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6.3. Religion, Kultus und Brauch (Walter Hartinger) - Langetext

Auf eine eigenartige Diskrepanz unserer Zeit verweist Arthur Imhof in vielen seiner Schriften: Die Menschen werden immer älter, sie gewinnen dauernd Lebensjahre hinzu und damit Perspektiven langer sinnvoller Lebensgestaltung, gleichzeitig aber haben sie unendlich viele Jahre verloren, diejenigen nach dem Tode im Jenseits, von deren Erwartung unsere Vorfahren mit ihren wenig mehr als 35 Jahren durchschnittlicher Lebenserwartung getragen worden seien.[307] Menschliches Leben in der westlichen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts erfüllt sich weitgehend in dieser endlichen Welt, es kommt aus dem Glauben ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, ohne Glaube an einen Schöpfergott und ohne Bindung an eine konkrete Religionsgemeinschaft.

Man mag manche dieser zugespitzten Positionen anfechten oder modifizieren wollen, unstrittig in der Kulturgeschichtsschreibung ist die Beobachtung, dass sich seit der frühen Neuzeit, besonders intensiv seit der Aufklärung, ein fortschreitender Säkularisierungsprozess vollzieht, der nicht nur versucht, den Bereich von Staat und Kirche sorgfältig zu trennen, sondern auch das theologische Wissen des Einzelnen und die Beziehungen zu einer kirchlichen Praxis mehr und mehr ausdünnt und die Autorität von religiösen Institutionen, von Theologen und Kirchenmännern zum Schwinden bringt.[308] Dieser Vorgang wird unterschiedlich bewertet; er gilt den einen nach der bekannten Formulierung von Kant als Austritt des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, anderen dagegen als Verlust einer notwendigen geistigen Mitte, als Quelle für Orientierungslosigkeit und Grund verzweifelter neuer Sinnsuche. Diese Streitfrage will und kann ich nicht entscheiden; die Findung oder Ablehnung einer Beziehung zu einem Jenseits ist elementarer Faktor jedes individuellen Lebensplanes und jeder Persönlichkeitsformung.

Doch die mir gestellte Aufgabe ist auch leichter und anders geartet, nämlich: eine Beobachtung darüber, inwiefern Religiöses Eingang gefunden hat in die Gestaltung des mitteleuropäischen Kulturlebens und – sofern die Kenntnisse verschüttet worden sind – es wieder sichtbar gemacht werden kann. Und da drängt sich ohne langes Nachgrübeln die Erkenntnis auf, dass das Salzburger Land und das übrige österreichisch-bayerische Umfeld in den letzten eineinhalb Jahrtausenden im Wesentlichen durch das Christentum geprägt worden sind. Und weil dieses zwar geschwächt durch den erwähnten Säkularisierungsvorgang nach wie vor Orientierungsinstanz für viele Menschen der Gegenwart ist und weil es in der Vergangenheit den Anspruch auf Deutung aller Lebensfragen und Durchdringung der allermeisten Lebenssituationen erhoben hat, steht zu erwarten, dass Christliches zum Vorschein kommt, wenn wir fossile oder rezente Lebensvollzüge in unserer Heimat betrachten. Das Denken, Reden und Handeln der Menschen geht aus ihrem kollektiven Gedächtnis hervor, und nachdem diese Menschen bis vor wenigen Generationen zutiefst durchdrungen waren von christlichem Geist, muss uns eigentlich auf Schritt und Tritt in der Inbesitznahme des Raumes, in der Durchgliederung der Zeit und in der Formung der zwischenmenschlichen Beziehungen Christliches begegnen.

Diese so plausibel erscheinende Grundannahme wird freilich häufig außer Acht gelassen, und statt auf Christliches wird bei der Deutung vieler Rituale und Bräuche auf Außerchristliches Bezug genommen. Nicht nur im gegenwärtigen Reden von alten und neuen Hexen wird oft die unterschwellige Weiterexistenz von vorchristlichen Gemeinschaften, von vorchristlichem Heil- und Zauberwissen suggeriert, sondern auch in der Deutung von Bräuchen wie Halloween, das sich gegenwärtig anschickt, jedes Dorf zu erobern.[309] Die Volkskundler wissen zur Genüge, dass vor allem durch die „Deutsche Mythologie” von Jakob Grimm[310] die Theorie einer Erklärung der deutschen Alltagskultur aus den religiösen Überzeugungen und Gebräuchen der Germanen und Kelten in die junge Wissenschaft der Volkskunde eingepflanzt, bis in das letzte Jahrhundert weitergereicht und durch das berühmte „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens”[311] popularisiert worden ist; auch wenn es mittlerweile gesicherte Herleitungen für Christbaum, Maibaum und Firstbaum, für das Böllerschießen an Neujahr, das Wasservogelsingen zu Pfingsten, für die Bettelumzüge an Allerheiligen und den angstmachenden Krampus oder Knecht Rupprecht gibt, nur all zu gern werden in den Kultur-Abteilungen von Zeitungen und Zeitschriften und in manchem attraktiv aufgemachten Buch die alten (überholten) Traditionslinien zu den Germanen, Kelten und Illyrern gezogen. Überall, wo es in unseren Bräuchen laut zugeht, wo geknallt, geschossen oder gelärmt wird, sollen angeblich germanische Götter oder Dämonen vertrieben werden, wo Wasser ausgegossen wird, soll Regenzauber getrieben werden, wo man sich maskiert, soll man sich vor Dämonen und Göttern schützen, wo man blühende Zweige oder grünende Bäume verwendet, soll man Segen und Fruchtbarkeit herbeizaubern.

Gegenüber solchen Deutungen geht der gesamte Trend der jüngeren volkskundlichen Forschung dahin, den möglichen Anteil von germanischen Elementen in unseren Bräuchen für gering anzuschlagen. Groß sind schon unsere Wissenslücken für die Verhältnisse vor der Völkerwanderungszeit. Das oft herangezogene Werk „Germania” des Tacitus stammte von einem Italiener, der Zeit seines Lebens keinen Fuß in die Gegend nördlich der Alpen gesetzt hat und eigentlich auch gar nicht interessiert war an den dortigen Verhältnissen, sondern seinen eigenen, für verdorben erachteten Zeitgenossen einen Sittenspiegel vorhalten wollte. Vieles, was für die germanische Zeit angenommen wird, ist in hohem Maße spekulativ.

Doch unabhängig davon ist es auch ganz unwahrscheinlich, dass es germanischen oder keltischen Druiden oder irgendwelchen weisen Frauen in nennenswertem Maße gelungen sein sollte, ältere religiöse Überzeugungen und Gebräuche in die christlichen Jahrhunderte des Mittelalters oder gar der Neuzeit hinüberzuretten. So fehlte den germanischen Völkern schon einmal eine zentrale Instanz zur Entscheidung von religiösen oder kultischen Streitfragen. Damit dürfte von vornherein eine gewisse Schwäche gegenüber dem Christentum begründet gewesen sein, das auf der Basis eines Kanons an verbindlichen theologischen Schriften und vor dem Hintergrund eines wesentlich weiter entwickelten kulturellen Systems und im Zusammenhang mit militärischer und kultureller Hegemonie verbreitet wurde. Offenbar haben verschiedene Stämme bereits während ihrer Wanderungsphase und noch vor der militärischen Unterwerfung und Eingliederung ins Imperium Romanum christliches Gedankengut in hohem Ausmaß angenommen.[312] Und als dann die fränkischen Könige eindeutig Partei für das Christentum römischer Prägung ergriffen, es zur Staatsreligion machten und auch nicht davor zurückscheuten, alle Hebel der weltlichen Macht für die Glaubenseinheit einzusetzen, war es schnell vorbei mit alten naturreligiösen Traditionen. Dafür sorgten eine umfassende Pfarrorganisation, ein hierarchischer Aufbau der Seelsorge über Pfarrer, Bischöfe und Erzbischöfe bis hinauf zum Papst, eine Klärungsinstanz in Form von Synoden, Konzilien und päpstlichen Dekreten, eine Fülle von Klöstern, Schulen und bald auch Universitäten.

Als dann schließlich seit dem 13. Jahrhundert eine ungeheure Städtegründungswelle durch die deutschen Lande ging, da standen bald mit den Bettelorden genügend Seelsorger zur Betreuung der städtischen Bevölkerung bereit. Angesichts einer solchen Bündelung des christlichen Einflusses fällt es schwer, in nennenswertem Ausmaße ein Überleben von heidnisch-germanischen Kultformen und religiösen Überzeugungen für wahrscheinlich zu halten, zumal diese auch nicht in theologischen, philosophischen und literarischen Schriften oder in sakralen Bauten und Kunstwerken konserviert wurden, so dass sie weiterhin Gegenstand der geistigen Auseinandersetzungen hätten sein können und auch nach Phasen des Vergessens wieder zu einem neuen Leben hätten erstehen können./In dieser Hinsicht darf man eine nachhaltigere Weiterwirkung von den antiken Religionen und Philosophien sowie vom Judentum erwarten. Darauf haben Geschichtswissenschaft und Theologie schon lange aufmerksam gemacht.[313] Christliche Religion und Kult wurden auf dem Boden der griechischen und römischen Antike ausgeformt; viele der frühen Denker wie der Apostel Paulus sind aus diesem Milieu gekommen und haben selbstverständlich ihre philosophische Vorbildung und ihr bisheriges religiöses Denken und Leben mitgebracht. Man hat die christliche Religion als „synkretistisches Gebilde” bezeichnet, „dessen Begrifflichkeit weitgehend aus platonisch-neuplatonischen und stoischen Traditionen hergeleitet” worden ist.[314] Ja, das Alte Testament seinerseits war in die religiösen Systeme des vorderen Orients eingebettet und hat manche Züge aus diesen übernommen. Es fällt nicht schwer nachzuweisen, dass die christliche Durchgliederung des Jahres aus jüdischen und anderen antiken Mustern hervorgeht. Dies gilt beispielsweise für die Rhythmisierung der Zeit in Abschnitten von sieben Tagen Länge, die uns auf babylonische Beobachtungen verweist, welche den Lauf der Planeten (gedacht war damals an die fünf ohne Hilfsmittel erkennbaren Trabanten der Sonne plus die Sonne selbst und den Mond) sowie die Abfolge der Mondphasen in ein System bringen wollten; dies gilt aber auch weitgehend für den christlichen Festkalender, der nicht nur viele jüdische Feste weiterführt, sondern etwa mit dem Weihnachtsfest das ganz und gar unchristliche Fest des sol invictus (des unbesiegten Sonnengottes) aufgreift, um seinen Anhängern zu verdeutlichen, dass mit Jesus von Nazareth die wahre Sonne in die Welt eingetreten sei.[315]

Die christliche Wertschätzung von heiligen Zahlen wie drei, sieben und zwölf hat ebenso zahllose Entsprechungen in den antiken Religionen wie der symbolhafte Gebrauch von Brot, Wein und Wasser oder die Vorliebe für wirkmächtige Handlungen – wie das Umkreisen und Räuchern oder die Wertschätzung des Fastens und die Ablehnung mancher Speisen.[316] All dies aber taucht im Vollzug von kultischen Handlungen bei Gottesdiensten und anderen Versammlungen der gläubigen Gemeinde oder auch im christlichen Volksbrauch wieder auf. Das ist antikes und jüdisches Erbe; es wurde den germanischen Stämmen bereits als gefestigter christlicher Glaube und christlicher Kult vorgesetzt. Insofern können wir aus mitteleuorpäischer Sicht diese Elemente auch als originär christliche bezeichnen. Doch der Antike war es auch noch vergönnt und möglich den Werdegang des christlichen Europa zu beeinflussen, als sich auf ihrem Boden längst neue christliche Machtzentren herausgebildet hatten: Antikes religiöses und theologisches Denken und kultisches Handeln waren in breiter Front in die Schriftlichkeit eingegangen; man konnte auf sie immer wieder zurückgreifen, auch wenn einmal eine Generation oder ein Jahrhundert lang es als abwegig, gefährlich oder sogar als sündig empfunden wurde, sich mit ihnen zu befassen.

Das hat Denkern wie Aristoteles und Platon eine fast durchgehende Wirksamkeit durch die Jahrhunderte hindurch beschert, aber auch alte astrologische Kenntnisse und Spekulationen wurden von den Tagen der Sumerer bis in unsere Zeit weitergereicht. So war es einst allgemeine Überzeugung gewesen, dass die Gestirne das Wetter beeinflussen würden. Darum entwickelte man schon in der Antike bestimmte Lostage, an denen das künftige Wetter offenbar würde und die Zeit günstig sei, bestimmte vom Wetter abhängige Tätigkeiten zu verrichten, etwa mit der Aussaat zu beginnen, eine Reise anzutreten oder Bäume zu fällen. Dieser Teil des antiken Wissens wurde vor allem von den Arabern weitergepflegt und besonders durch jüdische Übersetzer in Spanien seit dem 13. Jahrhundert dem christlichen Europa mitgeteilt. Es floss in die weit verbreiteten so genannten „Bauernpraktiken” ein, die erstmals 1508 gedruckt wurden und von da an zum landläufigen Bildungsgut gehörten, vor allem da sie auch in die Kalender übernommen wurden.[317] Da konnte jedermann nachlesen, wann man am besten Zwiebeln steckte, den Mist aufs Feld führte, Bäume fällte, Hafer säte oder zur Ader ließ.

Dieser ehemals antike Glaubenskomplex, wirkungsvoll noch in den Horoskopspalten unserer Zeitungen und Zeitschriften und im landläufigen Reden von dem Charakter des Einzelnen als „Wassermann”, „Löwe” oder „Skorpion” etc., hervorgegangen aus dem Planeten- und Sternenglauben und deren Besetzung mit Göttern ist nie vollständig verchristlicht worden. Er hat immer wieder zum Widerspruch gereizt. Vor allem, wenn in der popularisierten Astrologie statt von der Zeichenhaftigkeit der Gestirnverläufe von deren echter Wirkmächtigkeit ausgegangen wurde, galt dies den christlichen Theologen als Aberglauben und Sünde.[318] In der verbreiteten Bezeichnung „ägyptische Tage” für bestimmte Lostermine blieb zumindest eine Ahnung von der nichtchristlichen Herkunft derlei Vorstellungen lebendig. Doch durch die Tradierung der antiken Schriften bis in den Buchdruck hinein hat sich jene vorchristliche Epoche immer wieder einen Einfluss sichern können.

Auch jüdisches Kulturgut hatte nach der Verselbstständigung der einstigen „jüdisch- christlichen Sekte” und deren Aufstieg zur Staatsreligion unter den Kaisern Konstantin (306–337) und Theodosius (379–395) die Möglichkeit, den christlichen Kult zu beeinflussen. Immerhin war das Judentum die einzige nicht-christliche Religions- Gemeinschaft, welche man – sieht man von den Zeiten der Verfolgung und Pogrome einmal ab – im Raum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis zu dessen Ende toleriert hat. Das in der Regel friedliche Zusammenleben mit den europäischen Christen über viele Generationen hat zumindest partiell Kenntnisse voneinander vermittelt und mancherlei Adaptionen gefördert. So verwundert es nicht, wenn besonders gern ungesäuerte Brote vom Pessach-Fest, so genannte Juden- Mazzen, von den christlichen Nachbarn für Feuerzauber verwendet wurden, während umgekehrt die Juden den christlichen Ostereiern besondere Wirkungen zutrauten.[319] Auch der „Magen Davids” (Sechsstern) spielte nahezu in allen deutschen Landschaften eine gewichtige Rolle bei der Feuerbannung.[320] Und der unverzichtbare Drudenfuß (Fünfstern) dürfte aus der Kabbala in die mittelalterliche und frühneuzeitliche „christliche” Beschwörungspraxis und die diversen Zauberbücher vermittelt worden sein.[321] Wenn bei manchen Zauberbräuchen unserer Vorfahren gefordert wurde, dass sie nackt vollzogen wurden, so halten Kenner der Materie wie Otto Böcher dafür, dass die Anregungen hierzu aus den jüdischen Reinigungsvorschriften kamen, von denen die christlichen Nachbarn vom Hören-Sagen wussten.[322]

Wie die Juden hatten auch die Zigeuner in Europa eine Sonderstellung innerhalb der christlichen, sesshaften Mehrheitsbevölkerung; dies trug ihnen zwar viele Verdächtigungen und Anfeindungen ein, doch nährte diese Marginalposition auch die Hoffnung auf besondere Kenntnisse und Fähigkeiten zur Erkundung der Zukunft und zur Bewahrung vor Schäden sowie Bekämpfung von Krankheiten. Nun waren die Zigeuner zwar keine nichtchristliche Minderheit, doch bestanden bis zur Gegenwart berechtigte Zweifel an ihrer christlichen Orthodoxie.[323] Dementsprechend war die christliche Bevölkerung immer wieder geneigt, ihnen Geheimwissen zuzutrauen, von dem man unter Umständen profitieren konnte; so waren die Zigeuner nicht nur als fähige Wahrsager gefragt, sondern auch als Produzenten von mancherlei Zauberinventar,[324] als Beschaffer von Zauberbüchern wie des sechsten und siebten Buches Mosis oder von Tarot-Karten.[325]

Über die Zigeuner dürften die Christen hierzulande immer wieder Kontakt zu eher naturreligiösen Vorstellungen, Sitten und Gebräuchen bekommen haben. Doch auch unabhängig von diesem Kontakt muss man unterstellen, dass bestimmte elementare Vorstellungen eine Chance hatten, sich in das Denken und Handeln der christianisierten Völker einzuschleichen, auch wenn die offizielle Kirche so etwas eher als dubios empfand. Das gilt etwa für den Glauben, dass durch Anrührung die Kräfte von einem Menschen oder Gegenstand auf einen anderen übertragen werden können. So etwas liegt unter anderem der christlichen Hochschätzung von Reliquien und Andachtsgegenständen zugrunde. Wenn freilich Frauen mit einem Kinderwunsch heimlich ihren Unterleib an aufrecht stehenden Menhiren rieben, die man überall in Europa als Zeichen einstiger Megalith-Kulturen noch antreffen kann, dann sahen das die Pfarrer gar nicht so gerne.[326] Doch wird man deswegen nicht unterstellen müssen, dass in diesem magischen Brauch Elemente einer Jahrtausende alten Religion überliefert worden seien. Vielmehr ist die Assoziation Menhir (= erregierter Phallus) für einen phantasiebegabten Menschen jederzeit möglich, und die Annahme oder die Erfahrung der Kraftübertragung mittels Berührung ebenso. Auf letzterem Gedanken gründen viele unserer Heilbräuche.

Viele dieser Brauchhandlungen lassen sich nicht von konkreten Religionen ableiten, sondern sind eher Ausfluss der menschlichen Bereitschaft, auch leblosen Dingen oder gar Pflanzen und Tieren eine „Seele” zuzugestehen und von der allgemeinen Wirksamkeit des Prinzips der Analogie („similia similibus”)[327] überzeugt zu sein. Wissenschaft und auch christliche Seelsorger subsumieren diese Aktionen gerne unter der Rubrik „Magie”; darunter versteht man eine Geisteshaltung, welche davon ausgeht, dass durch den entsprechenden „richtigen” Vollzug einer symbolischen Handlung die intendierte Wirkung mehr oder weniger zwingend erzeugt wird. Demgegenüber ist die angemessene christliche Gesinnung die der „Anheimstellung”, d.h. die vertrauensvolle Unterstellung unter den Willen Gottes, dessen Pläne mit dem Menschen es zu akzeptieren gilt, auch wenn sie den momentanen Wünschen und Einsichten nicht entsprechen.[328] Dass auch „aufgeklärte” und vielleicht sogar agnostische Zeitgenossen unserer Tage nicht gefeit sind vor magischen Anwandlungen, lässt sich vielfach beobachten, etwa in der Vermeidung mancherlei Tabus (keine versehentliche Kreuzbildung der Hände bei der Begrüßung in einer Gruppe; Scheu vor der „Unglückszahl” 13; Angst, man könnte sein Glück „verschreien”, wenn man zugesteht, dass es einem gut geht und man gesund ist usw.) oder in der Bereitschaft, technischen Geräten gut zuzureden, wenn sie gerade nicht funktionieren, etwa einem Auto, das im Winter nicht anspringen will.

Als 1859 in Göttingen eine Giftmischerin öffentlich enthauptet wurde, stürzte sich die Menge auf das Blut, um dieses in Taschentüchern aufzusaugen und als Hilfsmittel für mancherlei physische Defekte mit nach Hause zu nehmen.[329] Sie tat dies gewiss ohne einen bestehenden Zusammenhang mit vorchristlichen oder außereuropäischen kultischen Menschenopfern, sondern überwältigt von dem elementaren Vitalstoff „Blut”. Wir können sicher sein, dass derlei auch heute oder morgen wieder passieren könnte.

Überblickt man die Möglichkeiten, wie Religiöses in die Bräuche unserer Landschaft einfließen konnte, so wird man betonen müssen, dass die stärkste Kraft während der letzten 1.500 Jahren das Christentum gewesen ist; es wurde gefordert von den staatlichen Behörden, akzeptiert von den gesellschaftlichen Eliten und verbreitet von einem professionellen Priesterstand. Die Überzeugungskraft dieser Religion war schon in der Spätantike außerhalb des germanischen Kulturraums in einem geschlossenen System aufgebaut worden, welches Antworten anbot zu allen entscheidenden Fragen des Zusammenhangs und der Entstehung dieser Welt, zu den Normen des menschlichen Lebens und des Umgangs der Menschen mit der Natur und der jenseitigen Welt. Gegenüber einer solchen Deutungsmacht, die zudem dauernd Widersprüche und Abweichungen durch Synoden, Konzilien und zentrale Kompetenzen der päpstlichen Führung abwehrte, hatten ältere religiöse Systeme und Bräuche keine Chance, vor allem wenn sie auf dem Stadium von Naturreligionen verblieben waren.

Am ehesten wird man mit der Möglichkeit einer sekundären Wirksamkeit, d.h. nach dem weitgehenden Abschluss der theologischen Kernpunkte und dem Aufbau einer entsprechenden Kultpraxis, rechnen können, wenn eine vorchristliche Religion durch Schriftzeugnisse und/oder unvergängliche Kultbauten und -bildnisse festgehalten wurde. Dies war für das heidnische Germanentum kaum, für die antiken Religionen aber vielfach der Fall. Darum haben nur die letzteren in ungleich stärkerem Ausmaß Bemühungen der christlichen Theologen nach Abgrenzung und Anverwandlung ausgelöst. Mehrere Wellen einer Rezeption der Antike sind aufeinander gefolgt (bis ins 11. Jahrhundert durch Tradierung der Schriften in den deutschen Klöstern; seit dem 13. Jahrhundert durch Übersetzungen aus dem Arabischen, vor allem in Spanien; und seit dem 15. Jahrhundert durch das Einströmen griechischer Gelehrter in das westliche Abendland nach der türkischen Eroberung von Konstantinopel).

Im konkreten Alltag mussten freilich manche Christen die Erfahrung machen, dass die von ihrer Kirche angebotenen Hilfsmittel unwirksam geblieben sind. Darum bestand immer die Versuchung, sich an anderen religiösen Angeboten zu orientieren. Dies war aber bei der Stellung des Christentums als alleiniger Staatsreligion seit den Zeiten der Antike lediglich bei den Juden in Europa möglich und seit dem 15. Jahrhundert bei den nur oberflächlich christianisierten Zigeunern. Diese beiden marginalisierten Volksgruppen standen nicht nur dauernd in einem gefährdeten Spannungszustand zur christlichen Mehrheitsbevölkerung, sondern sie genossen unter Umständen auch den Geruch des Außergewöhnlichen, Geheimnisvollen und darum Attraktiven. So wurden manche jüdische und zigeunerische Elemente in den christlichen Volksbrauch eingebaut, wenn auch nicht besonders viele.

Schließlich bestand immer die Möglichkeit, sich sozusagen auf eigene Faust ein religiöses Denkgebäude zu bauen und ein symbolisches Handlungssystem, das den Einzelnen in Beziehung zu einer hilfreichen Jenseitswelt brachte. Von den überall angebotenen christlichen Grundanschauungen wird man sich dabei kaum wesentlich weg begeben haben, zu massiv wurden diese durch Schule, Predigt, Literatur, Kunst, kirchliche und staatliche Überwachung vermittelt. Doch im einen oder anderen Fall wird es eine Regression zu allgemeinen Anschauungen und Praktiken religiöser Elementargedanken gegeben haben, die wir dem Handlungsmuster der „Magie” zuordnen können. Vor allem gab es sicherlich vielfach die Imitation originärer christlicher Gebräuche, welche metaphorisch oder symbolisch gemeint waren, mit magischen Intentionen. Es darf unterstellt werden, dass in dieser Hinsicht auch oft Unsicherheit bei der Seelsorge-Geistlichkeit bestand.[330] Oft auch hat das gläubige Laienvolk an Gebräuchen festgehalten, welche zunächst einmal die Förderung der offiziellen Vertreter der Kirche gefunden hatten, dann aber aufgrund des Weiterschreitens der Theologie oder neuer Schwerpunkte der Seelsorge eher ins Abseits gekommen waren oder gar als offiziell unerwünscht galten; an der Geschichte des Wallfahrtswesens oder des Rosenkranz-Gebetes ließen sich solche Entwicklungen demonstrieren.[331]

Es wird uns nicht immer gelingen, in jedem Einzelfall die verschiedenen religiösen Komponenten bloßzulegen, welche eine bestimmte Brauchaktion hervorgebracht haben; so wenn Eduard Knuchel das regional übliche Verfahren zur Sicherung eines Saatfeldes vor Vögeln beschreibt: „Man gehe morgens ganz früh auf den Acker, ziehe sich nackt aus, gehe dreimal ohne rückwärts zu sehen und ohne zu sprechen, um das Getreide, bete drei Vaterunser, dann ziehe man sich wieder an, mache etwas Schwefeldampf, nehme eine Kornähre in den Mund und gehe dann ohne zu sprechen nach Hause.”[332] Der sezierende Blick des Wissenschaftlers wird vielleicht Elemente des christlichen Kultes entdecken (Umgang um die Felder, Bedeutung der Dreizahl, Schweigegebot bei bestimmten asketischen Übungen) oder der jüdischen Kultpraxis (Nacktheit bei Reinigungsriten) oder naturwissenschaftlicher Kenntnisse oder Spekulationen (Wirkung des Schwefeldampfes), doch verbietet man es sich innerhalb der Volkskunde gegenwärtig, solche Aktionen/Bräuche als „Aberglauben” zu apostrophieren. Dieser Begriff stammt aus dem Repertoire der Seelsorge-Geistlichkeit und signalisiert nur jeweils unterstellte Abweichung von der eigenen, für „richtig” gehaltenen Übung oder Haltung.[333] Sogar gegen den Begriff „Volksglauben” gibt es in der gegenwärtigen Volkskunde-Forschung Aversionen, weil man ihm in einem Teil der Forschung (namentlich im Rahmen der von den Historikern betriebenen „Alltagsforschung” oder „Geschichte von unten”) die Qualität eines selbstständigen religiösen Systems, welches sich gegenüber den Eliten behauptet habe, angehängt hat.[334] Demgegenüber ergibt sich als Quintessenz unserer Überlegungen, dass wir in der Regel bei der christlichen Lehre und bei christlichen Kulthandlungen ansetzen müssen, wenn wir uns über die religiösen Hintergründe von Bräuchen der Vergangenheit und Gegenwart klar werden wollen.

Freilich gilt es zu betonen, dass der Anteil des Religiösen im Komplex von „Sitte und Brauch” nicht ins Unermessliche gesteigert werden sollte. Die ältere volkskundliche Forschung wollte neben der Religion eigentlich gar keinen anderen „Wurzelgrund” unseres Brauchgeschehens anerkennen[335] 29 und war dementsprechend überzeugt, es handle sich um „Verfall” und „Abstieg”, wenn einmal ein „Brauch ohne Glauben” festgestellt werden musste.[336] Demgegenüber betont die moderne volkskundliche Forschung, dass Bräuche, d.h. ritualisiertes Handeln der Menschen, aus unterschiedlichsten Motiven zustande kommen können: etwa aus Freude an Spiel und Unterhaltung, aus der Fähigkeit zu metaphorischem Handeln und Symboldenken, zur Herstellung sichtbarer Sozialbeziehungen oder zur Verdeutlichung von Rechtspositionen und insgesamt zur Scheidung von Eigenem und Fremden, zur Erzeugung von Verhaltenssicherheit, zum Abbau von Stress und zur Entlastung von psychischen Spannungen. Demnach wäre Religion (die Beziehung zum Numinosen) nur eine von mehreren denkbaren Motivationen für das Brauchwesen, wenn auch eine sehr wichtige.

In gewisser Weise hat sich also der Brauch von der Religion emanzipiert, zum einen faktisch, indem ursprünglich religiös gemeinte Handlungen andere Motivationen aufgenommen oder betont haben, und zum anderen indem kulturwissenschaftliche Forscher nicht mehr so ausschließlich auf Religiöses fokussiert sind, wenn sie sich mit der Analyse von Bräuchen befassen. Dies gilt auch, wenn man auf die Kultus- oder Ritualforschung sieht. Diese Begriffe wurden und werden auf weite Strecken hin ausschließlich oder bevorzugt im Zusammenhang mit Religion benützt. Sie umschreiben die Konkretisierung von Theologie und Religion in einer bestimmten historischen Realität.[337] Es herrscht Einigkeit darüber, dass keine Religion auf Dauer ohne solche Aktionen auskommen kann, in denen die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft als religiöse Sondergruppe agieren, ihre Form der Begegnung mit dem Jenseits und der Pflege der Beziehungen zu jenseitigen Mächten in eine verbindliche Form bringen und sich auch so in ihrer Stellung gegenüber Andersgläubigen vergewissern.[338]

Freilich war die Wirkung des Jesus von Nazareth als Stifter der uns interessierenden christlichen Kirche zunächst geprägt durch Kritik der Frömmigkeitspraxis seiner Zeit, und auch der Urkirche wird noch für eine ganze Weile „ein kultloser, wenn nicht gar kultkritischer Anfang” bescheinigt.[339] Doch spätestens zu dem Zeitpunkt, da die neue christliche Religion die Qualität der alleinigen Staatsreligion erhält, wahrscheinlich aber bereits, als sie sich anschickt, Volksreligion zu werden, entwickelt sie auf breiter Front einen Kultus[340], d.h. „wirkungskräftige Formen, ... um das religiöse Erleben des Einzelnen in der Gemeinschaft und zwischen der Gemeinde und der Gottheit zu ermöglichen und zu bewirken. Der Kult ist kein Sondergebiet, sondern der Hauptaspekt jeder Religion”.[341] Bis zur Gegenwart bestimmt wahrscheinlich stärker der christliche Kult als die christliche Theologie die Eigen- und Fremdwahrnehmung der christlichen Kirche. Dementsprechend groß darf der Anteil an der Modulierung des mitteleuropäischen Brauchtums veranschlagt werden, wie wir gesehen haben.

Allerdings hat sich in jüngster Zeit die Überzeugung durchgesetzt, dass Rituale als symbolische Handlungen nicht nur außerordentlich kennzeichnend für das religiöse Leben sind, sondern „dass sie in fast allen Bereichen des kulturellen Lebens”[342] auftauchen. Man spricht darum neuerdings auch von „Performance” oder „sozialem Drama” und will so verdeutlichen, dass in Kult, Ritual etc. Grundformen der sozialen Aktion vorliegen, ohne welche menschliche Kommunikation und Interaktion praktisch nicht möglich ist. Die Volkskunde hat seit ihren Anfängen diesem Komplex unter der Rubrik „Sitte und Brauch” Aufmerksamkeit geschenkt. Die besondere Affinität zum Bereich der Religion wurde dabei verdeutlicht durch den Begriff der „Sitte”; er sollte zum Ausdruck bringen, dass nur solche routinisierten Handlungen gemeint waren, deren Befolgung gleichsam von der jeweiligen Gemeinschaft oder Gruppe gefordert und deren Unterlassung sanktioniert wurde, nicht also die privaten Verhaltensauffälligkeiten, Gewohnheiten und „Schrullen”, so bezeichnend diese im Einzelfall zur Charakterisierung einer Person auch sein mochten.

Das Ritual wird heute als ein Phänomen sui generis betrachtet, das allen Aspekten der Kultur und des geistigen Lebens eigen ist und nicht nur der Religion. Darum hat sich ein fächerübergreifender Forschungszweig der „Ritual studies” entwickelt, welcher die Strukturen und die Funktionen von Ritualen herausarbeiten will.[343] Es gehört zum Wesen von Ritualen, dass ihre einzelnen Elemente stilisiert werden, dass sie in der Regel an besondere Orte, Zeiten und Umstände gebunden sind, dass sie wiederholt werden und die Neigung zu Stereotypen haben. Damit setzen sie Grenzen gegenüber den Personen und Gruppen, die sich der entsprechenden Rituale nicht bedienen und erzeugen so erst das Gefühl für Zusammengehörigkeit, Vertrautheit und menschliche Nähe, ohne dass sich der Einzelne ausgeliefert fühlen müsste. Sie grenzen also einerseits ab und schaffen andererseits Gruppenzusammenhalt. Damit erzeugen sie letztlich Ordnung in den ansonsten chaotischen Beziehungen der Menschen untereinander und im Verhältnis von diesseitiger und jenseitiger Welt, sie gewähren Verhaltenssicherheit und entlasten jeden Einzelnen von der Notwendigkeit, in jeder Situation seines Lebens eine „richtige”, von allen anderen akzeptierte Form seiner Äußerungen finden zu müssen. Diese Leistung gilt generell, aber sie gilt natürlich auch im Bereich des religiösen „Sich-Verhaltens”.

Innerhalb der Volkskunde wurde dieser Sachverhalt üblicherweise unter den Begriffen „Brauchtum”, „Sitte und Brauch” oder eben nur „Brauch” abgehandelt. Zu verabschieden ist wie dargestellt, die einst weit verbreitete Auffassung, dass man „in den meisten Fällen als Quelle der eigentlichen Sitte als solcher die Religion erkennen kann”[344] oder „dass wir bei fast allen Bräuchen als Grundlage einen Glauben finden ”.[345] Nichtsdestoweniger „ist der Zusammenhang zwischen Sitte und Religion in der ganzen Kulturentwicklung von unermesslicher Bedeutung”.[346] Vor allem die christliche Religion hatte über fast eineinhalbtausend Jahre hinweg Zeit, unseren Bräuchen ihren Stempel aufzudrücken.[347] Nur müssen wir uns davor hüten, von „Verfall”, „Verfälschung”, „Abstieg”, „Degeneration” oder „Verderbtheit” zu sprechen, wenn im Bewusstsein der entsprechenden Brauchträger die religiösen Komponenten nicht (mehr) präsent sind. Die Geschichtlichkeit alles menschlichen Lebens bringt es mit sich, dass auch Bräuche sich wandeln müssen und sich den jeweiligen Zeitumständen anpassen.[348]

Für den analytischen Wissenschaftler ist es trotzdem von hohem Nutzen, bei der Betrachtung von Bräuchen die verschiedenen Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzen, gegebenenfalls auch die religiösen, zu isolieren und so unser Wissen über die Art und Weise, wie Menschen sich in dieser Welt einrichten, zu vermehren. Dabei erweist es sich als taktisch klug, wenn man den einzelnen Brauch nicht von vornherein als geschlossenes System betrachtet, sondern als ein Gebilde, das sich aus mehreren Teilen zusammensetzt und dadurch aufgeschlossen werden kann. So empfiehlt es sich, immer ein besonderes Augenmerk auf die Träger oder aktiv Handelnden zu werfen. Wenn ein und derselbe Brauch einmal von Menschen ausgeübt wird, die der Kirche nahe stehen, und ein anderes Mal von solchen, die der Kirche ferne stehen, dann darf man etwa auf elementar andere Funktionen schließen. Man denke nur an das Sonnwendfeuer, das von Gruppen der HJ entzündet wurde oder von Ministranten in den Pfarreien; handelt es sich dabei noch um den gleichen Brauch? Oder wenn heute im Dienst der Weltmission solche Ministranten als Sternsinger von Haus zu Haus gehen, ist das nicht eine wesentlich andere Sache, als wenn die Dorfarmen das Nämliche tun?

Eine ähnliche Aufmerksamkeit sollte dem Zeitpunkt der Realisierung eines Brauches gewidmet werden, um unter Umständen seine religiösen Konnotationen zu erkennen. Wenn etwa früher die armen Menschen zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten auf Betteltour von Haus zu Haus gingen, so wollten sie nicht nur an der Festesfreude der vermögender Leute teilnehmen, sondern appellierten damit unausgesprochen an das christliche Liebesgebot, das im Sinne einer umfassend verstandenen Nächstenliebe die Sorge für Arme und Kranke jedem Christen zur Pflicht macht; wenn sie dies aber besonders ausgiebig zu Allerheiligen taten, dann stellten sie sich in die gedankliche Nähe zu den Armen Seelen, welche ebenfalls auf die Hilfe der Mitglieder der streitenden Kirche angewiesen waren. Es galt geradezu als eine unmittelbare Hilfe für die Abkürzung der Leiden der verstorbenen Angehörigen im Fegefeuer, wenn man zu Allerheiligen und Allerseelen Brot, andere Naturalien und Geld an die bettelnden Armen weggab.[349]

Bekannt sind vielfach noch die so genannten Wasservogel-Singer, heute meist Mitglieder der Feuerwehr, welche mit lustigen Vierzeilern durch die Ortschaften ziehen, sich kräftig mit Wasser begießen lassen und dafür Schnaps, Eier, vor allem aber Geld einheimsen.[350] So etwas galt noch der „BAVARIA” als Beleg für ursprünglich germanischen Regenzauber; dabei hätte die Nähe zum Pfingstfest schon darüber aufklären können, dass der gemeinte Vogel etwas mit der „Heiliggeist-Taube” zu tun hat, die man zu jenem Termin früher gern leibhaftig durch das Schallloch in der Kirche auf die Gläubigen herab fliegen ließ, sowie der Wasserguss auf das Ausgießen der Gaben des Heiligen Geistes verweist. Dies wurde einst ebenso drastisch als Kirchenbrauch vollzogen und zudem durch die Weihe des Taufwassers an diesem Tag ins Bewusstsein gehoben.

Wenn nach wie vor Freitag „Fischtag” ist, so spiegelt sich darin das einstige kirchliche Abstienzgebot, an das sich kaum noch jemand hält; und der Brauch des Essens der Martinsgans hat etwas zu tun mit der lange üblichen vorweihnachtlichen Fastenzeit, die zu jenem Termin anhob und es ratsam erscheinen ließ, noch einmal kräftig zu tafeln und vor allem die Vorräte an fetten Speisen zu reduzieren, deren Verzehr in der folgenden Zeit verboten war.[351]

So wie man die Zeit als wichtigen Faktor bei einer Brauch-Analyse bedenken muss, so auch den Raum. Wenn man einst Totenbretter besonders gern an Kreuzwegen aufstellte, dann nicht nur, weil dort mit besonders zahlreichen Vorbeiziehenden und damit potentiellen Betern zu rechnen war, sondern auch, weil man die symbolische Bedeutsamkeit des Kreuzweges suchte. Es schwingt etwas vom Gespür für die elementare Heiligkeit des Raumes, wenn bis zur Gegenwart bei dem Begräbnis von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen Erde aus der Heimat mit in das Grab gegeben wird.[352] Umgekehrt haben sich automatisch neue Funktionen eingestellt, als die zunächst in Kirche und Friedhof stattfindenden Passions-Prozessionen in die Straßen der Städte und Märkte hinausgezogen sind oder als der Knecht-Rupprecht vom Nikolaus-Legendenspiel der Klosterschulen sich zu Besuchen in den privaten Haushalten oder zu Umzügen in den Ortschaften aufgemacht hat. Sofort erhält das spielerische Element ein ganz anderes Gewicht, eröffnen sich Möglichkeiten zu Drastik, Travestie, Ausgelassenheit und derber Aktion, welche vorher durch den kirchlichen oder schulischen Rahmen gebändigt waren.[353]

Zu den Elementen, welche Religiöses in unseren Brauchhandlungen offenbaren können, gehören auch die Zahlen. So kommt es nicht von ungefähr, dass man dreimal auf Holz klopft und/oder dabei „toi, toi, toi” spricht, wenn man auf Anfrage gerade zugegeben hat, dass es einem gut geht, die Kinder gesund sind etc. Und wenn in modernen Hotelburgen der dreizehnte Stock fehlt und sich auf den Fluren jeweils das Zimmer Nr. 13 nicht finden lässt, so hat dies selbstverständlich mit der christlichen Zahlensymbolik zu tun, welche als des Teufels betrachtete, was die heilige Zwölfzahl überschritt (12 Stämme Israels, 12 Apostel, 12 Monate des Jahres mit 12 Tierkreiszeichen, 12 Stunden des Tages und der Nacht, 12 Tore des Himmlischen Jerusalem etc.). Genauso schlimm konnte es sein, wenn diese Vollkommenheit der Zwölf unterschritten wurde; darum unsere Narren-Elfer-Räte und der Beginn der närrischen Zeit am 11.11. um 11 Uhr 11!

Es gilt schließlich auf die speziellen Handlungsformen und Gebärden zu sehen, die mit Ritualen und Bräuchen verbunden sind. Erscheinungsformen wie das Umschreiten, Hemmen, Berühren, der Tanz, das Übergießen, das Mahl und der Lärm sind jeweils daraufhin zu betrachten, ob es zu ihnen kultische Parallelen gibt; so auch bei den verwendeten Requisiten wie Masken, Bildern, Geräten, Farben, gedruckten oder geschriebenen Texten.

Die Einzelanalyse – dies sei zusammenfassend wiederholt – wird besser als die Globalbetrachtung eventuelle kultische oder religiöse Einschlüsse in unseren Bräuchen zutage fördern. Eine einfache Deckungsgleichheit für Brauch „als Religion in anderem Gewande” werden wir nicht erwarten dürfen, und schon gar nicht wird sich bestätigen, dass „der deutsche Aberglaube das nachgedunkelte Bild des deutschen Heidentums” ist.[354] Aber nur durch dieses isolierende Verfahren werden wir eine Chance haben, Klarheit über das Ausmaß religiöser Bestandteile in den Erscheinungsformen unserer Kultur zu gewinnen, wenn auch dieses vielfach nur in Form der Travestie in den Volksbrauch eingegangen ist wie beim so genannten Gautschen der Buchbindergesellen oder bei der Äquatortaufe unserer Fernreisenden.

Die intensive Betrachtung der Phänomene Religion, Ritus und Brauch erweist also deren mögliche innige Verschränkung. Religion ohne Ritus kann von dem Augenblick an nicht existieren, da die Grenze zum Sektentum überschritten wird. Größere Gruppen „brauchen Bräuche”, um ihre Zusammengehörigkeit zu demonstrieren, um sich abzugrenzen und um schnell und problemlos gültige Formen der Kommunikation und Kooperation zu finden. Dies gilt sowohl für das religiöse wie für das alltägliche Leben. Bei der umfassenden Geltung des Christentums bis in das Aufklärungszeitalter ist es von vornherein wahrscheinlich, dass wir Spuren christlicher Rituale und Weltdeutung auch außerhalb des engeren liturgischen Bereiches finden werden. Das Wissen um die Hintergründe ist vielfach verloren, doch sollten wir uns hüten, in diesen Fällen von einem „Verfall” der einstigen Bräuche zu sprechen. Auch Bräuche haben eine Art von biologischem Wachstum; sie passen sich den Lebensbedingungen ihrer Träger an, bzw. werden von diesen jeweils neuen Zielsetzungen dienstbar gemacht. Das kann bis hin zur kommerziellen oder demonstrativen Vorführung zu Unterhaltungszwecken gehen. Trotzdem oder gerade wegen dieser Anpassung erfüllen Bräuche ihre wichtige Funktion in der Gewährung von Verhaltenssicherheit, der Ordnung des Alltags und des Abbaus von Stress.



[309] Man vergleiche etwa [Muchembled 1982]; [Ginzburg 1980]; [Schormann 1981]; zu Halloween vgl. die zahlreichen Beiträge in Heft 2 der [Zeitschrift für Volkskunde] (97) 2001, S. 177–290.

[310] Erstausgabe Leipzig 1835.

[311] Erstausgabe 1927–1942, unveränderter Nachdruck 1987.

[312] Hartmut Wolff konnte zeigen, dass in Mösien und Thrakien bereits nach kurzer Zeit der Anwesenheit einer römischen Besatzung von den einheimischen Kulten offenbar kaum etwas übrig geblieben ist, obwohl die Anzahl der römischen Soldaten in keinem nennenswerten Verhältnis zur Gesamtbevölkerung stand und diesen es keineswegs darauf ankam, aktiv zu missionieren oder die vorgefundenen einheimischen Kulte zu unterdrücken. Vgl. [Wolff 1990]; [Reindel 1970], S. 49–70.

[314] [Topitsch 1990], hier S. 12; vgl. [Schmitt 1990].

[318] Viele Beispiele bei [Harmening 1979]; [BaumannK 1989].

[321] [Metzger/Metzger 1983] (franz. Ausgabe 1982); [Deneke 1988].

[322] [Böcher 1970], S. 244ff.

[323] Aus intimen eigenen Kenntnissen berichtet Pierre Derlon von diesen Seiten des Zigeunertums: [Derlon 1982] (franz. Ausgabe 1975).

[324] Ein 1568 in Kallmünz in Bayern als mutmaßlicher Hexer verhafteter Schäfer gestand, dass er die zwei in Wachs eingekneteten Pfennige, welche man bei der Leibesvisitation in einer Achselhöhle fand, von Zigeunern um 6 fl. gekauft habe; sie sollten bewirken, „dass ine niemands verwundten könne”. Staatsarchiv Amberg,Malefizakt Neuburger Abgabe 1911, Nr. 8.

[325] [Starkie 1957], S. 305ff.

[326] [Liebers 1986], S. 57ff.

[330] Dies geht aus dem System der geistlichen Visitationen hervor, zu dem man nicht erst seit den Tagen der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert gegriffen hatte.

[333] [Harmening 1979]; [Daxelmüller 1988]; vgl. vor allem auch die Arbeiten von Wolfgang Brückner, z.B.: [Brückner 2000a].

[335] So noch [Sartori 1910], hier Bd. I. S. 15.

[339] [Stockmeier 1972], hier S. 65.

[340] In der Regel werden die Begriffe „Kultus”, „Kult”, „Ritus”, „Ritual” und „Liturgie” synonym gebraucht.

[344] [Sartori 1910], hier Bd. I., S. 7f.

[346] [Tönnies 1970], Bd. I, S. 25.

[348] Diesen Gedanken betonte vor allem Hans Moser in seinem wissenschaftlichen Ouevre: [MoserH 1985a].

[352] [Schroubek 1968]; ein selbst erlebtes Exempel konnte 2002 beobachtet werden.

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