Herr Zier, Sie sind, wenn es um Bräuche im Salzburger Land geht, einer, der heimisch und fremd zugleich ist, der innen und außen steht. Als gebürtiger Salzburger sind Sie mit diesen Bräuchen aufgewachsen und haben sie auf mehreren Ebenen erlebt. Als kritischer Schriftsteller haben Sie sich aus diesem Denk- und Handlungsrahmen hinausbegeben und reflektieren ihn oft. Sie haben in ihrer literarischen Arbeit den Begriff „Brauch“ auch immer in seiner weiten kulturwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Dimension verwendet, in der ihn auch die Europäische Ethnologie versteht. Welche Salzburger Bräuche sind für Sie konstruktive Elemente einer Salzburger Identität, welche wirken destruktiv?
Mir ist es immer fern gelegen, Identität an die Existenz von Bräuchen zu knüpfen. Das mag seine Ursache darin haben, dass ich in Lend, also einem Industrieort auf dem Land (eine an sich schon ungewohnte Mischung von Gegensätzen) aufgewachsen bin, wo beispielsweise religionsbezogenes Brauchtum nur am äußersten Rand des Alltagslebens Bedeutung hatte. Auch folkloristische Inszenierungen gerieten kaum in mein – kindliches – Wahrnehmungsfeld. Viel eher war für uns als Kinder der jährliche Fackelzug am Vorabend des 1. Mai eine Art Brauch (bei dem es für uns Buben allerdings in erster Linie auch darum gegangen ist, Fackeln und Fackelreste für unsere Spiele zu erbeuten).
Ich vermöchte also – aus meiner spezifischen Sicht, mit meinen besonderen Erfahrungen – keine Bräuche benennen, welche identitätsfördernd oder -zerstörend wirkten. Vielmehr empfinde ich es eher als besorgniserregend, wenn es für manche Menschen tatsächlich so ist, dass gewisse Signale (Trachtenkleidung etc.) unter Umgehung des Denkvermögens sofort die erwünschte Wirkung zeitigen, da ich ständig die wohl abstoßendsten Begleiterscheinung allen Brauchtums wahrnehme, nämlich seine Indienstnahme für andere Zwecke – vor allem die kühl berechnende parteipolitische Instrumentalisierung, innerhalb der in der Regel blankem Zynismus nicht fernstehende Karrieristen einmal mehr die Menschen für blöd verkaufen, um von ihrer Dummheit zu profitieren.
Kommt in Ihrer persönlichen Identität Salzburg vor und in welcher Weise?
Natürlich ist für mich als Privatperson, aber auch in meinem Beruf als Schriftsteller „Salzburg“ der wesentlichste Teil meiner Identität! Ich kenne überdies keine zweite Autorin, keinen zweiten Autor, die bzw. der sich auf so vielgestaltige Weise, in unterschiedlichen Medien und Genres, immer wieder mit Land und Leuten dieses Bundeslandes künstlerisch aus den verschiedensten Blickwinkeln auseinandergesetzt hätte! Denn es sind auch für fiktionale Geschichten (bei den auf Recherche authentischer Vorfälle und Biografien basierenden liegt dies ohnehin auf der Hand) Erfahrungen – mit Menschen, Institutionen, aber auch das (langjährige) Erleben einer Landschaft – die wichtigste Ressource für die künstlerische Arbeit eines Schriftstellers. Und Qualitätsliteratur zeichnet sich immer – egal, wo auf diesem Planeten sie auch entsteht! – dadurch aus, dass sie im Gegensatz zur Trivialliteratur Schauplätze nicht zu (noch so farbenfrohen) Kulissen und Menschen nicht zu leeren (schablonenartigen) Hüllen verkommen lässt, sondern bei beidem ein Maß an Authentizität (wohl auch das, was man einmal Wahrhaftigkeit nannte) wesentlich ist, das später natürlich die Leser/innen dann auch nicht kalt lässt.
Gibt es Sitten, Bräuche, Rituale, die für Sie und Ihre Familie unverzichtbar im Alltag sind?
Ich wüsste keinen Brauch zu nennen, den meine Familie oder ich wirklich zum Leben, gar Überleben, brauchen würden in dem Sinne, dass unverrückbare, unter Garantie wiederkehrende Daten einem Menschen in seinem von vielen Verunsicherungen bedrohten Leben einen bedeutenden Halt zu bieten vermöchten, wie dies früher in ländlichen – abgeschlossenen – Siedlungsformen gewiss einmal der Fall war!
Natürlich wird mit Kindern, so lange sie dessen bedürfen, der Weihnachtsbrauch gefeiert, hat für Kinder das Osterfest einen fixen Platz. Beide Bräuche zeigen zugleich sehr deutlich, worum es dabei in erster Linie längst geht: um die (aus seiner Sicht legitimen) Erwartungen des Einzelhandels. Es ist wohl keine kühne Annahme, dass von solchen ökonomischen Begleiterscheinungen – die längst in das Zentrum dieses Brauchtums eingerückt sind – entkoppelte Bräuche kaum eine Überlebenschance in breiteren Bevölkerungsschichten hätten.
Als 16-jähriger Schüler lieferte ich einen Beitrag für die damalige Ö3-Jugendsendung „musicbox“ des ORF. Es handelte sich dabei um den satirischen Text einer „Retortensage“ (1971). Mit großer Verblüffung und nicht geringem Amüsement nehme ich drei Jahrzehnte später wahr, dass meine damals Lacherfolge erzielende Grundidee nunmehr in bierernster Realität ihre Wiederaufstehung feiert: Die Gemeinde Wagrain „erfand“ tatsächlich einen „neuen Brauch“, den des sogenannten „Saisonwendfeuers“. Ein groteskes Spektakel, das aber gut den Umgang mit längst Sinnentleertem wie dem Begriff „Brauchtum“ an sich verdeutlicht. Einmal mehr wird Tiefgründiges vorgegaukelt, wo es in Wahrheit schlicht darum geht, einen Weg zu finden, auf irgendeine Weise – aber mit geringerem Mitteleinsatz – bei den von den prominenten Skigebieten inszenierten Materialschlachten der sogenannten „Ski-Openings“ mitzuhalten. Sinnentleerteres, zynischeres Brimborium lässt sich schwer in die Tat umsetzen – oder kommen bald die ersten Wagrainer Skischuh-Bittgänge von Schirm-Bar zu Schirm-Bar, „erfindet“ man vielleicht auch ein paar funkelnagelneue Après-Ski-Bräuche? Wer weiß. Ich habe keinen Prospekt der Gemeinde Wagrain gesehen –, ist darin jetzt Verheißungsvolles zu lesen wie: Nagelneues Brauchtum direkt im Ort vorhanden? Ein ganzer Ort macht offenbar unter Umgehung auch der minimalsten Denkanstrengung bei jeglichem Schwachsinn mit – genügt also das Reiz-, in diesem Fall Zauberwort „Brauchtum“, um sozusagen auf Knopfdruck den Intellekt auszuschalten? Dieser Umstand ist wohl das Bedenklichste an dem absurden, real-satirischen Treiben, denn in Wahrheit lässt mich auch das heißeste „Saisonwendfeuer“ eines sozusagen brandneuen Brauchtums ziemlich kalt.