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7.19. Oberalmer Passionsspiele? Ein aufgeklärter Diskurs im Jahre 1790 (Hanns Haas) - Langtext

Das Zeitalter der Aufklärung hatte keinen inneren Zugang zu den Überlieferungen der Volksfrömmigkeit. Die ausdrucksstarke Glaubensvermittlung in Texten, Bildern und Präsentationen galt ihr als Beweis einer oberflächlichen, inhaltsleeren Frömmelei, als Ablenkung von der wahren Andacht und der verinnerlichten Gottsuche. So war es auch im Erzbistum Salzburg. Minutiös listet die zeitgenössische Chronik des Felix Adauktus Haslberger die Eingriffe in die Frömmigkeitspflege unter Erzbischof Hieronymus Colloredo auf.

Da wurde vieles verboten: 1777 das von den Kapuzinern als Heilmittel angepriesene „Tamsweger Pulver”;[865] 1782 die Weihnachtskrippen, ferner die Zweige und Bäumchen bei der Fronleichnamsprozession sowie die Sonnwendfeuer – zwei Maßnahmen zur Holzersparnis. Außerdem untersagt war seither „das am Vorabend des St. Johannes des Täuferfestes angefangene und bis 4 Uhr Frühe fort gesetzte Hexenläuten”;[866] dem Stift St. Peter wurde der Vitalsgürtel abgefordert;[867] verboten wurden 1783 das Brunnspringen und der Faschingsritt in Maxglan und Liefering; 1784 die österliche Lebensmittelweihe und das Mittragen von Statuen bei Prozessionen, beispielsweise die Tamsweger „Prang” mit dem „Samson”;[868] 1785 das lange Wetterläuten – erlaubt war nur noch ein kurzes dreimaliges Glockenzeichen bei Beginn und Ende des Gewitters; außerdem waren jetzt die Wallfahrten mit Übernachtung sowie das Pöllerschießen bei Prozessionen untersagt. Eine Verordnung von 1787 reduzierte die Zahl der erlaubten „Umgänge” außerhalb des Kirchortes auf drei, zum Fest des heiligen Markus, an den Pfingstfeiertagen in die Salzburger Domkirche und generell am Fronleichnamstag.[869]

Als Ablenkung vom wahren Glauben galten jedoch vor allem die geistlichen Schauspiele und Schauprozessionen am Karfreitag. Schon durch den Hirtenbrief Erzbischof Colloredos vom 14. März 1779 sind „die Spiele, Possen und Mummereyen, welche vormals dabey in manchen Orten getrieben wurden, gemessenst abgestellet worden“[870]. Die Prozession „am Freytage in der Marterwoche” fiel unter die Verordnung vom 20. Mai 1785 gegen die weiten Umgänge.[871] Das Generale Fürsterzbischof Colloredos vom 18. November 1785 befahl außerdem die Abschaffung des „Palmeselherumführens am Palmsonntag und die Vorstellung der Himmelfahrt Christi und der Ankunft des hl. Geistes am Himmelfahrts- und Pfingsttage in den Kirchen gebräuchlich”.[872] Schließlich ersetzten die Verordnungen von 1783 und 1784 die bisher üblichen theatralischen „Grabtheater” der Karwoche durch ein dekretiertes, schlichtes „Normalgrab” nach dem Muster eines beigelegten Kupferstiches.[873]

Von den Oberalmer Passionsspielen erfahren wir aus einem Schriftwechsel zwischen der geistlichen und weltlichen Behörde über die Zweckmäßigkeit eines Aufführungsverbots im Jahre 1790.[874] Das Dekanalamt Hallein als geistliche Instanz stand ganz auf dem Boden der strengen Aufklärung. Es wiederholte bei dieser Gelegenheit die zeitgenössischen Argumente gegen die geistlichen Laienspiele im Allgemeinen und die Passion im Besonderen. Solche „Komödien” waren nach Ansicht des Dechants eher ein Anlass zu Geschmacklosigkeit und Ausschweifung als eine Anleitung zu religiöser Erbauung. Man kannte solche Spiele, die Spieler ebenso wie ihre Aufführungspraxis, und so erfahren wir im obrigkeitlichen Zerrspiegel von dieser popularen Kulturform. Bei den Oberalmer Passionsspielen handelte es sich um „einige Komödien”, welche nach der bekannten Manier das Heilsgeschehen in mehreren Bildern und kurzen Geschichten präsentierten.[875] Diese Spiele wurden nicht in der Kirche, sondern im abgelegenen Oberalmer „Wirthshause” vorgeführt, und zwar ausschließlich von Messingarbeitern des Oberalmer Staatsbetriebes. Schon einmal, im Jahr 1774, hatten die Messingarbeiter mit obrigkeitlicher Genehmigung solche „Komödien” abgehalten, auf die Bewilligung berief sich ihr neuerliches Ansuchen. Das Dekanalamt hatte freilich mit diesen Messingarbeitern so seine Erfahrung. Sie waren noch schwerer lenkbar als die bäuerliche Bevölkerung. Ohnehin nicht ortsfest im herkömmlichen Sinne der Kontinuität von Haus und Hof, kamen und gingen sie je nach Arbeitslage und Konjunktur; ihre abgeschlossene Lebenswelt war von außen schwer zu kontrollieren; ihre Frömmigkeitspflege nicht unbedingt den Ortsverhältnissen angepasst; einmal frequentierten sie die zuständige Pfarrkirche, dann wieder die Halleiner Kirchen; ihre österliche Beichtpflicht ließ sich nicht lückenlos observieren. Bedenklich genug, „daß (vielerorts) das höchste Geheimnis unserer Erlösung in Wirthshäusern, auf Theatern, von einer zusammengeklaubten, nicht allerbestens berufenen Rotte in der heiligen Fastenzeit, ... in vermummten Personen zur Schaue ausgesetzt werde.” Noch gefährlicher aber schien ein geistliches Laienspiel hier im seelsorgerisch ohnehin unzureichend kontrollierten Oberalmer Sozialfeld. Dazu kam noch die Nähe der Stadt Hallein, mit seiner Arbeiterbevölkerung, in der Diktion des Dechants „das berufene (= verrufene) Gesindel” einer Industriestadt, „welches hauffenweise solchen Schauspielen zulauffen wird”. Nicht von Seiten der Bauern, sondern von dieser teils heimischen, teils zugelaufenen Zuschauerschaft erwartete der Dechant diverse Schwierigkeiten, allerlei Possen auf den Straßen („in der Freye”) und vor den Häusern. Angeblich hatten „entschlossene Männer von Oberalm” schon solche Befürchtungen geäußert. Sogar die Angst vor Diebstahl und Raub bemühte der Dechant als Argument gegen die Spiele. Zur Abrundung des hässlichen Bildes fehlte schließlich nicht die sittliche Gefährdung der Jugend durch „Zusammenpaarungen des ungleichen Geschlechts” bei solchen Anlässen.

Seelsorge war schwierig geworden in diesem ausgehenden 18. Jahrhunderts, mit seinen zwei großen Sorgen: zum einen um die soziale Moral der Menschen angesichts von Vergnügung und Sexualität, speziell hier im sozialen Begegnungsfeld von Land und Stadt, von Bauern und Arbeitern; zum anderen um einen bereinigten Glauben gegen eingebürgerte Frömmigkeitsformen. Der Dechant kombinierte in seiner Ablehnung der Oberalmer Passionsspiele diese beiden Anliegen. Er kenne „unter den (Oberalmer) Acteurs ein und anderen zugelofenen Menschen, welchem das Possenreissen, Vollsaufen, Raufereyen und dergleichen Unfuge schier zur Natur und Gewohnheit (geworden) sind”, ließ er das Pfleggericht Glanegg als zuständige Staatsbehörde wissen; niemand garantiere daher eine spontane Verirrung der Spiele von der Tragik zur Posse. „Wie bald (könne unter diesen Umständen) eine sonst heilige Vorstellung durch ein und andere zur Gewohnheit gewordene Possensucht das Geheimnis zum Spotte machen”. Die Sache schien ihm zu gefährlich, geistliche Spiele im Arbeitermilieu undenkbar.

Diesen sozialmoralischen Bedenken gesellten sich die Sorgen um die Reinigung von Religion und Frömmigkeit. Der klassizistischen Aufklärung schien die tradierte Dramatikkunst solcher Passionsspiele Zeugnis einer fremd gewordenen Glaubensvermittlung. Die Zuschauer mit ihrer eigenen Schuld am Leiden Christi zu konfrontieren, das war die Botschaft der Osterspiele. Christus hat „sein Unschuldiges Leben für uns zu einem schultopfer geben”, heißt es in einem Salzburger Passionsspiel des ausgehenden 16. Jahrhundert.[876] Niemand sollte sich dieser bitteren Wahrheit entziehen. Martialische Szenen, übersteigerte Dramatik und kräftige Ausdrücke ließen keinen Ausweg; immer mehr tiefer verstrickte die Sünde die Menschen mit dem Leid des Gottessohnes. Nur kurz lockerten Zwischenspiele die Spannung, beispielsweise durch die Erzählung einer von Christus vollbrachten Heilung; aber auch durch derbe judenfeindliche Anspielungen. Solche Zwischenspiele kennt schon die spätmittelalterliche Passion. Die Barockzeit ergänzte diverse Personenallegorien, beispielsweise Judas als Allegorie der Sünde und Verzweiflung.[877]

Liebevoll wird der Text ausgeschmückt und gelockert, etwa durch eine Szene, in der die „verliebte Braut” Jesus sucht, von seiner Gefangennahme erfährt und nun um sein Leben bangt.[878] Sogar komische Elemente hatten zur psychischen Entlastung in manchen Osterspielen ihren Platz.[879]

Das in Salzburg verfasste und 1693 an der Benediktiner-Universität inszenierte Schultheaterstück „Discepatio inter viros et mulieres” präsentierte den Streit zwischen einer Caja und einem Cajus um die Frage, welches Geschlecht denn das bessere sei, das männliche oder das weibliche. Es handelt sich um ein „Osterstück”, zur Demonstration dienten daher mehrere Passionsszenen. Sie sollten zeigen, wer bei Tod und Auferstehung Christi tugendhafter war, Männer oder Frauen. Dabei ging es ziemlich derb zu, Schimpfworte und Verwünschungen fehlten nicht, und zuletzt mussten das Publikum und der „Saalmesner” (lateinisch caselius – der salzburgische „Hausel”) einschreiten, den fruchtlosen Streit zu beenden.[880] Das Ganze war ohnehin nur ein Zwischenspiel, es folgte im Stimmungs- und Rhythmuswechsel erneut die Leidensgeschichte in ihrer unerbittlichen Folgerichtigkeit von Station zu Station bis zum Kreuzestod. Der im Mittelalter wichtigste Abschnitt der Passion, die Auferstehung, fehlte in den meisten barocken Spielversionen.[881] Unversehens verwischen sich die Grenzen zwischen Spiel und Zuschauern, die Distanz zwischen biblischer Zeit und Gegenwart verliert sich. Die Menschen werden in das Geschehen hineingezogen, die Geschichte wird förmlich miterlebt, sogar durch Zurufe und emotionale Äußerungen mitgestaltet. „Betrachten” nennen die Passionstexte diese virtuelle Partizipation, und dieses Wort vermengt bereits die alte Bedeutung von „erwägen, überlegen, bedenken” mit der aktuellen Konnotation von „ansehen, bestaunen”. „Betrachts bey Zeit”, so endet das Salzburgische „Christus Patiens” aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert.[882] „Nur dieses betracht diese Nacht”, mahnt das Rauriser Leiden Christi-Lied.[883]

Das Ernste mit dem Komischen zu kombinieren, die Tragik lebensnah zu überzeichnen, die Menschen emotional in das Spiel einzubinden: diese Schwarz-Weiß- Malerei widersprach der aufgeklärten Gesinnung. Glaube beruhte jetzt auf dem „Religions- und Gewissenspunkt, daß man zur Erkenntnis der Heilswahrheiten und Lebenspflichten seine Vernunft mit allem Ernste, Treue und Eifer gebrauchen soll”, heißt es in Colloredos Hirtenbrief von 1782. Innere Einkehr, Zwiesprache mit Gott, gewissenhafte Sonntagsheiligung, fleißiger Sakramentsempfang, Barmherzigkeit gegen Bedürftige waren Zeugnisse christlicher Gesinnung, und das ganz besonders zur Fastenzeit, die „zur Erbauung und Eingezogenheit“, ... „zu Geistes Uebungen und fleißiger Beywohnung des Gottesdienstes, dann anderen guten Werken bestimmt ist ”, so charakterisierte der Dechant eine österliche Gesinnung, von der sein Kirchenvolk weit noch entfernt war.

Der inneren Einstellung entsprach die Glaubensvermittlung. Sie wandte sich an Herz und Verstand, nicht an die Schaulust, bewirkte individuelles Erkennen, nicht kollektives Erleben. Der Gottesdienst hatte „möglichst rührend und belehrend” zu wirken, und alles wegzulassen, „was nur die Augen blendet, nur die Einbildungskraft erhitzt, nur ein gedankenloses Staunen erregt”, dekretierte der erzbischöfliche Hirtenbrief. „So wird der Unterschied zwischen Andacht und Andächteley, zwischen Herzensreligion und gedankenlosem Mitmachen leerer Ceremonien und andächtelnder Mummereyen, zwischen wahrer Frömmigkeit und religiösem Grimassenspiel oder gaukelnder Heucheley immer mehr erkennbar werden”.[884] In dieser Auffassung hatten jedenfalls geistliche Laienspiele keinen Platz.

Das fürsterzbischöfliche Pfleggericht Glanegg in Hellbrunn teilte gewiss die Kritik der geistlichen Instanz an Passionsspielen, sie war aber den Messingarbeitern angesichts der schon einmal, für 1774 erteilten Bewilligung verbunden. So genehmigte das Pfleggericht, vermutlich ein letztes Mal, 1790 den Oberalmer Messingarbeitern „einige Komödien mit Beobachtung aller Bescheidenheit, und guten Betragens”. Vielleicht haben ohnehin die fortgesetzten Einsprachen des Halleiner Dekanalamtes und die angekündigte Beschwerde höheren Orts sogar zur Zurücknahme der Aufführungskonzession geführt. Weitere Aktenrecherche könnte noch manche Überraschung in diesem amtlichen Kaleidoskop zutage fördern.

Für unseren Zusammenhang sind jedoch hauptsächlich die spontanen Argumentationen für und wider die Passionsspiele relevant. Schlechte Erfahrung mit den bisherigen Spielen hatte die Behörde jedenfalls nicht gesammelt, solche hatte auch der Dechant nicht berichtet. Außerdem war der Staat den Messingarbeitern als Arbeitsgeber verpflichtet. Und wenn auch der Dechant überzeugt war, dass die Arbeiter „genugsamen Unterhalt” hätten und „ein derley Extraordinar Gewinn nur eine Reitzung für ihre unersättliche Gurgel” sei, so wusste es die Staatsbehörde vermutlich besser.

Die große Zeit der Oberalmer und Ebenauer Messinghämmer war längst abgelaufen.[885] Seinerzeit im 16. und 17. Jahrhundert versorgte Oberalm mit seinen Produkten ein ausgedehntes salzburgisches, österreichisches und bayerisches Umfeld. Mittlerweile bedrohte jedoch die merkantilistische Schutzzollpolitik der Nachbarstaaten die Existenz des Werkes; nur noch kleinere Mengen gingen ins Ausland, der kleine Salzburger Markt war nur bedingt aufnahmefähig. Insgesamt war die Branche stark konjunkturanfällig. Da waren die Messingarbeiter dankbar für jeden noch so bescheidenen Nebenverdienst. Und wie die Industriearbeiter anderer alpiner Gegenden suchten sie ihn durch Theaterspielen. Ähnlich war es in Oberammergau; dort bildeten die sonst mit ihren Holzarbeiten durch halb Europa wandernden „Bildschnitzer” das Ensemble des Passionsspiels.[886] Auch die saisonal arbeitslosen Laufener Schiffer verbesserten ihre Erwerbsverhältnisse durch das bekannte Schifferstechen. In diesen sozialen Kontext sind also die Oberalmer Passionsspiele einzuordnen. Religiöses Bedürfnis und Nebenerwerb gingen Hand in Hand, beide befriedigten zugleich den Wunsch nach Bestätigung ihres gemeinschaftlichen Zusammenwirkens, ihrer Identität als sozial und kulturell homogene Gruppe.

Einen Text der Oberalmer Passionsspiele überliefern die Akten leider nicht. Inhalt und Aufführungspraxis solcher Spiele waren der Behörde hinlänglich bekannt, da bedurfte es nicht der langatmigen Erläuterungen. Das Spiel vom Leiden Christi steht in einer langen Tradition. Zwar ist aus Salzburg, anders als beispielsweise aus Tirol, Steiermark oder Kärnten, kein mittelalterliches Passionsspiel erhalten, wenn auch in den Liedern des Mönchs von Salzburg „Spuren der szenischen Darstellung des Ostergeschehens” zu erkennen sind.[887]

Der älteste tradierte Text eines Salzburger Passionsspiels stammt aus dem späten 16. Jahrhundert. Dieses „Christus Patiens” ist mit Regieanmerkungen für eine Aufführung in der Stadt Salzburg versehen.[888] Geistliche Stoffe mit Bezug auf die Passionsgeschichte enthält ferner die Salzburger Schuldramatik des 16. Jahrhunderts.[889] Weiters weiß man von einer, als Druck jedoch nur bruchstückhaft überlieferten, in der Handschrift verlorenen Saalfeldener Passion aus dem 18. Jahrhundert[890] und kennt ein Loferer Passionslied des ausgehenden 16. Jahrhunderts.

Biblische Stoffe hatten auch die vielen englischen, holländischen, skandinavischen, italienischen und französischen Wandertruppen des 17. Jahrhunderts auf ihrem Spielplan.[891] Die Salzburger Überlieferung bereichert jetzt eine im Salzburger Museum Carolino Augusteum aufbewahrte Handschrift des 17. Jahrhunderts mit dem Titel, „Komedi=Buch / Über die vorstelung des bittern / Leyden, und Sterben unsers /HERREN/ Jesus Christus”. Inhaltlich passt diese jüngst entdeckte Version „im weitesten Sinn zur Salzburger Spieltradition”.[892] Man wird wohl nicht weit fehl gehen, wenn man den geplanten Oberalmer Spielen einen Text nach dem Vorbild dieser Überlieferungen zudenkt.

Ein Pinzgauer Passionspiel, vielleicht identisch mit der sonst großteils verloren gegangenen Loferer Passion, ist schließlich aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überliefert. Eine zur szenischen Darstellung alternative Form der Passion ist das in Großarl bis heute tradierte „Leiden Christi-Singen”. Hier erinnern die Passionssänger, früher 16 bis 18 Bauern und Bauernburschen, in der Nacht vom Gründonnerstag auf Karfreitag von 8 Uhr abends bis vier Uhr früh Stunde für Stunde an den Leidensweg Christi vom Ölberg bis zum Kreuzestod und wie der Gottessohn durch sein Leiden die Welt erlöste.[893] Als Vorlage für das Großarler Gründonnerstagslied diente ein Druck aus der Zeit um 1720.[894] Weitere Fastenlieder sind aus Hallein und der Aberseer Gegend, ein Judasspiel gleichfalls aus Hallein überliefert.[895]

Im ausgehenden 18. Jahrhundert waren die Passionsspiele in szenischer und gesungener Form in Salzburg offenbar noch ziemlich weit verbreitet. Die Registratur des Konsistoriums verwahrt vermutlich noch einige Belege, vielleicht sogar Spieltexte aus dieser Zeit staatlicher Neugierde an den Volksbräuchen. Im benachbarten Berchtesgaden hielten sich die Traditionen ohnehin einige Jahre länger. Der aufgeklärte Reiseschriftsteller Schultes hatte dort viel zu bemängeln an „Bruderschaften von allen Farben, burlesken Fronleichnamsprozessionen”, welche nach seiner Ansicht die Würde der Religion verletzten. Er hörte sogar von einer für 1805 geplanten „vermummten Charfreytagsprozession”.[896]

Das Volk nahm nur ungern Abschied von seinen liebgewordenen religiösen Bräuchen. Eine direkte Widersetzlichkeit gegen das österliche Spielverbot, wie sonst beispielsweise gegen das Verbot des Mittragens von Statuen bei Prozessionen, ist nicht bekannt.[897] Nur ein unter den Salzburger Dombögen angebrachtes Pasquill verhöhnte 1783 die Entblößung der Osterzeremonien von Zeichen barocker Schaufrömmigkeit. „Weil die Passionskomedien ohnehin nicht mehr erlaubt sind”, annoncierte sie eine „zweckmäßige” ... „Operette comique, genannt. ‚Der jüdische Rath' oder ‚Die meisten wider Jesus Christus', sonst ein gewisses Consistorium wider die Ehre des höchsten Gottes, der seligsten Jungfrau Maria und aller lieben Heiligen“.[898] Da wird der Erzbischof als ein „Herr von Leergeschäft” zum Direktor dieser fiktiven Unternehmung ernannt, welche ein lästerliches, weltliches Schauspiel an die Stelle der Passionsspiele setzt – Colloredo war bekanntlich ein Liebhaber des Theaters als bürgerlicher Moralanstalt. So blieb das neue Theater auf dem Ballplatz seit 1782 auch zur österlichen Zeit offen und gab durch auswärtige Komödianten ernste, weltliche Stücke.[899] Bemerkenswert ist nicht zuletzt die judenfeindliche Tendenz der Spiele, die das Pasquill widerspiegelt.

Den scharfen Wind der Aufklärung überdauerten in diesem Umfeld die farbenprächtigen und ausdrucksstarken Frömmigkeitsformen und gar die geistlichen Spiele nur vereinzelt beziehungsweise konnten sich nach einigen Jahren des Verbots wieder entfalten. Solche Traditionsbrücken haben im südböhmischen Höritz, im tirolischen Erl und im bayerischen Oberammergau die Revitalisierung der Passionsspiele ermöglicht.[900] An vielen anderen Orten und Regionen sind die Passionsspiele jedoch allmählich abgekommen. So war es auch im böhmischen Isergebirge. Auch dort überlebten die „Velikonocní hry”, die österlichen Spiele, in einem bäuerlich-konservativen Umfeld bis zum Modernisierungsschub. Sie wurden jedoch ein letztes Mal 1891 aufgeführt.[901] Die tschechische Tradition demaskiert immerhin die angeblich exklusive „süddeutsch-österreichischen” Prägung der Passionsspiele als ideologischen Ballast der „Volkskunde”. Auch der Umzug mit dem Palmesel hat sich nur vereinzelt, beispielsweise im salzburgischen Puch, erhalten.[902] Die Genugtuung über die Rettung des hölzernen Palmesels erinnert übrigens an den Stolz französischer Pfarren über die Rettung ihrer Glocken vor Revolution und Empire.[903]

Nur mit knapper Not und durch Anpassung an den Zeitgeist überstanden die Oberammergauer Passionsspiele den Raureif der Aufklärung. Denn auch in aufgeklärten Kreisen Churbayerns hörte man die Ansicht, dass „das größte Geheimnis unserer Religion keineswegs auf die Schaubühne gehöre“, – so formulierte der Tegernseer Benediktiner Heinrich seine Ablehnung der Passionsspiele.[904] Schon eine churfürstliche Verordnung vom 13. März 1784 verbot „gnädigst ... die aufführung der Trauer- und geistlichen Spiele, an Statt der Passions-Tragödien in der Fastenzeit und charwoche zu dem Ende, ... damit das volck von der arbeit, gebeth und anderen geschäften nicht abgehalten, und zum Müssigggang verwendet werde”.

In diesen Worten bestätigte Kurfürst Karl Theodor am 30. März 1791 amtsintern die geltende Verwaltungsdoktrin trotz Umgehung des Aufführungsverbots an mehreren Orten. Bei dieser Gelegenheit erhielt nur der Gemeinde Oberammergau „per modum privilegii”, wie bereits 1780, die Erlaubnis, im Turnus von zehn Jahren zu den Pfingstfeiertagen „Schauspiele, das alte und neue Testament betitelt”, abzuhalten.[905] Diese Ausnahmeregelung erfolgte nicht zufällig. Immerhin hatte Oberammergau entsprechende inhaltliche und darstellerische Vorleistungen durch den neuen, 1780 erstmals zur Aufführung gelangten Passionstext des Ettaler Benediktiners Magnus Knipfelberger erbracht. Knipfelberger variierte die Tradition im Sinne der Aufklärung: Inhaltlich komplettierte er die Handlung wiederum durch die „Verherrlichung Gottes” in der Auferstehung. In Dankbarkeit und Freude, nicht in Schmerz und Trauer endete die Passion. Das Spiel war zudem von seinem barocken Überschwang bereinigt, ohne alle derbe Ausdrücke und billige Effekte. Vor allem jedoch entsprach es der neuen Innerlichkeit durch Emotion. Nicht staunen, sondern weinen sollte der gute Christ angesichts der Passion. „Wie die gerührten Sinne das Herz heben, und der Seele zu Gedanken verhelfen",[906] so brachte das Spiel vom Leiden und Sterben Christi die Menschen zu stiller Einsicht, näher zu Gott. Religion war jetzt Herzens- und Verstandessache. Im benediktinischen Kunstmilieu Bayerns beherrschte man 1790 den neuen Diskurs und rettete so die Oberammergauer Spiele. Es war diese Glaubenskonzeption sittlicher Verbesserung und gedanklicher Vertiefung durch Rührung, welche der Halleiner Dechant 1790 bei den Oberalmer Passionsspielen vermisste.

7.19.1. Dokumentation

7.19.1.1. Dekanalamt Hallein an das Pfleggericht Glanegg 20. Jänner 1790 (Konzept)[907]

„Dem Vernehmen nach sollen die Messinghammerer zu Oberalm die Erlaubnis erwirkt haben, in der hl. Fastenzeit beym Wirth zu Oberalm Passions Commedien aufzuführen. Wenn diese Nachricht doch einen Grund haben soll, so will man von Seelsorgswegen hiermit das gehorsame Ansuchen stellen, daß sothane Bewilligung jetzt noch in der Zeit wegen unleidtendlich. Unfugen zurückgerufen werden möchte. Wie nicht minder dem Christoph Brugger die bisher nachgesehenen Spiele in Haunsperg eben wegen ersagter Unfugen der dabei erscheinenden Zuschauer wiederum einzustellen wäre.

Hallein den 20. Jänner 1790. Ignaz Winklhofer m.p.”

7.19.1.2. Das fürsterzbischöfliche Pfleggericht Glanegg an das Dekanalamt Hallein, Hellbrunn am 27. Jänner 1790[908]

„Da die sämmtliche(n) Messing Arbeiter zu Oberalm durch den dermaligen Landesfürsten kraft Befehle vom 31ten Dezember 1773 schon einmal die höchste Erlaubnis erhalten haben, einige Komödien mit Beobachtung aller Bescheidenheit, und guten Betragens aufführen aufführen zu dürfen, als wollte man ihrem kurz abhin gestelten Ansuchen nach voriger Art, und Weise, von Polizey, und Obrigkeits wegen eben nicht entgegen seyn, doch wurde ihnen bedeutet, daß eine iede Komedie 2, oder 3 Täge vor der Aufführung bey Strafe und zwar zu dem Ende allda angezeiget werde, damit iedesmal eine eigene Gerichts Person zur Aufsicht, und Hindanhaltung aller Unanständigkeit auf ihre Unkosten dahin abgeordnet werden kann, und in solcher Hinsicht dörfte es für dermal mit Aufführung einiger Trauerspiele sein unbedeutendes Verbleiben haben, weil man das einmal gegebene Wort nicht gerne mehr zurücknehmen will.

Was den Josef Brugger betrifft, hat derselbe für gegenwärtiges Jahre ohnehin keine Erlaubnis erwirkt, mithin ihm auch das weitere Spielen von selbst eingestellet bleibt, welches auf dem Erlas vom 25ten et 27ten dieß geziemend rückerinnert wird.

Hellbrunn am 27ten Jenner 1790 Pfleggericht Glanek Ant. Dieckacher“

7.19.1.3. Dekanalamt Hallein an das Pfleggericht Glanegg, 29. Jänner 1790 (Konzept)[909]

„Auf Schreiben vom 27ten Jänner 1790. Unterzeichnetes Dekanal- und Parochial Officium findet sich uneracht eines unterm 27ten dieß anher erlassenen Pfleggerichtl. Schreibens gedrungen, in betrf. der Trauerspiele von Messinghammer mit folgender Vorstellung nachzusetzen:

  1. Ist das gnädigste Generale vom 14ten Dezember 1779 zwar eigentlich zu Abstellung der Passionsspiele und Mum(m)ereyen bey Charfreytags und anderen Prozessionen gegeben, will man aber auf die Grundursachen dieser Generalverordnung sehen, lautet es nicht minder ungereimt, daß (nicht) das höchste Geheimnis unserer Erlösung in Wirthshäusern, auf Theater(n), von einer zusammengeklaubten nicht allerbestens berufenen Rotte in der h. Fastenzeit, die mehr zur Geistes Uebungen, und fleissiger Beywohnung des Gottesdienstes, dann anderer guter Werke bestimmt ist, in vermummten Personen, zur Schaue ausgesetzt werde.

  2. Unter den Acteurs kenne ich ein und anderen zugelofenen Menschen, welchem das Possenreissen, Vollsaufen, Raufereyen und dergleichen Unfuge schi(e)r zur Natur und Gewohnheit (geworden) sind; Wie bald kann eine sonst heilige Vorstellung durch ein und andere zur Gewohnheit gewordene Possensucht das Geheimnis zum Gespötte machen. Wie leicht können sich die Ausdrücke des angeführten Hirtenbriefs bey diesem erhabenen Spiele zur traurigen Wahrheit erfüllen:[910] Die Gotteshäuser sind leer und verlassen. Das zur Lustbarkeit und Gelächter vorbereitete Volk füllt die Wirths- und Zechhäuser von unten bis oben an. Die Saufgelage dauern bis in die späte Nacht fort. Die nach Hause taumelnden Trunkenbolde erfüllen Straßen und Felder mit ihrem Jauchzen und Schandgeschrey. Auf das neue kreutzigen sie den Sohn Gottes, und haben ihn zum Spott.

  3. Einem Wohllöblichen Pfleggericht kann es so wenig als dieser Seelsorge unbewußt seyn, wie sehr das Volk anstatt zur Erbauung und Eingezogenheit nur zu Exzessen und Ausgelassenheiten, zu Übertrettung hoher Sitten- und Pollicey Verordnungen geneigt ist. Nun wird ihm mit Zulassung derley Spiele in einem von Obrigkeiten und Characterisirten Personen entfernten, einschichtigen Orte hiezu nur noch mehr Gelegenheit gegeben.

  4. Und wenn auch von Seite der Bäuerey nichts zu besorgen wäre, so verdiente das berufene Gesindel der mehr anligenden Stadt Hallein, welches hauffenweise solchen Schauspielen zulaufen wird, daß man ihnen mit Dultung vermeldter Spiele keine(n) Anlaß gebe ihre ungezäumte(n) Ausgelassenheiten in der Freye zu üben. Wirklich haben sich schon entschlossene Männer von Oberalm verlauten lassen, daß sie auf dieses Comoedi Spielen ihre Sorge haben, wegen befürchteter Unruhen, allerley Possen, so ihnen von den Halleingern bey ihren Häusern bevorstehen. Zu Geschweigen der Zusammmenpaarungen des ungleichen Geschlechts, die bey solchen Zusammenkünften viel gewöhnlicher sind.

  5. Wie wird ein gegenwärtiger Gerichtsdiener so vieler Ausschweifungen ob seyn können? Und was wird dessen Gegenwart nützen, wenn /:wie es nicht selten geschieht:/ dieser sich mit einem Trunk betäuben läßt, und ruhig im Schank sitzen bleibt, während die Ausgelassenheiten verübt werden.

  6. Wie wäre es, wenn, da der Vorwitz Einige zu der Comoedy führt, andere durch ihre List und Muße zum stehlen und rauben /:welches eben der zeit ein so gemeines Laster ist:/ (kommen) würden?

  7. Endlich haben die Messinghammerer wegen ihrem Brod nicht Ursache, sich auf Aufführung der Comoedie zu bewerben; indem sie, wenn sie keine Müssiggänger, Spieller oder Verschwender (sind), im hochfürstlichen Dienst ihren genugsamen Unterhalt haben, und ein derley Extraordinar Gewinn nur eine Reitzung für ihre unersättliche Gurgel wird.

Es sind daher Ursachen genug, warum ihnen die gegebene Erlaubnis /:die auf dem unterm 31. Xbris (= Dezember) 1773 vom hochlöblichen Hofrat erlassenen, nunmehr aber lange her schon legierten (= aufgehobenen) Spezialbefehl keinen giltigen Bezug mehr haben kann:/ auch für dermal zu Handhabung des allgemeinen geistl Nu(t)zens noch zurückgerufen werden solle. (...) Im Widrigen man auch diese Seelsorg. Amte nicht Übel ausdenken würde, wenn man angeführte, und noch mehrer Gründe an die hohen Stellen pro Apoletione (recte: abolitione) müßte gelangen lassen.

Hallein den 18. Jänner 1790 Winklhofer m.p.”



[868] [Widmann 1896], S. 138ff. [MartinF 1928], S. 66.

[869] [ZaunerJT 1785]. Bd. 2, S. 358–363.

[870] [Colloredo 1782], S.34 ff. Zitierter Wortlaut im Kommentar bei [ZaunerJT 1785]. Bd. 2, S. 360.

[871] [ZaunerJT 1785]. Bd. 2, S. 360f.

[872] [Zinnburg 1977a], S. 114–118.

[873] [MartinF 1928], S. 63 und 65.

[874] Dekanatsarchiv Hallein Alte Registratur (Ladenkasten), Nr. XXVIII–4.

[875] „Einige Komödien” gestattet das Pfleggericht Glanegg, erwähnt im Schreiben an das Dekanalamt vom 27. Jänner 1790. Dekanatsarchiv Hallein Alte Registratur (Ladenkasten), Nr. XXVIII–4.

[876] S. 55.

[877] [MoserDR 1990], hier S. 100f.

[879] Seit dem 17. Jahrhundert gehörte „die mehrteilige, vollkommen selbständige komische Nebenhandlung” mit tölpelhaften Bauern, Hanswurst und Commedia dell'arte Typen „zum festen Bestandteil des Salzburger Benediktinerdramas”. [Dahms 1982], hier S.146; [Isnenghi 1972], S. 173–192; [Boberski 1978].

[880] [Schächl 1995]. Auch die weltlichen Spiele der professionellen „Englischen Komödianten” beeindruckten mit ihrer scharfen Kontrastierung von Gefühlstiefe und Derbheit.

[882] [KleinH 1969], hier S. 135.

[883] [Adrian 1962], hier S. 364.

[884] [Hersche 1976], hier S. 90.

[886] [MoserDR 1990], hier S. 101.

[887] [Spechtler 1994], hier S. 176.

[895] [Adrian/Schmidt 1936], S. 224–227, hier S. 238.

[897] [HaasH 1998], hier S. 147f. vgl. zur kontraproduktiven Wirkung der Reformen als Rekonfessionalisierung [Hersche 1997].

[900] [Kretzenbacher 1952]; [SchmidtL 1953], S. 114–143; [Schaller 1950]; [DünningerE 1990]; Morandell, P. Roman (Text)/Prof. de Frans Fellner (Musik): Abtenauer Passionsspiel. UBS 104.997 II.

[902] [Zinnburg 1977a], S.114–118.

[904] [MoserH 1928], hier S. 76. Die gleiche Einstellung herrschte im geistlichen Fürstentum und im Bistum Passau. [Hartinger 1990].

[906] So wörtlich in einem Werbeartikel der Münchner Intelligenzblätter vom 21. Mai 1790. [Schaller 1985], S. 196.

[907] Dekanatsarchiv Hallein Alte Registratur (Ladenkasten), Nr. XXVIII–4.

[908] Dekanatsarchiv Hallein Alte Registratur (Ladenkasten), Nr. XXVIII–4.

[909] Dekanatsarchiv Hallein Alte Registratur (Ladenkasten), Nr. XXVIII–4.

[910] Wortlaut des Hirtenbriefs vom März 1779. Siehe im Beitrag [WeißASt 1998a], S. 329–355.

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