Post, Paul: The Modern Pilgrim. A Study of Contemporary Pilgrims´ Accounts. In: Ethnologia Europaea 24 (1994), S. 85–100.
[RitterJ 1974b] Ritter, Joachim: Die Aufgaben der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. In: Ritter, Joachim: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt am Main 1974, S. 105–140.
[Samitsch/Steinböck 1996] Samitsch, Bernhard; Steinböck, Michaela: Letzter Ausweg Maria. Die Mariazeller Votivbilder im kulturhistorischen Vergleich. In: Eberhart, Helmut; Fell, Heidelinde (Hg.): Schatz und Schicksal – Mariazell. Beiträge zur Steirischen Landesausstellung 1996, Mariazell & Neuberg an der Mürz, 04.05–27.10.1996. Graz 1996, S. 219–239.
[Scharfe 1985] Scharfe, Martin [u. a.] (Hg.): Wallfahrt – Tradition und Mode. Empirische Untersuchungen zur Aktualität von Volksfrömmigkeit. Tübingen 1985 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts 65).
[Scharfe 1992] Scharfe, Martin: Aufhellung und Eintrübung. Zu einem Paradigmen- und Funktionswandel im Museum 1970 – 1990. In: Abel, Susanne (Hg.): Rekonstruktion von Wirklichkeit im Museum. Hildesheim 1992 (Mitteilungen aus dem Roemer-Museum Hildesheim NF 3), S. 53–65.
[SchmidtL 1966b] Schmidt, Leopold: Brauch ohne Glaube. In: Schmidt, Leopold: Volksglaube und Volksbrauch. Gestalten, Gebilde, Gebärden. Berlin 1966, S. 289–312.
[Soeffner 1992a] Soeffner, Hans-Georg: Die Auslegung des Alltags. Bd 2: Die Ordnung der Rituale. Frankfurt am Main 1992 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 993).
[Turner 1989] Turner, Viktor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main [u. a.] 1989.
Weitere Quellen
Salzburger Nachtstudio: „Nomaden sind wir alle”, 1. August 2001, Ö1
Brücke. Pfarrblatt für Graz – St. Leonhard. Mai 1999.
Pfarrblatt der Herz Jesu Pfarre 36 (1998), Nr. 4.
[1198] [Der Standard], 9./10. Juli 1996, S. 23.
[1199] Kleine Zeitung, 10. Juli 1996, vgl. auch: [GabrielR 1996].
[1200] Kleine Zeitung, 5. Juli 1998, S. 22f.
[1201] Kleine Zeitung, 18. Oktober 1998, S. 10f.
[1203] „Schriftliche Devotionsformen” (Arbeitsgemeinschaft im Studienjahr 1996/97) ; „Mehrtageswallfahrten” steirischer Pfarren (Seminar im Studienjahr 1997/98); beide Veranstaltungen wurden am Institut für Volkskunde/Europäisch Ethnologie unter der Leitung von Helmut Eberhart durchgeführt.
[1204] [Wallfahrt nach Assisi 1998], S. 6.
[1205] [Wallfahrt nach Assisi 1998], S. 7.
[1206] Interview mit einer Lourdes-Wallfahrerin im Mai 2002.
[1207] Diese Aussagen mögen stellvertretend dafür stehen, dass traditionelle Motive – wie sie uns aus der historischen Wallfahrtsforschung geläufig sind (z. B. Krankheit, Unfall) – bei Wallfahrten in unserer postindustriellen Gesellschaft mehr und mehr in den Hintergrund treten.
[1209] [Osterberger 1993], S. 99ff.
[1210] [Osterberger 1993], S. 101f.
[1211] [Baumer 1978], S. 13
[1212] Vgl. [Eberhart 1996].
[1213] [Osterberger 1993], S. 96.
[1214] [Osterberger 1993], S. 96f.
[1215] [Osterberger 1993], S. 79–86.
[1216] [Osterberger 1993], S. 90 und 93.
[1218] [Osterberger 1993], S. 93.
[1219] Vgl. [Samitsch/Steinböck 1996], S. 219–239.
[1220] Vgl. [Ponisch 1996].
[1221] Vgl. [Eberhart 1992].
[1222] Die Landesausstellung fand an zwei Austragungsorten statt. Der Mariazeller Teil befasste sich mit der Wallfahrtsgeschichte der Magna Mater Austriae. Aus diesem Anlass wurden auch die Votivbilder inventarisiert, zum Teil restauriert und neu gehängt.
[1223] [Barna 1994].
[1224] Vgl. [SchmidtL 1966b].
[1231] Vgl. [Harris/Ernst 1993], hier: S. 22.
[1232] Vgl. „Schriftliche Devotionsformen” (Arbeitsgemeinschaft im Studienjahr 1996/97); „Mehrtageswallfahrten” steirischer Pfarren (Seminar im Studienjahr 1997/98); beide Veranstaltungen wurden am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie unter der Leitung von Helmut Eberhart durchgeführt.
[1233] [Douglas 1981], S. 36.
[1236] „Wallfahrt in der Nachmoderne. Eine Untersuchung anhand steirischer Beispiele ” war ein vom österreichischen „Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung” (FWF) finanziertes, zweijähriges Forschungsprojekt (von Juni 2001 bis Mai 2003) am Grazer Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie. Die Leitung des Projektes hatte Helmut Eberhart inne, Mitarbeiterinnen waren Romana Geyer und Gabriele Ponisch.
[1237] Längle, Alfred: Salzburger Nachtstudio: „Nomaden sind wir alle”, 1. August 2001, Ö1.
[1238] Längle, Alfred: Salzburger Nachtstudio: „Nomaden sind wir alle”, 1. August 2001, Ö1.
[1239] Pawlowski, Peter: Salzburger Nachtstudio, 1. August 2001, Ö1.
[1240] [BrucknerP 2001], S. 95.
[1241] [Soeffner 1992a], S. 115.
[1242] Vgl. [Soeffner 1992a], S. 122.
[1243] Saint-Pol-Roux. „Der Ausflug”, zitiert nach: [HeinrichsHJ 1993], S. 9.
[1244] [HeinrichsHJ 1993], S. 7f.
[1245] [HeinrichsHJ 1993], S. 41
[1246] [HeinrichsHJ 1993], S. 128
[1247] [Baumann 1999], S. 131.
[1248] [Scharfe 1985], S. 231.
[1249] [Scharfe 1985], S. 232.
[1250] [BrucknerP 2001], S. 47.
[1251] [BrucknerP 2001], S. 76.
[1253] Brücke. Pfarrblatt für Graz-St. Leonhard, Mai 1999, S. 7.
[1254] [Caduff/Pfaff-Czarnecka], S. 7.
[1255] [Giddens 1996], S. 150.
[1256] Vgl. z.B. [Eberhart/Hörandner/Pöttler 1990].
[1257] [KöstlinK 1994c], S. 92.