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Welche Bedeutung haben die Begriffe „Wallfahrt“ und „Pilgern“ im gegenwärtigen Sprachgebrauch? Im Alltag sind wir längst gewohnt, diese Begriffe in profanen Zusammenhängen zu verwenden. Man denke beispielsweise an die Rituale beim Besuch der Grabstätten von Elvis Presley in Memphis (Tennessee) oder Prinzessin Dianas auf dem Gelände von Schloss Althorp. Anhand aktueller Beispiele zeigt sich, dass die wortwörtliche und metaphorische Verwendung immer mehr ineinander übergehen.
Es stellt sich die Frage, ob der Begriff „Wallfahrt“ überhaupt noch ausschließlich für ein religiös oder zumindest überwiegend religiös bestimmtes Handlungsmuster verwendet werden kann bzw. ob sich eine klare Abgrenzung zu beispielsweise eher touristisch ausgerichteten Veranstaltungen noch treffen lässt. Sowohl seitens der Kirche als auch der Teilnehmenden vereinen sich religiöse und sogenannte profane Aspekte und Motive (etwa sportlicher oder touristischer Art), ohne miteinander in Konkurrenz zu stehen. Eindeutigkeit verschwindet auf formal-ritueller Ebene und in Bezug auf die zugrunde liegenden Motivationen der Teilnehmenden. Zahl und Beteiligung an Wallfahrten haben in den letzten zwanzig Jahren deutlich zugenommen. Welche Sehnsüchte und Bedürfnisse vermag Wallfahrt zu stillen und vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund gedeihen diese Sehnsüchte? Welche Funktion erfüllen Tradition und Rituale in diesem Zusammenhang?
Wallfahrt wird im aktuellen Kontext einer generell beobachtbaren Tendenz zur „Wiederbelebung“ von Ritualen und Traditionen betrachtet. Diese Wiederbelebung ist häufig mit dem Verleihen neuer Bedeutungen und Funktionen verbunden. Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation ermöglicht einerseits die Anbindung an Bewährtes in der Vergangenheit, unterstützt damit ein Bedürfnis nach Sicherheit und Bestätigungen von Identitätsentwürfen und erzeugt gleichzeitig einen „Kick“, indem das Alltagsleben durch eine Reihe von kontrastierenden Erfahrungen befristet verlassen werden kann. Dieser sozusagen geschützte Ausbruch aus der Alltagserfahrung vermag schließlich zu einem Gefühl erhöhter Lebensqualität beizutragen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einem „kulinarischen Ritualgebrauch“ sprechen, in dem das Ritualrepertoire der Religionen als eine unter anderen Spielarten genützt wird und nicht mehr unbedingt in direkter Verbindung zu religiösen Bekenntnissen und Glaubensvorstellungen stehen muss. Der Unverbindlichkeitscharakter erlaubt das Erproben von Ritualen über konfessionelle Grenzen hinweg.
Wallfahrt kann als Möglichkeit wahrgenommen werden, sich emotional zu öffnen und Gefühle zulassen und zeigen zu dürfen. Unterstützung findet dies zudem in den Möglichkeiten sinnlichen Erfahrens: bewusstes Schauen, Hören, Riechen, Spüren. Natur- und Körpererfahrung, sakrale Architektur und Kunst, der Geruch von Kerzen und Weihrauch usw. als Elemente einer intensiven „Gegenwelt“, die befristet zu erleben gut tut. Ein Kontext, der emotionale Offenheit erlaubt und fördert und zudem eine gemeinsame Ausrichtung auf ein Ziel hin vorgibt, ermöglicht auch ein Öffnen des Bewusstseins für spirituelle Erfahrungen.