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8.10. Semana Santa in Andalusien. Düsterer Prunk im Gedenken an das Leiden Jesu (Günther Jontes) - Langtext

Die Karwochenbräuche waren in den österreichischen Alpenländern bis zum Aufkommen der Aufklärung im 18. Jahrhundert von zahlreichen individuellen und kollektiven Bußübungen geprägt, die sich in kirchlich inspirierten und organisierten Brauchformen wie Volks- und Ordensschauspiel, Ölbergandachten, Kreuzwegverehrung, Bußprozessionen durch die Straßen der Orte oder hin zu Kalvarienbergen äußerten. Dazu kamen auch spezifische kulturelle Ausprägungen in Fastenspeise, Kirchenschmuck, Musik usw. Staatsabsolutismus und Aufklärung hatten schon unter Maria Theresia (1740–1765) oder den Salzburger Bischöfen als Landesherren mit Zurückdrängung und Abschaffung dieser zum Teil unerhört aufwendigen Brauchübungen begonnen. Was Joseph II. (1765 –1790) dann noch weiter untersagte, wäre vielfach auch schon deshalb zum Tode verurteilt gewesen, weil die Klosteraufhebungen während seiner und seiner Mutter Regierungszeit dem Karwochenbrauchtum vielfach auch den materiellen und organisatorischen Hintergrund der Masseninszenierungen entzogen hatten.

Nur mehr wenig erinnert heute im gewandelten Fastenzeit-, Karwochen- und Osterbrauch an die einstige Fülle barocker Volksfrömmigkeit. Selbst materielle Zeugnisse sind nur mehr in relativ geringer Zahl erhalten geblieben. Wer sich heute im christlichen Europa eine Vorstellung von dem machen will, was bei uns einst diese „heilige Zeit” im Jahr bedeutet hatte, der muss in die romanisch-mediterrane Welt blicken, wo in Spanien, Portugal, Italien, auch Malta noch hoch entwickelte Brauchformen als volkstümliche Massenkultur existieren. Dort ist nämlich vieles an äußerem und innerem Formenreichtum, an psychischen Grundlagen und liturgischen Verfestigungen nach wie vor in großartiger Breite und Intensität am Leben und ermöglicht dadurch ein besseres Verständnis der für unsere Landschaften und Länder nur mehr mit den Methoden der Kulturgeschichtsforschung und der historischen Volkskunde zu fassenden Brauchformen.

8.10.1. Semana Santa als spanisches Phänomen

Spanien ist heute wohl das absolute Zentrum der Theatralik der Karwoche – der Semana Santa – als Büßerzeit. Und hier sind es vor allem die großen Städte Andalusiens, die nicht nur eine immense Fülle an gestaltenden Vereinigungen, die solches üben, besitzen. Allem Anschein nach ist diese sich prunkvoll nach außen präsentierende Bewegung von Brauch-Großformen noch immer im Wachsen. Denn diese werden wie einst bei uns von sozialen Verbänden, den Bruderschaften getragen. Man nennt diese in Spanien „cofradías” (aus lat. confraternitates „Bruderschaften”) oder auch spezifizierend „hermandades de penitencia” („Bußbruderschaften”). Sie besitzen zum Teil seit Jahrhunderten aufwendig gearbeitete Bildwerke des leidenden Christus und der schmerzerfüllten Muttergottes, prunkvolle Tragebühnen, kostbare Paraphernalien und dazu eigenständige, verhüllende Büßerkleider, Wappen, Musikkapellen. Sie feiern ihre Zusammenkünfte in eigenen Häusern, ihre Prozessionen – der Höhepunkt ihrer Tätigkeit – nehmen an genau definierten, zu ganz bestimmten Stunden ihren Ausgang von ganz bestimmten Kirchen, ihre Umgangsroute ist ganz genau und traditionell festgelegt. In diesen Prozessionen vereint sich in besonderer Weise die ausgeprägte Marienfrömmigkeit der romanischen Welt mit der Verehrung des leidenden Christus.

Wie groß heute noch die Grundlagen der Bußprozessionen in Andalusien sind, geht aus der Tatsache hervor, dass allein in Sevilla 57, in Granada 40 und in Cordoba 28 Passionsbruderschaften existieren und tätig sind! Dazu kommen noch die kleineren Städte und Dörfer dieses Landes.

In den Karwochenbräuchen muss man generell zwei Komplexe voneinander trennen, die einerseits biblisch-kirchlich-liturgisch, andererseits naturmagisch-außerkirchlich bestimmt sind. Ostern (span. pascuas) ist ein bewegliches Fest, das sich am Termin des jüdischen Pessachfestes[1545] orientiert, das sich knapp vor dem Jesu Leiden und Tod wie die Evangelien berichten, abspielte. „Vorchristlich”, „außerchristlich” ist all das, was in unseren Breiten an Natursymbolik, wenn auch zum Teil biblisch ableitbar, in das Brauchleben dieser Vorfrühlings- und Frühlingszeit eingeflossen ist: Palmbuschen, Palmesel, Osterei, Fleischweihe/Speisensegnung oder Osterfeuer. Die großen Schaubrauchformen allerdings sind ganz aus den Evangelienberichten abzuleiten und haben ihre Ausbildung und Ausschmückung vom Frühmittelalter an bis hin ins Barock herauf erfahren: Palmprozession, österliche Fußwaschung, Passionsspiel, Ölbergandacht, Heiliggrab, Christi Grablegung, Auferstehung und Himmelfahrt. Die dramatisch eindrucksvollsten Momente in den Berichten der Evangelisten wurden vom Wort her in die Aktion umgesetzt, auf Bühnen, vor dem Altar oder in Prozessionen gespielt. Dazu hatten Karwoche und Ostern mit der Fastenzeit eine weit gespannte Zeit der Vorbereitung durch Zurücknahme sinnlicher Bedürfnisse des Gläubigen gemein, wie sie in Nahrung, Lustbarkeiten usw. sonst üblich war. Dadurch wird der Bußcharakter dieses 40-tägigen Fastens vom Aschermittwoch an unterstrichen. Dazu gab es dem sich als Sünder fühlenden Menschen Gelegenheit, sich durch zusätzliche Bußübungen noch strenger zu kasteien, als es die Kirche vom Fastengebot her verlangte.

Die Katharsis der Osterbeichte war ein innerer Faktor der Reinigung, äußere Übungen wie Fasten, Sich-Geißeln, Schlafverweigerung durch Wachen waren mehr individueller Art. Ein wichtiger kollektiver Ausdruck dieser Bußfertigkeit waren in Mitteleuropa bis zur Aufklärung herauf die Bußprozessionen mit ihren Büßergestalten.

Heute sind diese Brauch- und Frömmigkeitsformen aus der Karwoche längst verschwunden. Nur in Italien, Malta, Spanien und Portugal sind sie nicht nur lebendig geblieben, sondern haben bis in unsere Tage herauf – im Zusammenspiel mit Brauchrenaissance und Tourismus – einen steten Aufschwung genommen. Am farbigsten ist die Semana Santa, die „Heilige Woche”, in Spanien und zwar in Andalusien, dem in der Spätantike von den Westgoten, zuvor den germanischen Wandalern/Vandalen besetzten Gebiet, das die 711 eingedrungenen Araber/Mauren noch El Andalus, „Land der Vandalen” nannten.

8.10.2. Historische und kulturelle Grundlagen den spanischen Karwochenfrömmigkeit

Dem Mitteleuropäer gilt der Spanier als derjenige Mensch, der die glutvollsten, gegensätzlichsten Charakterzüge in sich vereint. Landläufig spricht man davon, dass er der Sprache nach romanisch, der anthropologischen Ausrichtung nach iberisch, der Charakterprägung nach gotisch-maurisch sei. Historische Abläufe und Ereignisse wie Reconquista, Franzosenkriege, Spanischer Bürgerkrieg sind voller Grausamkeiten. Im die Massen unterhaltenden Stierkampf wird dieser Zug ritualisiert und zu einem Fest des Todes. Die spanische Geschichte kennt Charaktere voller Stolz bis hin zur Arroganz, dazu Machismo neben edelster Minne. Der spanische Barock bringt die prunkvollste Ausformung dieser europäischen Kulturepoche in der Bildenden Kunst, in Architektur und Dichtung. Die starre ständische Gliederung erhielt sich durch Jahrhunderte, ebenso ein angemessener Codex von Ethos und Moral, Sitte und Brauch. Das spanische Hofzeremoniell war für das übrige imperiale Europa vorbildlich. Und jedes spanische Lebenselement trägt bis heute in Teilen all das noch in sich.

Ein formvollendeter Ausdruck dieser Haltungen, besonders auch im tief verankerten, aus der Tradition kommenden Formalismus ist in der heutigen Zeit noch immer die Semana Santa, die mit grandiosem Überschwang im äußeren Aufwand gefeiert wird. Aurora León hat dieses Ereignis als aus „naiver Natürlichkeit” und „ungezügelter Euphorie” gespeistes Drama des Leidens und Sterbens Jesu Christi gesehen.[1546] Am großartigsten erscheint noch heute diese spezifisch spanische Ostertheatralik in Andalusien, und hier besonders in der Stadt Sevilla.

Die Buntheit des Geschehens, die Pracht der Requisiten und die feierlich-festliche Gestimmtheit der Mitwirkenden lässt sich aus mehreren Wurzeln her erklären. Zum einen sind es wesentliche Elemente katholischer Glaubensübung mit ihrer starken Symbolik und belehrenden Umsetzung zur Läuterung des sündigen Menschen, zum anderen die Lust an der Darstellung biblisch und literarisch vorgegebener Handlungen, die das Jahr über an die feste Bühne des Ordens- bzw. weltlichen Theaters gebunden waren und nun in das helle Licht des Tages oder in die Finsternis der Nacht treten konnten. Ein Schaubrauch im echten Sinn des Wortes steht vor uns. Wichtig ist die Feststellung, dass die ganze Breite solcher Darbietungen sich nur im Schoße städtischer Kultur mit ihren Ressourcen an Menschen und materiellen Grundlagen entfalten kann. Die Menschen tragen eine besondere existenzielle Haltung in sich, die zu gutem Teil aus einer skeptischen Sicht des menschlichen Daseins und einem sich daraus ergebenden Formalismus besteht, dem man sich im Glauben überlässt, wenigstens für seine Seele und seine eigene Jenseitserwartung das Bestmögliche getan zu haben. Betraf dies den Gläubigen der Vergangenheit in stärkerem Maße als heute, so ist dieser Formalismus, wie er sich in der streng ritualisierten Inszenierung der Bußprozessionen der Semana Santa in der Gegenwart offenbart, noch immer ein Rest dieser stark konservativen Geisteshaltung, auch wenn sich diese heute besonders im Äußeren zeigt, zuweilen auch schon erschöpft.

Die Semana Santa zieht ihre Pracht und Buntheit auch aus der geographisch- klimatischen Situation Andalusiens, das zwar am Fuße eines auch im Frühling noch schneebedeckten Hochgebirges – der Sierra Nevada – liegt, in dem aber ganz im Gegensatz zu den in dieser Jahreszeit meist noch spätwinterlichen Alpenländern Sonne und Licht in der Ebene die Farben des Frühlings in ungeahntem Maße erstrahlen lassen, die Natur bereits Blüten, Blumen und Früchte in Menge hervorbringt, die keine pflanzlichen Substitute erfordern, wie es bei uns Palmkätzchen für Palmwedel und bunter Papierschmuck für echte Blumen sind.

Die kulturelle Eigenheit der Semana Santa ergibt sich auch aus dem Reichtum, den hier fremde Kulturen in oftmaliger Übereinanderlagerung hinterlassen haben. Römische, germanische, maurische und christliche Hochkulturen gipfeln – eigenständig umgearbeitet – im spezifisch Andalusischen, in dem mediterrane Sinnlichkeit zur Assimilation geistiger Strömungen genauso beigetragen hat wie römisch-antiker Pragmatismus, orientalische Buntheit und fanatisches Christentum, das hier als Düsterstes die Inquisition mit ihren Autodafés (Ketzergericht und -verbrennung im Zuge der Gegenreformation) hervorgebracht hat.

Ebenso muss man bei Betrachtung der realistischen Bildwerke als Requisiten der Prozessionen auf die Tatsache hinweisen, dass einst ein großer Teil auch der städtischen Bevölkerung analphabetisch war und deshalb solche „realen Bilder” in recht drastischer Weise und grausamer Dramatik in die Stimmung der Bußfertigkeit hineinführten. An ihnen konzentriert sich bis heute Reichtum und Repräsentationswille der Bruderschaften.

Die Heilige Woche als jährlich gespielte Wiederholung der Leiden Christi erreichte ihre größte Prunkentfaltung im „Siglo de oro”, dem Goldenen 17. Jahrhundert und hat sie im Grunde bis heute beibehalten. Das Konzil von Trient (1545–1563) hatte dazu die theologischen und liturgischen Grundlagen geliefert, indem es Strenge und Regelhaftigkeit in der Liturgie und in der Bilderverehrung verlangte und ganz allgemein die Bräuche der katholischen Restauration neu regelte. Die neue gegenreformatorische Kampftruppe der von dem Spanier Ignatius von Loyola gegründeten Gesellschaft Jesu, der Jesuiten, spielte in der Umsetzung dieser Ideen die größte Rolle. Man hatte erkannt, dass das Volk sich von der von der Kirche getragenen Theologie als Produkt gelehrten Disputs und wissenschaftlicher Kategorisierung abwendet, ja sie gar nicht versteht, sie den Priestern überlässt und sich folgerichtig auf das Greifbare, Bildhafte, Theatralische konzentriert. Und dieses war einst und ist auch jetzt Kernpunkt der Semana Santa. Dass dies auch zu Oberflächlichkeit führt, in Frömmelei, Heuchelei und Sinnentleerung münden kann, ist offensichtlich, teilt diesen Wesenszug aber auch mit zahlreichen anderen Zügen der Volkskultur.

8.10.3. Zur Psychologie des Brauchtums der Semana Santa

Dort, wo Religion und Streben nach Gotteserkenntnis an ihre Grenzen stoßen, wo das Individuum die ersehnte Sicht des Numinösen nicht erreicht, auch nicht durch vielfache körperliche und geistige Bußübungen erzwingen kann, wird die fehlende Innerlichkeit durch äußere Formen ersetzt werden, deren Bestand durch die sklavische Einhaltung von Details und Strukturen gesichert und als Tradition weitergetragen wird. Daraus erwachsen auch vordergründige Geistigkeit, mechanische und ritualisierte Handlungen, zur Schau getragene Inbrunst und kategorisierte Askese. „L'Espana ora y bosteza”/ „Spanien betet und gähnt”, sagen Kritiker einer solchen Grundhaltung. Die Grenzen zwischen Leiblichem und Geistigem, zwischen irdischem und jenseitigem Leben verschwimmen. Daraus resultiert eine zum Teil gewollte Vermischung von Widersprüchlichkeiten wie der Akzeptanz strenger Dogmen und gleichzeitiger moralischer Freizügigkeit. Und ein spanisches Sprichwort teilt von zwei fromm gestifteten Kerzen eine Gott, die andere dem Teufel zu („Encender una candela para Diós y una para el diablo”). All das ist wohl ein Indiz dafür, dass es dem Volk in Zeiten rigoroser, theologischer und mit Bannflüchen und Sündenstrafen belegter Darlegung des Glaubens durch die Kirche und ihre Theologen an tieferer innerer religiöser Überzeugung zu fehlen beginnt. Das Barock als Kultur der Gegenreformation und seine formalen Auswirkungen und Nachwehen im Brauchtum der Semana Santa Spaniens tragen bis heute diese Doppelbödigkeit und diesen Antagonismus wohl als Grundeinstellung in sich. Dazu kommt ein zutiefst barockes mentales Element, dass alles, was nicht rational zu erklären ist, mit dem „Willen Gottes” begründet und erklärt werden kann.

Im Vergleich zum übrigen Europa und auch zur übrigen nichtiberischen, romanischen Welt hat Spanien eine ausgeprägte religiöse Sonderkultur, die teilweise auch rein äußerlich mit der geographischen und politischen Isolierung gegenüber dem östlich davon gelegenen Kontinent erklärt werden kann. Die Pyrenäen und das Meer einerseits, die gewollte Abschließung andererseits, um das Eindringen von theologischen Ketzerideen und reformatorischen Irrlehren zu verhindern, führten zu einer Beschränkung auf eigene Traditionen und deren besondere, von außen unbeeinflusste, weitere Ausgestaltung. Und man konnte sich, um den Zwängen der energisch geforderten Unterwerfung unter kirchliche Dogmen zu entgehen, krampfhaft an diese Traditionen halten und ihre Einhaltung als Festhalten am wahren Glauben ausgeben und selbst empfinden.

8.10.4. Die Prozessionen der Karwoche

Unter den Manifestationen spanischer Volksfrömmigkeit nehmen Prozessionen einen besonderen Rang ein, da sie am eindringlichsten die Öffentlichkeit städtischer Strukturen zum Schauplatz haben. Besonders gepflegt werden aber auch Wallfahrten – man denke an Santiago de Compostela, Zaragoza und Montserrat –, stabile Marienverehrung, Rosenkranzbeten, Litaneien, Novenen (neuntägige religiöse Feiern), Patrozinien- und Ordensfeste. Zu den ganz wichtigen Ereignissen zählt auch das Fronleichnamfest mit seiner Prozession, bei denen kostbare Riesenmonstranzen zur Verherrlichung des Geheimnisses der Eucharistie mitgetragen werden.

Zu solchen Anlässen werden Straßen, Plätze, öffentliche Gebäude und Privathäuser reich geschmückt, letztere häufig auch frisch gefärbelt. Teppiche aus kunstvoll gelegten Blumen und duftenden Gewürzpflanzen bedecken die Strecke, über die der Umgang schreitet. Seine Teilnehmer tragen ihrer Funktion entsprechend traditionelle Kleidung prachtvoller Ausstattung und Auszierung.

Im 17. Jahrhundert erreichte der Kult der Unbefleckten Empfängnis Mariä einen Höhepunkt. Fermin Arana de Varflora hat 1766 in seiner Beschreibung von Sevilla, der Hauptstadt Andalusiens, beschrieben, wie das Volk 1617 die päpstliche Entscheidung über die Haltung der Kirche zu diesem Glaubensgeheimnis aufnahm: „Am 22. Oktober 1617 erreichte um 10 Uhr abends Sevilla die Nachricht des Breve von Papst Paul V. zugunsten des Geheimnisses, was in der Stadt eine allgemeine Rührung hervorrief. Freude erfüllte die Herzen der Bewohner Sevillas und Tränen waren Zeichen ihrer Freude. Die Menschen verließen ihre Häuser und erfüllten Straßen und Plätze, als seien es die angenehmsten Stunden des Tages, alle gratulierten sich gegenseitig. Die Bruderschaft der Nazarener trat mit einer Prozession von mehr als 600 Menschen auf. Alle hatten eine Kerze von einem Pfund Gewicht in der Hand und sangen Lieder zum Preis der unbefleckten Reinheit. Es wurden Feuer angezündet; auf den Straßen, an den Fenstern und Terrassen war eine Festbeleuchtung zu sehen, Feuerwerkskörper wurden abgebrannt. Um Mitternacht ertönten die Glocken des großen Turmes der Patriarchalkirche, denen die Glocken aller Pfarreien und Klöster antworteten. Viele Menschen verkleideten sich, schlossen sich zu Gruppen zusammen und zogen vor den Palast des Erzbischofs, von dessen Balkon der Erzbischof, gerührt vom Jubel seiner Herde herabschaute. Beim ersten Glockenschlag wurden alle Kirchen der Stadt geöffnet und unter den Hymnen und Lobpreisungen verwandelte sich die Ruhe der Nacht in einen fröhlichen Tag. Am darauffolgenden Tag begannen die feierlichen Novenen zu Ehren der unbefleckten Empfängnis ...” (Fermin Arana de Varflora).

Der hier sichtbar gemachte hoch gesteigerte Marienkult zeigt sich auch in den Bußprozessionen der Semana Santa, wo die Kultfigur der trauernden Gottesmutter in Pracht, Zier und Verehrung weit über der des Kreuz schleppenden Christus steht.

Auch Passionsspiele existierten (span. auto sacramental), die auf stabilen Bühnen anfänglich in Kirchen, später wegen des großen Gedränges auch auf Straßen und Plätzen zur Aufführung kamen. Wenn heute die auf Tragebühnen mitgeschleppten Figurengruppen oder Kultbilder der Karwochenprozessionen noch „paso”, also „Schritt” heißen, so geht dies auf die Bühnenterminologie dieser Spiele und des Ordenstheaters zurück, wo eine kurze Szene eines Theaterstückes auch diese Bezeichnung trug. Die Tragebühne heißt auch „trono” („Thron”).

Die Manifestationen der Volksfrömmigkeit waren auch im Grenzbereich zwischen Glauben und opportunistischer Haltung dem Göttlichen gegenüber dienlich, bei klimatischen und landwirtschaftlichen Problemen, Naturkatastrophen oder Kriegsgefahr diesen entgegen zu wirken. Gebet und Prozession wurde als Hilfs- und Lösungsmöglichkeit angesehen und eingesetzt.

8.10.5. Bruderschaften als Träger und Gestalter der Karwochenbräuche

Die in Mitteleuropa so überaus wirksamen geistigen Strömungen der Aufklärung, die dort zu radikalen obrigkeitlichen Eingriffen in das volksfromme Brauchtum führten, gingen an den religiösen Festen Spaniens eigentlich spurlos vorüber. Im säkularisierten 19. Jahrhundert erlangten diese Prozessionen besonders in Andalusien noch größere Bedeutung und zahlreiche neue Karwochenbruderschaften wurden gegründet, eine Tendenz, die sich sogar noch im 20. Jahrhundert ungebrochen fortsetzte. Die reisebeschreibende Literatur der beiden vergangenen Jahrhunderte weist immer wieder auf diese Ereignisse hin, die in zunehmendem Maße auch touristische Besucher anlockten. Auch heute zieht die Semana Santa mit diesem von Touristen als folkloristisch empfundenen bunten Spektakel Abertausende Besucher aus der ganzen Welt an.

Am ursprünglichsten und lebendigsten hat sich das alte spanische Bruderschaftsbrauchtum der Karwoche in Andalusien und seinen größten und historisch bedeutsamsten Städten Sevilla, Granada und Cordoba erhalten. Schon im Mittelalter gab es dort die „hermandades de luz”, die „Lichtbruderschaften”, die sich dann im 16. Jahrhundert zu Beginn der Neuzeit zu Bußbruderschaften (span. cofradías) wandelten. In Sevilla gilt als erste dieser Passionsbruderschaften die „Cofradía Nuestro Padre Jesús de Pasión”, die 1531 entstand.

Die zwei im Deutschen jeweils ohne weiteres als „Bruderschaft” zu übersetzenden spanischen Begriffe „cofradía” und „hermandad” müssen in den Anfängen ihrer Entstehung gegeneinander abgegrenzt werden. Die „cofradía”/Fraternität ist ein Zusammenschluss von Personen, die gemeinsam religiöse Gedanken umsetzen will und besonderes Gewicht auf Werke christlicher Nächstenliebe legt. Die „hermandad”/Bruderschaft hingegen besteht aus Menschen gleicher ständischer Stufe, also etwa gleichen Berufes, die zwar auch gemeinsame, religiöse Ziele verfolgen, ihren Zusammenschluss aber vor allem unter dem Aspekt gegenseitiger Hilfe und Wohltätigkeit sehen. Später verwischen sich die Grenzen, so dass etwa heute in den offiziellen Namen und Titeln der Karwochenvereinigungen die Begriffe „hermandad y cofradía” gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Diese geistlichen Laienbünde waren zum Teil auf Berufsgruppen hin orientiert, was teilweise heute noch spürbar ist, wenn etwa eine der bekanntesten Vereinigungen in Sevilla im Volksmund den Namen „las cigarreras” führt und sich damit auf die Arbeiterinnen der bekannten Tabakfabrik bezieht. Ständisch benannt sind hier auch „los panaderos”, die „Bäcker”, und „los gitanos”, die „Zigeuner”. Genauso sind andere wiederum mit ihrem volkstümlichen Namen daran kenntlich, dass sie aus bestimmten Stadtvierteln stammen. Stärker war die ursprüngliche ständische Gliederung in der Vergangenheit, wo Gerichtsschöffen, Rechtsanwälte, Kaufleute, Studenten, Adel, Schwarzafrikaner und Mulatten, Matrosen, bestimmte Bruderschaften dominierten.

In Sevilla hat es im Vergleich mit den anderen andalusischen Hauptorten schon immer die meisten Karwochenbruderschaften gegeben. 1579 waren es 30, 1775 46 solcher Vereinigungen. Heute sind es 57. Granada hat zur Zeit 40, Cordoba 28 „cofradías”. In Granada verdient dabei die Tatsache Beachtung, dass nur eine einzige Bruderschaft auf die Barockzeit zurückgeht, die „Cofradía de Nuestro Padre Jesús del Rescate” von 1646. Alle anderen entstanden erst im 20. Jahrhundert und von diesen wurden allein zehn zwischen 1924 und 1928 gegründet. Vier entstanden sogar erst zwischen 1981 und 1983, wobei der starke formale Konservativismus bei den Neugründungen bemerkenswert ist. Auch diese verwenden Requisiten, Kostüme und Paraphernalien, die in Form, Gestalt und Dekoration genau den historisch überlieferten der älteren Bruderschaften entsprechen und von Kunsthandwerkern nach alten Vorbildern hergestellt wurden.

Einst wie heute entfalten die Cofradías ihre öffentliche Wirksamkeit ausschließlich in der Karwoche zwischen dem Palmsonntag (span. domingo de ramos) und dem Karsamstag (span. sabado santo), dessen Prozessionen aber auch noch in den Morgen des Ostersonntags hineinreichen können. Die Einbeziehung auch des Palmsonntags erfolgte allerdings erst im 19. Jahrhundert.

8.10.6. Die Bruderschaften und ihr Verhältnis zu den Autoritäten

Ein Sevillaner Dekret von 1604 wandte sich energisch gegen bestimmte Unzukömmlichkeiten, woraus heute etwas über den Zustand des damaligen Karwochenbrauches deutlich wird. Prozessionen, die nach 9 Uhr abends stattfanden, wurden untersagt. Die Kapuzenmäntel mussten einfach und ohne Zier gehalten sein. Das gegenseitige Ausleihen von Mitgliedern bestimmter Funktionen wurde untersagt, die Bußfeiern in den Kirchen der Bruderschaften auf Gründonnerstag und Karfreitag beschränkt. Jede Vereinigung hatte einen genau vorgeschriebenen Prozessionsweg einzuhalten. Jeder Bruch dieser Anordnungen sollte dadurch bestraft werden, dass diese Bruderschaft im folgenden Jahr nicht an den Feierlichkeiten der Semana Santa teilnehmen durfte. Sicherlich ein sehr wirksames Mittel, die Einhaltung der Vorschriften zu erzwingen!

Die Organisationsformen haben sich bis heute nicht wesentlich verändert. Ein Register wurde angelegt, aus dem der Name der Bruderschaft und der traditionelle Prozessionsweg hervorging. Dieser wurde nach dem Ort der Niederlassung der Cofradía im Stadtgebiet und nach dem Zeitpunkt der Gründung festgelegt. Verschiedene Vereinigungen versuchten deshalb auch, ihre Gründung zurückzudatieren.

8.10.7. Materieller Prunk

Wie sich damals der Konkurrenzkampf zwischen den Bruderschaften um die kostbarste und prunkvollste Ausstattung der Prozessionen gestaltete, davon gibt Ortiz de Zúniga 1677 in seinen „Anales eclesiásticas y seculares” einen Eindruck, wenn er sagt: „In den Bruderschaften offenbart sich eine der größten Herrlichkeiten Sevillas in der Zahl der Kerzen, in der Schönheit der Banner, Standarten und Wimpel, im Silber der Wappen und der Stäbe, im Reichtum der Pasos, der alle anderen großen Städte Spaniens übertrifft. Das ganze dient dazu, die Frömmigkeit aller durch den äußeren Prunk zu fördern. Es ist kein größeres Beispiel reiner christlicher Größe vorstellbar."[1547]

Sevilla hatte damals eine große Zahl berühmter Silberschmiede und Sticker, die die Tragebühnen der Prozessionen mit ihrer Kunst ausstatteten. Noch heute ist der Prunk der Requisiten in Form, Zier und Funktion fast identisch mit dem der Barockzeit. Selbst die Prozessionswege sind dieselben geblieben, nur fehlen die „demandantes” von einst, die „Einforderer”, die Geld für die Anliegen der Bruderschaft sammelten. Eine Reduzierung übertriebener Bräuche ist seit dem 18. Jahrhundert feststellbar, als der aufklärerisch gesinnte König Carlos III. (1759–1788) Einschränkungen dekretierte. So wurden unter ihm die bis dahin üblichen Geißler abgestellt, was damals nur mit Widerwillen befolgt wurde. Die Kirche hatte sich zuweilen schon zuvor eingemischt, nun tat es der Staat.

Die Reduktion gewisser Elemente kann aber auch aus heute nicht mehr recht nachvollziehbaren Gründen geschehen sein. Der einst bei allen Cofradías übliche „ministro munidar”, welcher der Prozession mit einer silbernen Glocke vorangeht und mit Läuten das Kommen derselben ankündigt, existiert heute zum Beispiel nur mehr bei zwei Bruderschaften.

8.10.8. Vermummung der Büßer

Ein besonderes Kennzeichen der Bußgestalten unter den Prozessionsteilnehmern ist auch heute die Verhüllung von Körper, Kopf und Gesicht. Bekanntlich ist Vermummung eine Angelegenheit, die die Obrigkeit bis heute („Vermummungsverbot” bei Demonstrationen) zu verbieten sucht, um Ausschreitungen unter dem Mantel der Anonymität zu verhindern. In den habsburgischen Erblanden geschah dies unter Kaiserin Maria Theresia, die die Unkenntlichmachung der Büßer bei den Karfreitagsprozessionen verbot. Zur selben Zeit geschah dies auch in Spanien. Als damals während der Semana Santa einmal in Madrid Unruhen ausbrachen, wurde für das ganze Land angeordnet, dass die Bruderschaftsmitglieder die Gesichter nicht mehr verhüllen dürften. Dieses Gebot rief heftige Diskussionen hervor, die in Sevilla dahingehend mit einem Kompromiss beendet wurden, dass die Teilnehmer in der Kathedrale vor Beginn des Umganges dem staatlichen Kontrollbeamten ihr Gesicht zeigen mussten, es aber später im Freien verhüllen durften. Der Grund für die rituelle Vermummung ist allgemein wohl darin zu suchen, dass man sich einer asketischen Übung als Sünder unterzog und sich deshalb ungern von den Zuschauern als solcher qualifizieren ließ.

Carlos III. untersagte alle Bruderschaften, die keine Bestätigung ihrer Gründung durch die kirchlichen und weltlichen Autoritäten vorzuweisen in der Lage waren. Eine Folge davon ist heute noch deutlich sichtbar, wenn die Bruderschaften sich mit pompösen Namen bezeichnen, in denen diese königlichen oder sogar auch päpstlichen Bestätigungen aufscheinen, z.B. „Pontificia y real hermandad y archicofradía de Nazarrenos del dulce nombre de Jesús, sagrado descendimiento de Nuestro Senor Jesucristo y quinta angustía de María Nuestra Senora” („Päpstliche und königliche Bruderschaft und Erzfraternität der Kreuzträger des süßen Namen Jesu, des geheiligten Abstiegs unseres Herrn Jesus Christus und des fünften Schmerzes unserer Herrin, der allerheiligsten Maria”).

Eine empfindliche Einbuße an Kostbarkeiten, Requisiten und Archivalien der Bruderschaften brachte die Zeit der französischen Invasionen und der Besetzung durch Napoleons Truppen, besonders 1808, als durch Brandschatzung und Plünderungen der meiste Schmuck der Pasos vernichtet wurde.

8.10.9. Strukturen und Abläufe der Prozessionen bis heute

In Sevilla entstand nach dem Ende der Franzosenkriege die Gliederung der Prozessionen, wie sie noch heute besteht. Die Bruderschaft schreitet dabei zuerst einen inoffiziellen, ihrer Tradition entsprechenden Weg ab, der von der Mutterkirche bis zur Plaza de Campana führt. Dann beginnt eine von allen Bruderschaften in gleicher Weise einzuhaltende Route („carrera oficial”). Diese beginnt auf der Plaza de Campana, geht zur Kathedrale und dann zur Plaza de la Virgen de los Reyes, wo sich das Erzbischöfliche Palais befindet, von dessen Balkon aus der Kardinal zusieht. Diese Wegstrecke wird von zahlreichen Tribünen und Stuhlreihen für Zuseher gesäumt. Die am schönsten geschmückte Tribüne für besondere Prominenz steht vor dem Rathaus auf der Plaza de San Francisco. Den Schluss bildet für jede Bruderschaft wieder ein individueller traditioneller Weg zur Mutterkirche zurück, der sich durch die verwinkelten Gassen der Altstadt bewegt. Jede Cofradía hat im Übrigen während der Karwochen zwei Prozessionen, eine während des Tages und eine nächtliche.

Die Stadtverwaltungen, oft auch die Fremdenverkehrsverbände, geben jährlich einen in großer Auflage verbreiteten gedruckten Führer heraus, in dem alle Karwochenprozessionen mit Zeitablauf und Route angegeben sind. Die einzelnen Bruderschaften werben auch mit Plakaten für ihre Umzüge.

Die Prozession beginnt damit, dass sich zur genau festgesetzten Stunde das Tor der Bruderschaftskirche öffnet und der Aufmarsch der „Nazarenos” (auch „encapuchados” „Kapuzenbekleidete” genannt) beginnt – wie die mit dem traditionellen Kleid, der Tunika, in den Farben der Cofradía und der spitzen Kapuze (span. capirote oder caperuza) angetanen Mitglieder heißen. Sie gehen in Zweierreihen, tragen Sandalen oder sind auch barfuss, was auf persönliche Bußmotivationen hinweist. Jeder hält eine lange Kerze in Händen, die er leicht schräg trägt, um sich nicht mit dem schmelzenden Wachs anzutropfen. Man kann in den Straßen die Prozessionswege optisch genau verfolgen, weil das Pflaster mit unzähligen Wachstropfen bedeckt ist, die von den Kerzen der Nazarenos stammen. Diese sind eigentlich Büßer und bilden mit ihrem Auftreten die eigentliche Sinngebung der Prozession, die jenseits allen Prunkes und aller Repräsentation eine Bußübung ist. Heute finden sich unter den Nazarenos auch zahlreiche Kreuzschlepper. Die einst üblichen Geißler, die sich öffentlich peinigten, sind längst verschwunden. Nur ihr Name „hermanos de sangre” („Blutsbrüder”) haftet noch an ihren weniger rigorosen Nachfolgern mit den Kreuzen.

Außer den Nazarenos gibt es auch die helfenden Mitglieder (span. diputados), die die Prozession ordnen, auf die Einhaltung der Abstände zwischen den Reihen achten und etwa auch das Entzünden der Kerzen besorgen. Sie tragen denselben Habit und führen in Körbchen auch Hilfsmittel der Lichterversorgung mit.

Die Kleidung der Teilnehmer ist der Form und dem Schnitt nach bei fast allen Bruderschaften von gleichem Aussehen, unterscheidet sich jedoch nach Farbe der Tunika, der Gürtelschärpe und nach dem auf der Brust appliziertem Wappen der jeweiligen Cofradía bzw. dem als Medaillon getragenen Abzeichen. Der geheimnisvolle Charakter der verhüllten Häupter der Nazarenos ist durch die hoch aufragende, spitze Kapuze gegeben, deren Form durch einen Kartonkegel gehalten wird, über den der Stoff gezogen ist. Nur Schlitze geben die Augen frei. Diese Bedeckung des Gesichtes hindert auch am freien Atmen, so dass man immer wieder beobachten kann, wie die Nazarenos den Stoff mit der Hand gegen den Mund pressen, um mehr Luft zu bekommen.

Im Übrigen finden sich heute unter den Mitgliedern neben den dominierenden Männern auch zahlreiche Frauen, die man als solche aber erst wahrnimmt, wenn sie in Erfrischungspausen kurz ihre spitzen „capirotes” abnehmen. Ebenso sind auch in zunehmendem Maße Kinder an den Prozessionen beteiligt. Öfters ist die ganze Familie geschlossen dabei.

Nach den langen Reihen der Nazarenos folgt eine kunstvoll in Silberschmiedearbeit und prunkvoller Stickerei gearbeitete Standarte in der Form eines römisch-antiken Labarums mit der Inschrift S.P.Q.R. („Senatus Populusque Romanus”/Senat und Volk von Rom), um daran zu erinnern, dass sich das Leiden Christi während der Römerherrschaft über Palästina vollzog. Der volkstümliche Name dieses Feldzeichens ist „senatus”. Vier Nazarenos begleiten dasselbe. Da sie kunstvoll verzierte Stäbe tragen, heißen sie „diputados de varas”. Dann folgt wieder eine Gruppe mit Kerzenträgern und fünf Mitbrüdern, von denen vier einen Stab und der fünfte das Buch mit den Statuten trägt, das einen prachtvollen, samtenen und mit Silberornamenten verzierten Einband hat.

8.10.10. Die Pasos, ihre Träger und ihre Figuren

Nach dieser Gruppe kommt feierlich schreitend der Vorstand der Bruderschaft, der die ältesten Mitglieder, die „größeren Brüder” („hermanos mayores”), umfasst. Jeder von ihnen trägt einen Würdestab („vara”). Sie gehen direkt vor der ersten der beiden Tragebühnen, dem „paso del Cristo” mit seiner lebensgroßen Plastik des Kreuz schleppenden Christus. Die hölzerne große Plattform („parihuela”) ist ohne Baldachin und wird von eigenen Trägern, den „costaleros”, mittels Holzbalken („trabajaderas”) geschleppt, welche die schwere Last gleichmäßig auf die Schultern der Männer verteilen.

Die Costaleros sind die für den Ablauf der Prozession wichtigsten und wegen ihrer Funktion auch am stärksten beanspruchten Männer, tragen und manövrieren sie doch die tonnenschweren Pasos die lange Wegstrecke durch die engen Gassen der Stadt. Dementsprechend sind sie auch anders gekleidet als die Nazarenos, weil sich ihre Tätigkeit quasi im Bauch der Pasos abspielt, unter deren Gerüste sie ihre starken Schultern stemmen.

Sie tragen ein enges Leinenhemd, das mit einem Tuch gegürtet ist, dazu lange Hosen. Wo man früher ganz charakteristische Schuhe aus Leder oder Leinen mit einer dicken Sohle aus Espartogras sah ( span. alpargatas), nimmt man heute auch schon Turnschuhe wahr. Um mit dem Haupt nicht zu hart an das Gerüst zu stoßen, haben sie auf dem Kopf einen turbanartig gedrehten Stoffwulst (span. morcilla, eigentlich „Blutwurst”!), der dies dämpfen soll. Die Costaleros sind eine „Partie”, eine Gruppe, eine „cuadrilla” mit einem „capataz” als Anführer. Dieser ist eine wichtige Person, weil er von außen mit zwei Helfern die für ihn unsichtbar unter dem Paso verborgenen Träger auf ihrem Weg dirigiert. Da er dies nicht durch laute Kommandos tun darf, bedient er sich bestimmter Klopfzeichen mit einem Stab oder einem eigenen Klopfer auf den hohlen Körper des Paso. Da die Costaleros im Gleichschritt gehen müssen, um die Bühne nicht zum Schwanken zu bringen, bestimmt er auf diese Weise auch den Rhythmus und das Tempo der Schritte. Gerade beim „paso de Cristo” gibt es einen langsamen Schritt (span. Gateao, „wie eine Katze schleichend”) und einen schnelleren, wenn es freiere Plätze zu überqueren oder längere gerade Stücke zurückzulegen gilt. Wenn sie ein Stück besonders schnell bewältigt oder den Paso elegant um die Ecken einer engen Gasse bugsiert haben, dann brandet ihnen aus der sich in dichten Reihen drängenden Menge der Zuschauer immer wieder Beifall entgegen.

Man sieht von den Costaleros, da der untere Teil der Plattform mit Samtdraperien verkleidet ist, nur die sich im Takt bewegenden Füße, wenn sich der Paso vorwärts bewegt. Frische Luft erhalten die Träger durch Öffnungen (span. respiradores) an der Unterseite. Öfters muss die Prozession Halt machen, um den erschöpften Trägern eine Erholungspause zu gönnen. Betreut wird der Paso dabei von zwei wichtigen Personen, dem „aguador” („Wasserversorgern”), der den Costaleros Erfrischungen reicht, und einem Mann, der für Kerzen und Lichter verantwortlich ist und die Pausen benützt, um hier nach dem Rechten zu sehen. Die beiden haben treffende volkstümliche Namen: „Tío del cántaro” („Onkel mit dem Krug”) und „Tío de la escalera” („Onkel mit der Leiter”). Die Tragebühne ruht, während die beiden ihren Pflichten nachgehen, auf rasch untergeschobenen Stützen, die von Helfern im Zuge mitgetragen wurden. Blickt man unter die Draperien, so sieht man die Costaleros auf dem Boden sitzen oder hocken, trinkend, wohl manchmal auch eine Zigarette rauchend.

Bei diesem ersten der beiden Pasos einer Prozession steht in der Mitte derselben eine vergoldetes hölzernes Podest (span. canastilla, eigentlich „Blumenkörbchen”) mit einem großen Kreuz. Die lebensgroß aus Holz in sehr realistischer Weise geschnitzte und bemalte Christusfigur ist mit einer Art Tunika (span. enagua „im Wasser” = Unterrock) aus violettem Samt bekleidet, die mit Ärmelmanschetten aus Spitze und einer goldenen Kette als Gürtel versehen ist.

Der Höhepunkt des Prozessionszuges folgt dann mit dem „Paso del palio” („Paso mit dem Baldachin”), der ganz der Gottesmutter geweiht ist. Diesem zweiten Teil des Umganges geht das von Laternenträgern geleitete Prunkkreuz der zuständigen Pfarre voraus. Es folgen wieder Nazarenos mit brennenden Kerzen und das Banner zu Ehren der Unbefleckten Empfängnis Mariä (span. „simpecado”), das wiederum von zwei Stabträgern flankiert ist. Und dann schwankt die riesige, prunkvollst geschmückte Bühne daher, die man auch den Paso der Jungfrau (span. paso de la virgen) nennt. Vor ihm schreitet der „hermano mayor”, der „oberste Bruder”. Die aus Holz geschnitzte, mit aufwendig gestickten Kleidern angetane Skulptur der trauernden Heiligen Maria steht unter einem prachtvollen Baldachin. Hunderte brennende Kerzen (span. candelería) umgeben stufenförmig das Bildwerk. Traditionellerweise werden diese schon vor der Semana Santa in einer eigenen zeremoniellen Handlung von den Mitgliedern der Bruderschaft gegossen (span. fundir la cera).

Bedeutende Künstler haben die Statuen seit der Barockzeit geschaffen. In Sevilla stammt der „Christus der Studenten” von Juan de Mena, der „Jesus der Passion” von Montanes. Die berühmteste aller Marienstatuen, die „Santa Maria de la Macarena”, die zugleich die Schutzpatronin der Stierkämpfer ist, ist ein Werk von Luisa Roldán, der einzigen Bildhauerin des Barocks in Spanien.

Der Baldachin (span. palio) ist eine eigene Betrachtung wert. Er ist aus besticktem Samt, oft auch mit gemalten Einsätzen mit bildhaften Darstellungen versehen, und wird von sechs silbernen Stützen wie ein Himmel getragen. Draperien (span. bambalinas), die wie Theatersoffitten gearbeitet sind, bewegen sich kräuselnd und glitzernd und tragen besonders bei den nächtlichen Prozessionen zum bewegten Bild dieser traumhaft wirkenden Erscheinung der Jungfrau bei. Quasten und reichgeschlungene Borten vergrößern den Effekt noch weiter, ebenso die über den Baldachin hinausragenden wie Federbüsche aufgesteckten Zierrate (span. cresteria, „Kamm”). Die Natur liefert mit einem Meer von Blumen und Orangenblüten zusätzlichen Schmuck für den Palio. Der Heiligen Maria werden aus den Reihen ihrer Bruderschaft oder deren Umkreis als Votivgaben zur Gelübdeeinlösung immer wieder wertvoller Schmuck und andere Pretiosen geschenkt, die während der Prozession auf dem Gewand der Statue drapiert werden und nach außen Reichtum und Bedeutung der Cofradía dokumentieren.

Da die Figur der Heiligen Jungfrau optisch vor allem durch Bekleidung und Bekrönung wirkt, ist sie als Skulptur eigentlich nur ein Holzgestell, an dem nur Gesicht und Hände in realistischer Bildhauerarbeit gebildet sind. Die Bekleidung aus besticktem Samt geht nach hinten in eine gewaltige, viele Meter lange Schleppe über, die am hinteren Ende des Palio über einen verborgenen Ständer (span. pollero) fällt und in einem kunstvollst drapierten „Fächer” (span. abanico) endet. Besonders geschickte Frauen der Bruderschaft (span. sirvientas) sind für Schaffung, Erhaltung und Präsentation der Kleider der Gottesmutter zuständig.

Der schmerzvolle Gesichtsausdruck ist bestürzend realistisch gestaltet. Die Fassung des Inkarnats (der Hautfarbe) wird meist noch durch eingesetzte Kristalltränen, die die Wangen herabzulaufen scheinen, verstärkt.

Dieser Palio der Jungfrau wird von den Costaleros in einem ganz eigenen tänzerischen Rhythmus getragen, der wie ein Verehrungsgestus wirkt und immer wieder auch spontanen Beifall aus der Zuschauermenge erregt. Zu jeder Prozession gehört auch eine Musikkapelle, deren getragene Weisen, die durch Trommelwirbel und Hörnerklang akzentuiert werden, das alle Sinne erfassende Bild dieses Ereignisses abrunden. Während noch im 19. Jahrhundert der Heiligen Maria der gesamte Pfarrklerus der Bruderschaftstitularkirche nachfolgte, ist es heute nur mehr ein einziger Priester, der ins Pluviale (Vespermantel des katholischen Priesters, Krönungsmantel) gekleidet mit einer brennenden Kerze in Händen hinter dem Palio geht.

Für den ganzen Zusammenhalt der Bruderschaft und die traditionelle Ordnung der Prozessionen ist eine gestaltende Persönlichkeit innerhalb der Vereinigung von besonderer Bedeutung: Der „capillita”, eine Art Archivar und ein lebendiges Gedächtnis für alle Belange der Überlieferung. Von ihm hängt ab, wie die Cofradía in der Öffentlichkeit dasteht, wie ihr Ansehen ist, wie sie im Vergleich mit anderen abschneidet, denn Konkurrenz gibt es auch hier.

Das Publikum der Prozessionen trägt wesentlich zum Charakter der Umzüge bei. Dicht gedrängt säumt es die Straßen, wobei – ganz unangemessen dem religiösen Anlass des Leidens Christi – immer wieder die Aufgeräumtheit der Leute auffällt. Es sind überall Buden für eine schnelle Erfrischung, einen kleinen Imbiss zu finden. Im Gegensatz zur inneren, durch die Sitte gelenkten, strengeren Haltung der Gläubigen zum Fastengebot und zur Rigorosität des Karfreitags etwa in unseren Breiten, wird dies in Spanien im Umfeld der Prozessionen eher locker gehandhabt und Fleischgenuss ist allenthalben zu beobachten. Zum heutigen Treiben am Rande der Prozessionen gehört auch, dass Kinder aus dem Publikum die Nazarenos mit dem Ruf „caramellos, caramellos!” anbetteln und von diesen mit eigens für diesen Anlass hergestellten, großen Bonbons beschenkt werden, deren Papierhülle Darstellungen der Kreuzschlepper und den Hinweis „Recuerdo de la Semana Santa” („Andenken an die Karwoche”) tragen.

Religiöse Spontaneität wird wiederum fühlbar, wenn plötzlich ein Mann aus der Zuschauermenge vor den Palio der Jungfrau hintritt und eine „saeta”, ein Lied auf Leiden und Tod Christi und die Schmerzen Mariä improvisiert, und mit kunstvollen Melismen (melodische Verzierungen, Koloraturen), wie sie der andalusischen Volksmusik eigen sind, verziert. Saetas erschallen oft auch aus der Kehle von Damen, die von einem reich geschmückten Balkon eines Altstadthauses aus der Madonna ihre Verehrung kundtun.

Die Prozessionen der Semana Santa in Andalusien ergeben heute wie einst ein sinnbetörendes Bild: Die bunten, mit den Bruderschaftswappen verzierten Kutten und Kapuzen der Nazarenos, die Umhänge, Standarten und Banner, die Stäbe und Zepter, die liturgischen Geräte der Hermanos mayores, die gebückt einherschreitenden Kreuzschlepper, die feierlich getragenen Trauermärsche der im langsamen Schritt mitmarschierenden Blasmusikkapelle, die Hunderten Kerzen, Blumengebinde, Ampeln, Silberschmiedearbeiten, Goldstickereien, Samt und Seide der prunkvoll gekleideten Marienstatuen mit ihren kristallenen Tränen, dazu das Beten und Singen, aber auch das laute Geschrei und der Applaus des Volkes formen ein Bild eines aufregenden, düsteren, trotzdem dem miterlebenden Betrachter ans Herz gehenden Prunkes, der Ausdruck des stark antithetischen Lebensgefühles der romanischen Völker ist.

Hat man je die Semana Santa in Andalusien erlebt, so kann man ermessen, in welchen äußeren Formen und Emotionen einst auch bei uns die Büßergestalten des Barocks auftraten, bevor die Aufklärung sie zum Verschwinden brachte.

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[Semana Santa Granada 1987] Semana Santa Granada 1987. Programa oficial de Horarios e Itinerarios de las Cofradías que harán su estación pública de Penitencia en los Días de Semana Santa. Granada 1987.



[1545] Pessach, Passah, Pascha: jüdisches Fest, das am 14./15. Nisan (März/April) beginnt und in Israel sieben, in der Diaspora acht Tage dauert. Ursprünglich ein Erntefest, wird es zum Fest der Erinnerung an den Auszug Israels aus Ägypten (2. Mos. 12).

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