Oberflächlich betrachtet könnte eine gesonderte Untersuchung von Traditions- und Vermittlungsformen im Bereich der „Musikalischen Volkskultur” als unnötig angesehen werden, da sie schließlich die Voraussetzung ihrer Existenz bilden. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch bald heraus, dass es angesichts der Überfülle von Erscheinungsformen erforderlich geworden ist, die Sachverhalte differenzierter darzustellen. Die gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen, die das vergangene 20. Jahrhundert bewirkt hat – insbesondere durch die Katastrophen der beiden Weltkriege hervorgerufen –, haben auch innerhalb der musikalischen Volkskultur zu erheblichen strukturellen Veränderungen geführt, so dass es notwendig erscheint, anhand ausgewählter, typischer Beispiele gegenwärtiger Erscheinungsformen mit einem Schwerpunkt im Vokalbereich die inhaltliche, formale und stilistische Vielfalt ihrer Traditions- und Vermittlungsformen aufzuzeigen, wobei die Beschränkung auf die Gegenwart das gesetzte Limit erfordert. Auch muss nach „Traditionsformen” und „Vermittlungsformen” differenziert werden. Zwar ist jede Traditionsform zugleich eine Vermittlungsform, aber nicht jede Vermittlungsform ist eine Traditionsform per se, auch wenn sie tradierte Inhalte vermittelt.
Musikalische Volkskultur als Teil der Gesamt-Musikkultur eines Volkes umfasst als Musikalische Teilkultur den gesamten Bereich des primär nichtprofessionellen Musizierens, allgemein als „Laienmusizieren” oder „Amateurmusizieren” bezeichnet. „Primär” heißt, dass auch Bereiche der professionellen Musik unter bestimmten Aspekten einbezogen sind, zu denen die Kunstmusik – eine Musik mit Werkcharakter – gehört, die ebenso eine Teilkultur wie die professionelle Rock-, Pop- und Jazzmusik (z.B.) im Gesamtgefüge der musikalischen Kultur eines Volkes darstellt, welche ihrerseits Teil einer musikalischen Welt-Kultur mit den verschiedensten „Schnittmengen” ist. Gleichzeitig bestehen „Schnittmengen” zwischen den musikalischen Volkskulturen der verschiedensten Völker und Kontinente, die sich im Gefolge der Internationalisierung und Globalisierung, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, herausgebildet und zu neuen Inhalten und Formen geführt haben, wobei diese Prozesse eine unterschiedliche Beurteilung finden. In einer Reihe von Erscheinungsformen gibt es fließende Grenzen, was eine eindeutige Zuordnung erschwert. Ausgangspunkt ist daher jeweils die ethnomusikologische Fragestellung, um die notwendige Differenzierung nicht zu verwischen.
Musikalische Volkskultur beinhaltet mehr, als der tradierte Begriff „Volksmusik” definiert, wenngleich dieser Musikbereich die zentrale Mitte Musikalischer Volkskultur darstellt, wobei „Volksmusik” im weiteren Sinne gebraucht wird, d.h. als übergeordneter Begriff für die tradierten Felder und deren Begriffe „Volkslied”, „Volkstanz” und „Instrumentale Volksmusik” mit ihren jeweiligen, spezifischen Traditions- und Vermittlungsformen. Musikalische Volkskultur umfasst zugleich die inzwischen vielfältig differenzierten Bereiche des Jugendmusizierens, z.B. in Formen des Folklore-, Folk-, Rock-, Pop- und Jazz-Amateurmusizierens, die inzwischen auch schon eigene Traditions- und Vermittlungsformen herausgebildet haben. Die durch die Vielfalt der Erscheinungsformen in der Gegenwart bewirkte Heterogenität der Manifestationen, auch angesichts mannigfacher stilistischer Annäherungen oder Vermischungen, erlaubt daher keine schnellen Verallgemeinerungen, sondern eine präzise Differenzierung der Details.
Die Entwicklung des forschungsleitenden Interesses der Musikalischen Volkskunde folgte in den letzten Jahrzehnten analog den Entwicklungen und Veränderungen der Erscheinungsformen ihres Gegenstandes. So erfolgte, um dies noch einmal in Erinnerung zu rufen, die Entwicklung in der Volksliedforschung von der Textforschung zur Kontextforschung,[2274] von der Liedforschung zur Singforschung,[2275] von der Volksmusikforschung zur ethnologischen und anthropologischen Forschung[2276] und nunmehr zum komplexen Forschungsfeld des Laien- bzw. Amateurmusizierens.[2277] Die Ausweitung des Forschungsfeldes hat nicht nur erhebliche Konsequenzen für die erhöhten quantitativen Anforderungen, sondern berührt auch stark die internen kategorialen Systeme, weil sie teilweise nur noch für bestimmte Traditionsfelder, aber nicht mehr generalisierend für sämtliche Erscheinungsformen anwendbar sind.
Dies betrifft z.B. den Begriff der „Authentizität”, eine zentrale Kategorie der Volksmusikforschung. Bisher sind hierzu bereits differenzierte Kriterien für ein ebenso differenziertes Feld in Anwendung gekommen – z.B. als schriftlose Überlieferung; als funktionale Bindung in einer Einheit von Repertoire, Singart und Aufführungspraxis; als „Musik der kleinen Leute” im Sinne eines notwendigen Pendants zur Hochkunst;[2278] als „Naturgesang” als Pendant zum „Kunstgesang”;[2279] als „alpenländischer Melodietypus”; als landschaftsbezogene Singtradition mit eigenen Stimmführungsregeln;[2280] als „über die Generationen verbürgt”; als „das ‚Sichbeziehen' auf den eigenen Lebensentwurf, auf das eigene Lebensumfeld”; als „musikalische Interpretation nach den eigenen Bedürfnissen und Interessen”[2281] neben anderen. Wie die Auswahl zeigt, wird es in Zukunft stärker erforderlich sein, für das Spezifische einer bestimmten Traditionsart eine jeweils individuelle Definition des „Authentischen” vorzunehmen. Sonst wäre es z.B. nicht möglich, das Kölner Lied, als ganzjährig gebrauchtes geselliges Lied in Gestalt eines internalisierten Repertoires, welches sich aus alten und neuen Liedtraditionen, aus alten und neuen Karnevalsliedern bzw. -schlagern, überlieferten volkstümlichen Liedern, Kinderliedern etc. zusammensetzt, als Brauchlied zu definieren, das es ist, wobei seine Traditions- und Vermittlungsformen heterogener nicht sein können: oral-aural, medial – durch Printmedien –, vereinfacht und zurechtgesungen, parodiert etc.
Die Frage der „Authentizität” stellt sich auch bei zahlreichen neuen Interpretationsformen ethnologischen Materials, das aus anderen musikalischen Volkskulturen stammt, aus deren Traditionen herausgenommen und in die eigenen gestellt wurden. Dieser Prozess setzte nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der internationalen Öffnung und des einhergehenden interkulturellen Austausches mit großer Intensität ein. Die Völker wollten nach dem Grauen des Krieges endlich aus der Welt des Hasses und der Feindschaft herauskommen und Verständigung oder Freundschaft suchen, soweit es die beiden politischen Machtblöcke in Europa zuließen. Und gerade die Volksmusik-Traditionen waren am ehesten dazu geeignet, Achtung vor den kulturellen Leistungen anderer Länder und Völker zu gewinnen, da ihre Sprache sofort verstanden wurde bzw. wird – ein Aspekt, der in der gegenwärtigen politischen Situation angesichts von Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass weiterhin von brennender Aktualität ist.
Auf diese Weise gelangten tradierte Lieder, Tänze und Musikstücke nunmehr in einen größeren internationalen Verbreitungsrahmen und neue Vermittlungswege öffneten sich. Gleichzeitig kam es aber auch teilweise zu Vermischungen von – aus unterschiedlichen Volkskulturen stammenden – Inhalten und Stilen, so dass sich neue Stilrichtungen und Repertoires herausbildeten. Der Begriff „Stilistischer Internationalismus” versucht, dieses Phänomen zu beschreiben.[2282]
In den 1970er Jahren z.B. hatten sich in Deutschland „Folk”- bzw. „Folklore”-Gruppen gebildet, teils mit professionellem, semiprofessionellem oder nichtprofessionellem Status, die nach Eindrücken aus Reisen oder Jugendbegegnungen ausländische Volksmusik in deren Traditionsformen (nach)spielten. Die 1972 gegründete Gruppe „Fiedel Michel” etwa interpretierte zunächst irische und schottische Volksmusik, bevor sie Liedgut aus der einheimischen Tradition spielte.[2283] Der Einfluss des schottisch- irischen Musizierstils ging teilweise so weit, dass deutsches Liedgut in deren Manier gesungen wurde: synkopiert, melismatisch [koloraturhaft ausgeziert] ausgeziert etc., d.h. traditionsfremd. Der Einbezug historischer Instrumente – wie z.B. Dudelsack, Dulcimer [englische Bezeichnung für Hackbrett], Waldzither – verstärkte den archaischen Charakter, Volksinstrumente aus Nord- und Südamerika fanden Eingang – etwa Banjo, Harfe, Perkussionsinstrumente neben anderen.
Ob als „stilecht” oder „stilfremd” beurteilt: unbekümmert wurde experimentiert und nach neuen Interpretations- und Musizierstilen gesucht; niederdeutsche Lieder wurden z.B. mit dem Banjo begleitet, Wanderlieder mit Zupfbass, E-Gitarre und Rhythmusgruppe oder Ähnlichem. Der Verfasser hat selbst jahrelang in den 1960er und 1970er Jahren erfolgreich mit einer „Folklore-Combo” gearbeitet, die fernab von Rock, Pop oder Jazz um die Herausbildung eigenständiger – dem Liedmaterial jeweils stilistisch und inhaltlich angemessenen – Interpretationen auf Improvisationsbasis bemüht war und 20 Semester lang „Offene Singen” begleitete, wobei jedes Lied eine neue Herausforderung bedeutete. Schätzungsweise über 200 überlieferte Lieder konnten auf diese Weise an viele Hunderte von Studierenden, Jugendlichen und Kindern sowie Erwachsenen vermittelt werden – in einer Zeit, in der eine musikpädagogische Kampagne gegen das Singen in der Bundesrepublik Deutschland auf ihrem Höhepunkt war.[2284]
Bei der Öffnung gegenüber anderen Stilformen und Lockerung der Strenge eigener Traditionen handelt es sich keineswegs um eine auf Deutschland begrenzte Erscheinungsform, sondern um eine Entwicklung im internationalen Rahmen. Dazu nur ein Beispiel: Die von den amerikanischen Folk-Sängern und deren Gitarren- bzw. Banjobegleitung inspirierte sowjetrussische Liedsängerin Janna Bitscheskaja zeichnete in den 1970er Jahren etwa 200 altüberlieferte Lieder und Balladen auf, die in den Ländern der Sowjetunion seinerzeit noch in primärfunktionaler Funktion lebendig waren, vermittelte sie durch Konzerte sowie Einspielungen einem großen Publikum und trug somit zu ihrer weiten Verbreitung bei. Die gewählte Interpretationsform, die anstelle der russischen Volksmusik-Tradition mit Balalaika [dreisaitiges russisches Saiteninstrument] und Akkordeon die Gitarre und sogar das Klavier einsetzte, bewegte sich also außerhalb von „Authentizität” und vermittelte dennoch mit dem weithin unbekannten Liedmaterial altes russisches Traditionsgut, wenn auch in traditionsferner Interpretation, wenn man so will: die ungewöhnliche Präsentation einer Lied- Dokumentation vor einem großen Auditorium. Die Beurteilung dieses Sachverhalts wird sicher sehr unterschiedlich ausfallen, aber der Vermittlungsprozess tradierten Liedgutes über professionelle Sängerinnen und Sänger mit teilweise weltweiter Wirkung (z.B. durch Pete Seeger, Joan Baez, Harry Belafonte, die auch viele Nachahmer fanden) bildet eine neue Verbreitungsform Musikalischer Volkskultur, die durchaus auch mit globaler Ausstrahlung interkulturelle Dimensionen gewinnen kann.
Andererseits bleibt auch nicht aus, dass in vereinzelten Fällen Modelle aus der kommerziellen Popmusik übernommen werden, wie vom Verfasser beobachtet, durch Adaptionen à la James Last in seinem bekannten „Happy Sound”-Stil oder im Stil der „Les Humphries Singers”, einem Pseudo-Gospel-Stil. Dass andererseits Stilelemente aus dem Popbereich, sparsam und sublim verwendet, sehr erfolgreich eingesetzt werden können, zeigen die sensiblen Bearbeitungen Paul Funks (Ost-Berlin) in den 1970er Jahren vom „Kume, kum, Geselle min” (13. Jahrhundert) bis zu Zuccalmaglios „Verstohlen geht der Mond auf” (19. Jahrhundert). Man möge die Breitenwirkung dieser Vermittlungsformen (durch Konzerte und Schallplatteneinspielungen) nicht unterschätzen. Sie machen hier ein breites Publikum mit einem Liedgut vertraut, das inzwischen weithin unbekannt ist, in den Schulen kaum noch gelehrt und in den Familien nicht mehr vermittelt wird.
Allgemein als „Internationale Folklore” deklariert, werden Inhalte und Interpretationsformen europäischer und außereuropäischer Volksmusik-Überlieferung in zahlreichen Folklore-Gruppen von Kindern und Jugendlichen in der aktuellen Gegenwart vermittelt. Hier liegt der merkwürdige Fall vor, dass eine Wissenschaftsbezeichnung (engl. folk = Volk; lore = die Wissenschaft, Kunde; also „Volks-Kunde”) gleichzeitig für ihre Praxis gebraucht wird. Wenn auch mit inflationärer Tendenz im wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Gebrauch verwendet, hat sich der Begriff international jedoch durchgesetzt. Häufig wird darunter das verstanden, was „Volksmusik” definiert, aber nunmehr auch länderübergreifend gemeint ist. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich auffälligerweise mit „(deutscher) Volksmusik” und „(ausländischer) Folklore” eine sprachliche Regelung eingebürgert, die sachlich unzutreffend ist, denn auch einheimische Traditionen werden teilweise unter „Folklore” subsumiert. Auf die vielschichtige terminologische Problematik, die inzwischen einen eigenen Begriffshof herausgebildet hat, kann hier nicht eingegangen werden.
Mit diesen Folklore-Gruppen, die inzwischen ein eigenes, neues Forschungsfeld bilden,[2285] haben sich Sing- und Spielformen entwickelt, die tradierte Lieder und Tänze in sehr individuellen und zumeist selbst entwickelten Interpretationsformen gestalten. Hier hat sich ein kreatives Potenzial besonderer Art herausgebildet. Bei den Teilnehmergruppen des seit 1980 im zweijährigen Turnus durchgeführten „Folklore-Wettbewerbs” in Nordrhein-Westfalen, um nur dieses Beispiel herauszugreifen, lassen sich Vielfalt und Originalität sowie musikalischer Phantasiereichtum in den verschiedensten Besetzungsformen, so wie sie sich gerade aus der Zahl der interessierten Spieler und Sänger und ihrer Instrumente ergeben haben, sehr gut ablesen. Die Vermittlungsformen sind äußerst vielseitig. Das Liedrepertoire reicht z.B. vom historischen Spottlied bis zum zeitgenössischen politischen Lied, die Materialbreite von stilistisch strenger irischer Musik bis zu lateinamerikanischen Volksliedern und Volkstänzen, von Eigenkompositionen bis zu nachgespielten Oberkrainer-Arrangements – in letzter Zeit allerdings weniger, wie der Verfasser beobachten konnte.
Eher ist eine neue eigene Traditionslinie zu erkennen. Sie begann Anfang der 1950er Jahre mit dem Wirken von zwei engagierten Volksmusikanten: Ernesto Rossi und Karl Lorenz in der Stadt Remscheid (Nordrhein-Westfalen). Ernesto Rossi gründete seinerzeit mehrere Spielkreise in mehreren Städten, während Karl Lorenz 1960 das „Remscheider Studio für europäische Volksmusik” ins Leben rief. Wie der Name bereits ankündigt, ging es den Initiatoren, auch nach ihren persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, um internationale Verständigung mit Hilfe des Mediums Volksmusik. Karl Lorenz gestaltete z.B. allein über 150 Schulfunksendungen mit „europäischer Folklore” im Radio Bremen. Auch sah man sich musikpädagogisch verpflichtet, indem Tonbänder mit „musikalischer und tänzerischer Folklore” für die Jugendarbeit und für den Gebrauch an Schulen sowie Musikschulen produziert wurden. Neben Veröffentlichungen fanden „Offene Singen” und Tanzveranstaltungen in vielen Städten Nordrhein-Westfalens statt, auch wurden Lehrgänge für europäische Volksmusik in den verschiedensten Bildungsstätten durchgeführt.[2286]
Auf diese Weise entwickelten sich neue Vermittlungsformen Musikalischer Volkskultur mit weitreichender Wirkung. Die Spielkreise Rossis entfalteten umfangreiche öffentliche Aktivitäten. Nach Rossis Weggang übernahm Henner Diederich die Gruppe und leitet sie als „Folklore-Ensemble Ernesto Rossi” bis heute. Durch zahlreiche Rundfunksendungen (u.a. als Begleitensemble zum „Offenen Singen”) und Einspielungen ist es weithin bekannt geworden. Die Bearbeitungen Henner Diederichs wirkten stilbildend. Sie werden von anderen Gruppen nachgespielt, auch variiert und regen zu eigenen Lösungen an. Inzwischen existiert eine Generation von Schülern, die ihrerseits wieder neue Folklore-Gruppen gründen und auch mit eigenen Interpretationsformen sehr erfolgreich sind.
Hier zeigt sich ein schönes Beispiel, wie tradierte Lieder und Tänze in origineller Weise vermittelt werden und sich damit eine eigene neue Traditionsform herausbilden konnte, die auch durch Veranstaltungen in Krankenhäusern, Seniorenheimen oder anderen Anlässen (z.B. Benefizkonzerten) soziale Aufgaben wahrnehmen kann, ganz abgesehen von Veranstaltungen im Rahmen ihrer Schulen und deren Kumulierungseffekt bei der Repertoirevermittlung. Die Wettbewerbstage sind eigentlich große „Volksmusik-Feste”. Die Gruppen lernen voneinander und als Tage der Begegnung üben sie zugleich wichtige soziale und kommunikative Funktionen aus.
Interkulturelle Verständigung ist ebenfalls das Ziel der Gruppe „Klingende Brücke”, die 1948 von Josef (Sepp) Gregor (1903–1987) ins Leben gerufen wurde. In zahlreichen Städten Deutschlands, Frankreichs, Belgiens, zeitweise auch in den Niederlanden und in Österreich gründete er Singkreise, die europäisches Liedgut in den Ursprachen pflegten. Bei „Liedstudio-Abenden”, monatlichen Wochenendtreffen und großen Jahrestreffen unter internationaler Beteiligung (seit 1953 auf Schloss Annaberg in Bonn- Friesdorf) wurde und wird ein umfangreiches Repertoire überlieferten Liedgutes vermittelt, das bewusst den Akzent der Völkerverständigung in den Mittelpunkt stellt. Heute bestehen noch 23 Liedstudios mit etwa 1.000 ständigen Teilnehmern, ein weiteres Beispiel für eine neue Traditionsform im Bereich des Singens.[2287]
Wie vielfältig die Aktivitäten allein in dem Bemühen sind, mit Hilfe tradierter Musikalischer Volkskulturen Fremdenhass abzubauen und Verständigung mit Angehörigen fremder Kulturen aufzubauen, mögen einige ergänzende Beispiele belegen, wobei es zumeist einzelne Persönlichkeiten oder Gruppen sind, von denen diese Initiativen ausgehen und damit neue Vermittlungs- und Traditionsformen schaffen. Karl Adamek z.B. gründete 1988 im Rahmen der Kultur Kooperative Ruhr das Projekt „Windrose – aus allen Himmelsrichtungen”, das sich den Abbau von Vorurteilen bei Bürgern unterschiedlicher Kulturen im Lande zum zentralen Ziel setzte. Innerhalb der Bundesinitiative „Forum buntes Deutschland. Aktion Courage: Nachbarn schützen Nachbarn” wurden z.B. 10 Punkte „zur Funktion von Liedern und des Singens in Nachbarschaftsinitiativen gegen Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit” formuliert und in zahlreichen Veranstaltungen, Konzerten und Publikationen (auch Tonträgern) engagiert vertreten.[2288]
Auf die Initiative von Karl Adamek geht ebenfalls die 1999 unter der Schirmherrschaft von Lord Yehudi Menuhin (1916–1999) in Münster gegründete Förder- und Aktionsgemeinschaft „Il Canto del Mondo e.V.” (Präsident: Hermann Rauhe) zurück, die u.a. „Singen als Verständigungsbrücke zwischen den Völkern” und „das Potenzial des Singens transversale Universalsprache des Menschen werden” zu lassen als hochgesteckte Ziele verfolgt und in Projekten und Modellversuchen umzusetzen bemüht ist.[2289]
In vielen Jugendzentren und verwandten sozialen Einrichtungen Berlins, das einen hohen Anteil von Bürgern ausländischer Herkunft aufweist, bestehen zahlreiche international besetzte Chöre und Instrumentalgruppen, die wiederum mit ihren eigenen, breit gefächerten Repertoires eine besondere Traditionspflege betreiben, bei der sich teilweise die Stile vermischen und neue herausbilden, im professionellen Bereich z.B. als „Fusionsmusik”. Über die musikalischen Aktivitäten hinaus dienen diese Initiativen zugleich auch in vordringlicher Weise der sozialen Integration.[2290]
Auch in einem geographischen Raum wie in den Alpenländern, in dem die Traditionspflege im Vergleich zu anderen Regionen noch in wesentlich intensiverem Maße lebendig ist, waren es einzelne Persönlichkeiten, die durch ihre Aktivitäten besondere Impulse bei der Vermittlung und Tradierung Musikalischen Volksgutes gaben. Stellvertretend für viele seien hier nur drei Persönlichkeiten genannt: Tobi Reiser d.Ä. (1907–1974), der 1946 das Salzburger Adventsingen einführte, das inzwischen einen festen Brauch im Salzburger Musikleben darstellt und in der Symbiose überlieferten Volksgutes und neuen Kompositionen eine eigene Tradition herausbildete.[2291] Wastl Fanderl (1905–1991), erster Volksmusikpfleger des Bezirks Oberbayern (1973–1981), der sich in vielfältiger Weise um die Volksmusikpflege verdient gemacht hat, z.B. durch Singwochen und Singstunden, Rundfunksendungen, Volksmusikwunschkonzerte, die Fernsehreihe „Bairisches Bilder- und Notenbüchel”, Schallplatten, konzertante Volksmusikveranstaltungen, „Sänger- und Musikantentreffen” und nicht zuletzt durch seine zahlreichen eigenen, vorbildlichen Liedinterpretationen und anderem mehr. Seine Vermittlungsaktivitäten haben breite Kreise der Volksmusik zugeführt, wobei die Nutzung der modernen Medien dank ihres Kumulierungseffektes sehr effizient war.[2292] Und Walter Deutsch (geb. 1923), der nun schon seit 50 Jahren durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen sowie Rezensionen, Kompositionen und Bearbeitungen, Vorträge, viele Veranstaltungen, Tagungen, Symposien, umfangreiche Medienbeiträge – z.B. die Fernsehreihe „Fein sein, beieinander bleiben” (allein mit 39 Folgen) oder zahlreiche andere Sendereihen, auch im Schulfunk – neben anderem ein Vermittlungspotenzial Musikalischer Volkskultur entwickelt hat, das in seiner Fülle und Vielseitigkeit nur Erstaunen machen kann.[2293]
Musikalische Vermittlungs- und Traditionsformen nehmen im Brauch eine besondere Stellung ein. Da diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet ist,[2294] sei die Beschränkung auf einige ausgewählte Aspekte zum Singen erlaubt. Das Lied nimmt im Brauch die zentrale Mittlerfunktion wahr. Zum einen handelt es sich um teilweise sehr lange Traditionen, d.h. überlieferte Texte und Melodien werden unverändert beibehalten oder nach alten Traditionen rekonstruiert und reaktiviert, z.B. Heischelieder zu den verschiedensten Anlässen oder jahreszeitliche Brauchlieder – z.B. zum Advent-, Weihnachts-, Neujahrs-, Dreikönigs-, Oster-, Pfingst- oder Erntebrauch. Zum anderen besteht eine Mischung aus überlieferten und neu gestalteten Texten, z.B. beim Gstanzl- Singen oder bei Kontrafakturen bzw. Parodien mit individuell bezogenen neuen Texten zu überlieferten beliebten Liedern oder Schlagern. Weiterhin erfahren bestimmte Brauch-Repertoires ständige Erweiterungen durch neu komponierte Titel, die schnell aufgenommen und verbreitet werden, z.B. im Karneval, wie oben bereits angesprochen. Da viele Bräuche abgesunken sind, ist auch das mit ihnen verbundene Brauchlied nicht mehr in Gebrauch. Andererseits existieren auch in unserer Zeit noch lang tradierte Singformen im Brauch mit jeweils eigenen Repertoires, die von Generation zu Generation weitervermittelt werden, z.B. in Handwerks-Bruderschaften bei den „Schallerabenden”, bei Kommersen und Kneipen der studentischen Verbindungen oder bei den Pfadfindern in den einzelnen Gruppen.
Neue Brauchformen haben sich z.B. in den Kindergottesdiensten herausgebildet, wo auch neue geistliche Kinderlieder Eingang und Verbreitung gefunden haben. Zu neuen Brauchformen zählen ebenso die Fan-Gesänge in den Sportstadien. Es handelt sich dabei um Parodien bekannter Melodien, deren Originalgestalt wohl den wenigsten der Jugendlichen bekannt sein dürfte. Die mit ihren Vereinen reisenden Fans vermitteln auch in anderen Stadien ihre Repertoires, so dass über die Tradierung „vor Ort” hinaus eine Verbreitung erfolgt. Die Repertoires der verschiedenen Fan-Gruppen beeinflussen sich gegenseitig, so dass viel Fluktuation entsteht. Andererseits bilden einzelne Titel inzwischen ein allgemein verbreitetes Standard-Repertoire, das ritualisiert zur Anwendung kommt. Fan-Gesänge sind rein funktional und nicht ästhetisch zu beurteilen.
Neben den eben angesprochenen vielfältigen Vermittlungs- und Traditionsformen des Liedes im Brauch existieren weitere zahlreiche Felder, in denen die Singüberlieferung eine zentrale Rolle spielt. Zu nennen wäre z.B. das Wirtshaus-Singen, eine Tradition, die in den alpenländischen Regionen noch sehr verbreitet ist. Dies belegen unter anderem speziell für diesen Zweck herausgegebene Liederhefte.[2295] Dass dieses Liedgut entsprechend deftig, selbstironisch, mit erotischen Anspielungen versehen etc. gestaltet ist, entspricht althergebrachter Tradition. Liedgut dieser Art hatte schon immer Ventilfunktionen, dem Bedürfnis entsprechend, aus den Konventionen des Alltags einmal entfliehen zu dürfen, was sich entsprechend heftig vollzieht. Zu nennen wäre weiterhin der noch vielfältig geübte Brauch des Singens von Schnaderhüpfln, Gstanzln und Vierzeilern: „Die Texte der Vierzeiler verlangen beim Vortrag einen sehr freien Umgang mit der gegebenen Melodie. Die Zeilenlänge wechselt, der Sprachrhythmus ist unterschiedlich und verlangt einen geübten Sänger. Die Vierzeiler sind eine der freiesten Formen des überlieferten Volksgesanges, gekennzeichnet u.a. durch Improvisation und die Möglichkeit immer neuer Zusammenstellungen von Textfolgen, Austauschbarkeit und schnelle Variantenbildung, Herstellung persönlicher aktueller, oft auch kritischer Bezüge, die ein gegenseitiges An- und Aussingen provozieren."[2296]
Hierzu gehören weiterhin die geselligen Lieder, die bei Anlässen der verschiedensten Art intensiv gepflegt werden und damit eine eigene Traditionsform herausgebildet haben. Neben dem speziellen regional verbreiteten Liedgut dieses Typus ist zu beobachten, dass – offensichtlich durch die vervielfältigenden Möglichkeiten der medialen Verbreitung in unserer Zeit befördert – die Repertoires des geselligen Liedes über die Regionen hinweg Ähnlichkeiten oder sogar direkte Übereinstimmung aufweisen. Untersuchungen von Gerlinde Haid und Hans Schuhladen – z.B. zum Hochzeitsbrauch im Salzburgischen – ermittelten sowohl bei der „Faschingshochzeit” als auch bei der „realen” Hochzeit große Übereinstimmungen mit dem Repertoire, das Peter Fauser bei einer Kirmes in Thüringen vorfand, z.B. in den direkten Übereinstimmungen der Titel, wie „In München steht ein Hofbräuhaus”, „Trink mer noch e Tröpfle”, „Schneewalzer” oder „Schwarzbraun ist die Haselnuss”.[2297]
Dass das Wirtshaus-Singen auch noch in anderen als alpenländischen Regionen gepflegt wird, bezeugt ein Bericht Horst Trauts über ein Stammtisch-Singen in Thüringen in den 1990er Jahren. Das Zusammentreffen mehrerer glücklicher Zufälle brachte eine Singrunde zusammen, deren regelmäßiges sonntägliches Frühschoppen- Singen sehr bald bekannt wurde und auch andere interessierte Gäste anlockte und zum Mitsingen animierte. Das Repertoire entspricht den üblichen Typen des geselligen Liedes, d.h. bekannten Trinkliedern – wie „Jetzt trink mer noch a Flascherl Wein” -, dem volkstümlichen Unterhaltungslied – wie „Freut euch des Lebens” –, dem erotischen Lied – wie „Das Vogelnest” oder „Die Brombeerpflückerin” u.a. Die Lieder werden mehrstimmig improvisiert vorgetragen, wie es einer alten Traditionspraxis volkstümlichen Singens entspricht. Die Singrunde „tritt nicht auf”, sondern singt für sich.[2298]
Wie schon angesprochen beschränkt sich diese Form des geselligen Singens nicht auf das Wirtshaus-Singen, sondern wird in den Versammlungen und Veranstaltungen zahlreicher Regional-Vereine, z.B. Wandervereine, Sportvereine, Heimatvereine, Karnevalsvereine usw., intensiv gepflegt. Das Repertoire dieser singenden Gruppen enthält neben dem örtlich oder regional überlieferten Volksliedgut Lieder aus dem volkstümlichen Bereich, Evergreens, Poptitel und Schlager, aber auch Mundartlieder, altes Volksliedgut neben Eigenproduktionen und Parodien etc., wie dies auch Gerlinde Haid und Hans Schuhladen ermittelten.[2299]
Dass dem Wirtshaus- und geselligen Singen für die Traditionspflege des überlieferten Liedes dank seiner stilistischen Breite in einer Zeit der Überflutung durch technische Medien außerordentliche Bedeutung beigemessen wird, unterstreichen unter anderem die Bemühungen der Heimatpflege, z.B. durch den Wettbewerb „Musikantenfreundliche Gaststätten” in der Steiermark oder durch einschlägige Publikationen, z.B. ein Wirtshausliederbuch des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege und dem Bezirk Schwaben neben den bereits erwähnten Liederheften des Volksmusikarchivs des Bezirks Oberbayern, für die Ernst Schusser verantwortlich zeichnet.[2300]
Zu Recht wird beklagt, dass das Singen in der Familie sehr stark zurückgegangen und damit eine wichtige Traditionsform des Liedes fast vollständig verloren gegangen ist. Ergebnisse einer Untersuchung im Rahmen eines Forschungsprojektes zur musikalischen Früherziehung, die der Verfasser in der Zeit von 1973 –1988 durchführte, machen jedoch deutlich, dass die Situation differenzierter zu beurteilen ist. Unter anderem wurden Eltern nach den Lieblingsbeschäftigungen ihrer Kinder befragt, getrennt nach Musikschul- und Kindergartenkindern. Zu den überraschenden Ergebnissen gehörte, dass an Musikschulen 95,8 % der Eltern und an Kindergärten 91,9 % die Frage, ob ihr Kind gern singt, mit „ja” beantworteten. Als Singgelegenheiten wurden u.a. genannt: beim Spielen, Autofahren, Wandern usw. Als typisch kann die Aussage gelten: „Den lieben, langen Tag – morgens im Bett, beim Spiel, beim Spaziergang, tagsüber mit der Mutter gemeinsam und auch abends im Bett."[2301]
Bei der Frage nach den Singrepertoires standen erwartungsgemäß Kinderlieder an der Spitze: 88,8 % an Musikschulen und 85,4 % an Kindergärten. Dem folgten selbst erfundene Lieder: 73,4 % an Musikschulen und 55,4 % an Kindergärten. Nach Schlagern (mit 21,3 % und 38,2 %) folgten Volkslieder und Wanderlieder mit 19,6 % und 13,4 %.[2302] Dass Volkslieder und Wanderlieder erst an vierter Stelle stehen, ist erklärlich, da sie zum Liedrepertoire der älteren Kinder und Erwachsenen gehören. Die Kategorie „Kinderlied” ist hier nicht scharf zu umgrenzen. Sie beinhaltet ein weites Spektrum von Typen, beispielsweise vom Kleinkind-Lied bis zum Schlager aus der Kinder-Hitparade.
Ohne dies empirisch-statistisch absichern zu können, ist aber davon auszugehen, wie auch Gespräche mit den Eltern bestätigten, dass zumindest ein Teil dieses Liedgutes aus jenem Bereich stammt, der in der Volkskunde mit „Volkskinderlied” bezeichnet wurde, obgleich dieser Begriff als definitorische Kategorie nicht mehr ausreicht. Gemessen aber an der hohen Zahl an neuen Kinderlied-Editionen, die gerade dieses tradierte Liedgut favorisieren, ist die Vermutung nicht zu weit hergeholt, dass ein entsprechender Bedarf an überlieferten Kinderliedern besteht und diese auch mit Kindern im Vorschulalter in der Familie gesungen werden.
Das Repertoire des Liedgutes, das an Kindergärten gesungen wird, streut breit, da sehr viele neue Kinderlieder Eingang gefunden haben. Eine entsprechende analytische Untersuchung hierzu ist bisher nicht bekannt geworden, so dass keine näheren Aussagen möglich sind. Zu bedenken ist noch das Phänomen der Akzeleration: Liedgut, das einst zum Alter des größeren Kindes und Jugendlichen gehörte, ist in die Grundschule abgewandert und Teile dessen Liedrepertoires in das Vorschulalter. Aus dem Gesagten ist zu folgern, dass die Familie als Vermittlungsinstanz überlieferten Liedmaterials zwar sehr stark zurückgegangen ist, aber nicht vollständig zu existieren aufgehört hat, wobei von großen Unterschieden, auch regional bestimmt, auszugehen ist.
Hoffnung macht auch, dass die große Nachfrage nach dem 1992 vom Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern herausgegebene Kinderliederheft „Beim Bimperlwirt, beim Bamperlwirt”[2303] so groß war, dass 1994 ein weiteres Heft „Wenn der Vater mit der Mutter auf die Kirchweih geht”[2304] folgen konnte und 1995 das Heft „Boarisch durch die Bruck'n fahr'n – Überlieferte Spiele für Kinder im Kindergartenalter”.[2305] Absicht dieser Hefte ist die (Be)förderung der Pflege regional überlieferten Liedgutes, um diese alte Traditionsform zu reaktivieren bzw. um elterliche Bemühungen zu verstärken. Was einst in oral-auraler Tradition unter den Kindern selbst fortlebte, bedarf heutzutage vielerorts pflegerischer Bemühungen, die sehr erfolgreich sein können, wie das Beispiel der Liedausgaben des Bezirks Oberbayerns zeigt.
Ähnlich positive Ergebnisse sind auch im Bereich des geistlichen Singens zu beobachten. Das in neuen Ausgaben mit tradierten und neuen geistlichen Kinderliedern vermittelte Liedgut wird von den Kindern gern aufgenommen, so dass sich auch hier eine sehr erfolgreiche Traditionsform herausbilden konnte. Wenn das vom Erzbischöflichen Generalvikariat Köln herausgegebene Kinderliederbuch „Kommt und singt”[2306] seit 1992 bisher 5 Auflagen in hoher Zahl erzielt hat, so spricht das für eine große Aufnahmebereitschaft der Kinder auch für dieses Liedgut, aber in gleicher Weise von der fachkompetenten Umsicht und Sorgfalt bei der Vorbereitung dieses Buches. Analoges gilt auch für die Ausgabe „Laßt die Kinder zu mir kommen”,[2307] eine Sammlung von Liedern für die Gestaltung des Kindergottesdienstes der Volksmusikpflege und des Volksmusikarchivs des Bezirks Oberbayern seit 1991, um ein anderes Beispiel anzuführen.
Im Chorwesen, um eine weitere Vermittlungs- und Traditionsform anzusprechen, wird das tradierte Liedgut – wie bekannt – in der Regel in mehrstimmigen, mehr oder weniger kunstvoll komponierten Bearbeitungen gepflegt. Da Laienchöre – bis auf die verschwindend geringe Zahl von Berufschören – heutzutage die vokalen Anteile des Konzert- und Aufführungsbetriebes bestreiten, bilden die Volksliedbearbeitungen nur noch einen mehr oder weniger eingegrenzten Anteil ihrer Repertoires, wobei dies von den individuellen Zielsetzungen der einzelnen Chöre abhängig ist. Es existieren aber auch Chöre, die sich ausschließlich auf die Pflege tradierten Liedgutes spezialisiert haben und insbesondere das heimatliche Liedgut pflegen. So leitete Gerold Kürten bis zu seinem Tode 1993 über viele Jahre hinweg einen Chor an der Volkshochschule Köln, der ausschließlich Kölnische Dialektlieder sang. In Oberpleis bei Königswinter gründete Edgar Zens 1986 den „Singkreis Möschtijall – Siebengebirge”, dessen vornehmliches Ziel es ist, „Lieder in rheinischer Mundart und Lieder der engeren Heimat” in mehrstimmiger Bearbeitung zu singen. Über die Regionalpflege hinaus ist der Chor z.B. auch in einer Fernsehsendung des ZDF bekannt geworden.[2308]
Es ist davon auszugehen, dass es wahrscheinlich eine größere Zahl von Chören gibt, die in gleicher Weise regional tradiertes Liedgut besonders pflegen, aber bisher wissenschaftlich nicht erfasst worden sind. Neben ihren Konzerten und Veranstaltrungen erreichen sie mit ihren heute technisch und finanziell leicht realisierbaren privaten CD-Pressungen einen größeren Verbreitungsgrad, so dass die Auswirkungen dieser Vermittlungsform nicht zu unterschätzen sind. Gäbe es zudem zentrale Vertriebssysteme, z.B. in den großen Chorverbänden, könnte dies sicher vervielfacht werden.
Pflegen diese (oben genannten) Chöre einheimisches Liedgut, so gibt es seit den 1980er Jahren Neuentwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland, die musikalische Volkstraditionen anderer Kulturen aufgreifen und pflegen. So wäre z.B. der 1987 in Köln gegründete „Erste barbershop-Chor” zu nennen, der mit etwa 25 Mitgliedern der erste Männerchor dieser Art in Deutschland ist und großen Zuspruch findet. Er übernahm den Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Frisörläden entstandenen Männergesang in Quartettform, bei dem einer Melodiestimme im Tenor drei Stimmen nach bestimmten harmonischen Regeln improvisierend hinzugefügt werden, so dass sich reizvolle Klangstrukturen ergeben. Inzwischen existiert ein weiterer Männerchor dieser Art in Bremen. In Dortmund und Sonsbeck am Niederrhein waren zuvor schon zwei barbershop-Frauenchöre gegründet worden.[2309] Junge Chöre dieser Art erfreuen sich überhaupt eines lebhaften Zuspruchs. In jenen Männerchören hingegen, die allzu stark im romantischen Repertoirestil des 19. Jahrhunderts verharren, sind Nachwuchsprobleme nicht zu übersehen. Eine andere Frage ist, ob nicht die Gefahr einer allmählichen Überfremdung entstehen und damit Verluste der eigenen Traditionen eintreten könnten.
Um ein weiteres Beispiel anzuführen: In jüngster Zeit hat sich das Gospel-Singen zu einer eigenen Traditionsform entwickelt. Neben den Kirchenchören haben sich neue Chöre herausgebildet, die ausschließlich Gospel-Traditionen, also eine musikalische „Fremdkultur”, pflegen. Von Zeit zu Zeit kommen auch mehrere Chöre zu größeren Veranstaltungen regelmäßig zusammen und treten mit Kirchenkonzerten an die Öffentlichkeit, die teilweise auch zum Mitsingen und Mitmachen animieren. Melodien, Texte und instrumentale Begleitarrangements (in Combo- oder Band-Besetzung) sind neu geschaffen, aber die immer noch beibehaltenen Improvisationsanteile sind von erfrischender Vitalität.
Die Geschichte der Liedpflege und -überlieferung enthält aber auch dunkle Kapitel, die hier nicht unerwähnt bleiben dürfen. So wurden z.B. bei dem 1775 von Ludwig Heinrich Christoph Hölty geschaffenen vielstrophigen Text „Üb immer Treu und Redlichkeit” zur Melodie von Mozarts „Ein Mädchen oder Weibchen” aus der „Zauberflöte” allgemein sozialkritische Strophen, die eher als private Verhaltensanregungen an einen Sohn gemeint waren, weggelassen. Später erhielt dieses Lied im Zuge der Herausbildung nationalstaatlichen Denkens, insbesondere durch den Symbolgehalt der Incipitzeile „... bis an dein kühles Grab”, das durchaus auch den Soldatentod meinen konnte, eine ganz spezifische Prägung. Unterstützung erhielt diese Sichtweise durch die Verwendung des Liedes im Glockenspiel der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Garnisonkirche Potsdam, der zentralen Garnisonstadt Preußens.[2310]
Allgemein verbreitetes Liedgut, das in den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, entstanden war, die Verteidigungskriege waren, um dem erwachten Nationalgefühl besonderen Ausdruck zu verleihen, wurde im Zuge der allgemeinen Militarisierung zur Vorbereitung auf den Ersten Weltkrieg im Kaiserreich und auf den Zweiten Weltkrieg vom NS-System zielbewusst eingesetzt, um die Angriffskriege psychologisch vorzubereiten, z.B. „Ich hatt' einen Kameraden”, „Flamme empor”, „Freiheit, die ich meine”, „Was blasen die Trompeten”, „Lützows wilde verwegene Jagd” u.a. mehr. Soldatenklagen, wie sie mannigfach überliefert sind, wurden systematisch unterdrückt, stattdessen Soldatenlieder oder „patriotische Lieder” stark be(ge)fördert, wie z.B. das chauvinistische Lied „Es braust ein Ruf wie Donnerhall”, das im Ersten Weltkrieg mit besonders aggressiven Strophen zum Pflichtlied für den Schulunterricht gemacht wurde.[2311]
Eine völlig andere Funktion erhielt das tradierte Volkslied in der DDR im Gefolge der Singbewegung seit den 1970er Jahren. Das wieder entdeckte historische sozialkritische deutsche Volkslied wurde Ausdruck von Opposition und Aufmüpfigkeit gegen das DDR-Regime, da sie nicht offen, sondern nur versteckt artikuliert werden konnten. Folk-Gruppen sangen dabei insbesondere Lieder, in denen von Reisezielen die Rede war, die für die DDR-Bevölkerung unerreichbar waren, z.B. in dem „Großen Reiselied” („Lustig, lustig, ihr lieben Brüder”) oder in Auswandererliedern unter Anspielung auf die große Fluchtbewegung in den letzten DDR-Jahren – wie „Ein stolzes Schiff streicht einsam durch die Wellen” mit der Textstrophe:
„Schauet auf, ihr Unterdrücker!
Schauet auf, ihr Volksbetrüger!
Seht eure besten Arbeitskräfte fliehn!”[2312]
Das Auditorium verstand die Botschaft und bildete mit der Gruppe eine Solidargemeinschaft, ein Beispiel für die Vermittlung des tradierten Liedes als politische Willenskundgabe gegen ein politisches Machtsystem noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Beispiele oppositionellen Singens aus der NS-Zeit hat Wilhelm Schepping aufgearbeitet, der diesen Themenbereich zu einem besonderen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit mit zahlreichen Veröffentlichungen gemacht hat. Er berichtet z.B. über annotative Parodien zu dem Nikolaus-Kinderlied „Lasst uns froh und munter sein”:
„Lasst uns froh und munter sein,
Hitler zieht die Opas ein!
Lustig, lustig, traleralala!
Bald ist die Vergeltung da,
bald ist die Vergeltung da.”[2313]
Der Text bezieht sich expressis verbis auf die militärisch völlig sinnlosen Maßnahmen der Einberufung von älteren Männern und Frauen zum so genannten „Volkssturm”, dem „letzten Aufgebot”, in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkrieges und die Kriegspropaganda, die trotz der Bewusstheit des schon seit Stalingrad lange verlorenen Krieges mit Parolen – wie „Vergeltung” (für die Bombardierung deutscher Städte durch die alliierten Luftstreitkräfte) und „Wunderwaffen” – Durchhaltewillen einpeitschte. Ein anderes Beispiel ist die in Österreich verbreitete Parodie des Weihnachtsliedes „Stille Nacht, heilige Nacht”:
„Stille Nacht, heilige Nacht.
Was machts's, wenn der Magen kracht,
Die Braunen leben und fressen fein
Und stecken unsere Steuern ein.
Sie müssen verschwinden samt ihrer Macht,
dann gibt es wieder stille Nacht und heilige Nacht.”[2314]
Die allgemein bildende Schule war und ist nach wie vor der wichtigste Ort der Liedvermittlung, wie z.B. Ernst Klusen (unter Mitarbeit von V. Karbusicky und W. Schepping) in seiner repräsentativen Untersuchung zum Singen in der Bundesrepublik Deutschland 1974 ermitteln konnte.[2315] Untersuchungen von Wilhelm Schepping in den 1970er Jahren bestätigten dies in gleicher Weise. Bei Grundschulkindern z.B. dominierte 1973/1974 die Schule als Liedvermittler mit 37,7 % vor den Medien mit 37,1 % und neben anderen Instanzen wie Elternhaus, Kirche, Freunde, Kindergarten.[2316] 1977/78 vergrößerte sich der Anteil der Schule als Vermittlungsinstanz um 7 % auf 44 %.[2317] Schepping führte dies auf den „allmählich auf die Schule durchschlagenden Wandel in den musikdidaktischen Positionen zurück”. Denkbar ist aber auch, dass in der Schulwirklichkeit die seinerzeit ausgegebenen Maximen der Musikpädagogik gegen das Singen wohl nicht so ernst genommen wurden, denn das „offizielle” musikdidaktische Umdenken setzte erst um die Wende zu den 80er Jahren allmählich ein.
Wenngleich das Singen, spätestens seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zunächst der Einübung der Kirchengesänge diente, damit der entscheidende Vermittlungsträger des tradierten geistlichen Liedes war, wurde später das Volkslied in den Schulunterricht eingeführt. Jedoch war diese Volksliedpflege primär von außermusikalischen Zielsetzungen bestimmt. Die Ambivalenz schulischer Liedpflege zeigte sich zum einen in der Entwicklung zum wichtigsten Ort der Liedvermittlung und -verbreitung und zum anderen in der Unterwerfung durch Doktrinen der herrschenden Staatsmacht und ihren staatlichen Selektions- und Zensurmechanismen. Dazu gehörte z.B. die Verherrlichung von Königtum und Obrigkeit in einem entsprechenden Liedgut. Gehorsam, Treue, Pflichterfüllung gehörten zu den obersten Tugenden. Eine Verfügung der königlichen Regierung zu Köln vom 11. Januar 1828 – die Gesangbildung in den Volksschulen betreffend – vermittelt z.B. folgende Maxime: „Unterricht im Singen” ist eines „der wesentlichsten Mittel des erziehenden Unterrichts, durch dessen richtige und ununterbrochen fortgesetzte Anwendung auch das roheste Gemüt für sanftere Gefühle zugängig gemacht, ihrem Einfluße hingegeben und eine Unterordnung unter allgemeine Gesetze bei gemeinsamer Tätigkeit an andern gewöhnt werden kann.”[2318] Singen wird eindeutig als Mittel der sittlichen Erziehung definiert, wie es den Vorstellungen jener Zeit entsprach.
Relativ liberal artikuliert etwa zwei Jahrzehnte später eine Zirkularverfügung des königlichen Schulkollegiums der Provinz Brandenburg vom 20. Juni 1851 als Ziel des Gesangunterrichts an Volksschulen in Anlehnung an die seit Herder gängige Auffassung vom Volkslied: „... dass die Jugend mit denjenigen Liedern und Weisen bekannt gemacht wird, die, entweder, weil sie aus dem Volke selbst entsprungen sind, oder weil sie von den größten Meistern deutscher Tonkunst herrühren, von Mund zu Mund fortgepflanzt zu werden würdig sind.” In einer Vorschlagsliste tauchen 56 weltliche und geistliche Volkslieder auf, darunter Lieder, die auch heute noch sehr bekannt sind, z.B. „Kuckuck, Kuckuck ruft aus dem Wald”, „Gestern abend ging ich aus”, „Winter ade”, „Komm, lieber Mai”, „Der Mond ist aufgegangen”, „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod”, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten” neben anderen.[2319] Dass diese Lieder teilweise auch heute noch gesungen werden, ist zu wesentlichen Teilen auf die lang andauernde, kontinuierliche Vermittlung im schulischen Gesang- bzw. Musikunterricht zurückzuführen. Ein knappes Viertel stellen die „Vaterlandslieder” dar, deren Repertoire auch in späteren Sammlungen wiederkehrt. Da hier nicht der Ort ist, die wechselhafte Geschichte der Liedvermittlung im Schulunterricht[2320] darzustellen, sei nur darauf verwiesen, dass sich in der Folgezeit das tradierte Lied trotz politischer, ideologischer, idealisierender sowie pädagogischer Vereinnahmung durch die wechselnden politischen Systeme in Deutschland hindurch im „Singunterricht” und später im „Musikunterricht” der allgemein bildenden Schule bis heute behaupten und damit eine zentrale Vermittlungsform erhalten werden konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man in der Bundesrepublik Deutschland einen Neuanfang mit der von den Nationalsozialisten brutal unterbrochenen Einführung der Kestenberg-Reform des Musikunterrichts. Die erste Didaktik im Fach war eine „Volkslied-Didaktik”, d.h. das Volkslied war Ausgangspunkt, Mittel- und Zielpunkt des gesamten Musikunterrichts, eine Antwort auf die herbe Kritik Adornos an der Musikpädagogik seiner Zeit. 1965 setzte mit der Lösung vom Konzept der „Musischen Erziehung” eine radikale Wende im Musikunterricht ein. Ursache war neben der Kritik Adornos an der „Rückständigkeit” gegenüber der Neuen Musik und „Kunstferne” der Musikpädagogik vornehmlich das Bewusstwerden der nebulösen, idealisierten und ideologisierten Position Georg Götschs, einem führenden Vertreter dieses Konzepts, die teilweise auch durch die NS-Zeit hindurchgetragen worden war. Die Folge war unter anderem eine regelrechte Kampagne gegen das Singen im Musikunterricht, da man noch dazu in neu herausgegebenen Liederbüchern Lieder von Hans Baumann mit versteckten NS-Ideologiegehalten entdeckt hatte. Das Kind wurde allerdings mit dem Bade ausgeschüttet, um es einmal volkstümlich zu umschreiben. Hinter vorgehaltener Hand berichteten seinerzeit jedoch dem Verfasser Kollegen, dass sie trotzdem mit ihren Klassen sängen und die Schüler es gern täten. Der Verfasser hat übrigens in langjähriger Tätigkeit an Schulen und Hochschulen nie eine „Singverweigerung” erlebt, von der häufig in den Diskussionen die Rede war.
Inzwischen hat sich die Diskussion um Lied und Singen im Musikunterricht in der Mitte eingependelt, obgleich Kontroversen bis in unsere Zeit bestehen. Schulwerke enthalten mehr oder weniger große Liedanteile. Die Schule ist daher auch heute (wieder) der zentrale Ort der Liedvermittlung und damit ein wichtiger Traditionsträger. Dieser Arbeitsbereich ist allerdings anspruchsvoller geworden. Es genügt heute nicht mehr, „bloß zu singen”, sondern die Lieder müssen sorgfältig nach ihren Inhalten und Kontexten aufgearbeitet sowie vielseitig qualifiziert vermittelt werden, da dies von den Schülern erwartet wird. Da Singbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen heutzutage überwiegend durch den Pop- und Rockbereich – also außerschulisch – befriedigt werden, besteht die zentrale Aufgabe des Musikunterrichts nunmehr darin, die Schüler für die „anderen” Qualitäten dieses Singgutes aufzuschließen, da es nicht im hoch entwickelten elektronischen Sound, mit erregender Motorik im voll entfalteten Arrangement sowie extremer Lautstärke einher kommt, was zum körperlichen Totalerlebnis führt und ein Reizpotenzial entfaltet, dem sich kaum ein Schüler entziehen kann.
Es hängt also gegenwärtig primär von der Vermittlungsqualität der Lehrkräfte und interessanten Gestaltungsformen des Klassenmusizierens sowie von der Repertoireauswahl ab. Behauptungen, dass die Schüler für tradiertes Liedgut nicht mehr zu interessieren seien, da die musikalischen und sprachlichen Diktionen früheren Zeiten entstammen, also „fremd” seien, sind unzutreffend. Sowohl in der Grundschule als auch in höheren Klassenstufen ist es sehr wohl möglich, Schüler für dieses Liedgut aufzuschließen. Jüngste positive Erfahrungen mit sehr altem Liedgut (15./16. Jahrhundert) bestätigen dies ausdrücklich. Auch Wilhelm Scheppings Untersuchungen von 1992–1997[2321] bestätigen mit 92 % erneut eine hohe Singbereitschaft bei den Grundschülern. Nach wie vor interessieren sich die Kinder für tradiertes Liedgut in gleicher Weise wie für das Neue Kinderlied, was mit vielen Beobachtungen aus der Grundschulpraxis übereinstimmt. Es bestehen daher große Unterschiede abhängig von der Schulstufe, dem Schultyp und natürlich von den Lehrkräften, wenn sie denn als Fachlehrer ausgebildet sind. Der Mangel im Fach Musik wird seit Jahrzehnten beklagt, was ein vielschichtiges Problem für sich darstellt.
Wenngleich die Abkehr von radikalen Positionen gegenüber dem Singen inzwischen längst erfolgt ist, gibt es ein „Nachfolge”-Problem. Etwa zwei Jahrzehnte Vernachlässigung in Schulen und vor allem in der Lehrerausbildung haben Defizite hinterlassen, die bis heute nachwirken. Männliche Bewerber für das Lehramt Musik z.B. haben teilweise äußerst geringe oder gar keine Liedrepertoires, da sich Singen spätestens von der 7. Klasse an in Gymnasien kaum noch ereignet. Als typisch kann die Aussage einer Musikschulleiterin innerhalb des oben schon erwähnten Forschungsprojekts zur Musikalischen Früherziehung 1988, auf Lehrkräfte dieser Stufe bezogen, gelten: „Unsere heutige Lehrergeneration ist die Nichtsängergeneration. Die können ja kein Kinderlied mehr. Bei mir bewerben sich derzeit gerad' 'mal wieder ein paar Leute für diesen Bereich. Ich hör' sie erst 'mal ab, ob sie ein paar Kinderlieder und Kinderreime kennen, aber da ist fast nichts da.[2322] Mancherorts besteht daher die vordringliche Aufgabe darin, Lehrer und Schüler überhaupt erst wieder zum Singen zu führen.
Die defizitäre Situation im Musikunterricht im Hinblick auf die Anteile des Volksliedes, die in gleicher Weise und im Ganzen noch stärker auf den Volkstanz und die instrumentale Volksmusik zutreffen, hat Josef Sulz schon 1989 veranlasst, die „Korrektur einer gestörten Beziehung ... zwischen Volksmusik und Musikerziehung im deutschsprachigen Raum” anzumahnen.[2323] Im Jahr 2000 stellt er erneut die Forderung auf: „Der Schule selbst fällt die Aufgabe zu, die kulturellen Traditionen der eigenen Region nicht nur anderen Fächern (z.B. Deutsch) zu überlassen, sondern gerade auch dem Fach Musik; es ist ja doch wie kein anderes dafür prädestiniert, einen Begriff wieder zu vermitteln, der fast aus dem Sprachgebrauch gekommen ist, nämlich ‚Heimat'; denn ‚Heimat ist immer Gegenbegriff zur Fremde', sagt Hermann Bausinger und Heinrich Böll hierzu: ‚Ich finde das Wort Heimat schön, ich bin dafür, es zu erhalten'”[2324] Er setzt sich damit von der puristischen Position einer UNESCO- Definition ab, die nur die direkte orale Tradierung („Von Sänger zu Sänger, von Musikan zu Musikant, von Generation zu Generation, von Landschaft zu Landschaft ”) und die Schrift nur als Gedächtnisstütze zulassend gelten lässt, wobei diese Position von der Forschung längst überholt ist.
Auf die Klagen der Musiklehrer eingehend, dass „die meisten der ihnen anvertrauten Schüler kaum deutschsprachige Lieder akzeptieren wollen (es seien höchstens solche aus der modischen Liedermacherszene, die man allerdings mehr rezipiert als selbst singt), geschweige denn Volkslieder der engeren Umgebung bzw. eigenen Landschaft, wenn man solche – auch als Lehrer – überhaupt noch ohne große Mühe ausmachen kann”, schlägt Josef Sulz vor, den „Umweg über die Fremd-Folklore” zu versuchen, um „das Interesse auch für die Musik unserer mittelbaren und unmittelbaren Vorfahren zu wecken.” Hier handelt es sich um ein – auch in Deutschland – allgemein beobachtetes Phänomen, was aber zum großen Teil mit der Repertoire-Auswahl, -Interpretation, – Präsentation sowie musikalischen Gestaltungsform zusammenhängt.
Zu Recht weist Josef Sulz auf eine primäre Ursache hin: den Image-Verlust der authentischen alpenländischen Volksmusik, durch die übermächtige Medienpräsenz der so genannten „Volkstümlichen Musik” hervorgerufen, und schlägt didaktisch eine direkte Gegenüberstellung vor, um diese durch und durch kommerzialisierte Pseudoform erkennbar zu machen.[2325] In letzter Zeit macht man sich dort nicht mehr die Mühe der Differenzierung, sondern es wird nur noch der Begriff „Volksmusik” aus Image-Gründen für diesen Musikmarkt gebraucht. Josef Sulz und Gerlinde Haid haben im Frühjahr 1991 eine Protestplattform initiiert und in einem mutigen Versuch gegen die mächtigen Veranstalter, die Verwendung des Begriffes „Volksmusik” für den volkstümlichen Schlagerwettbewerb „Grand Prix der Volksmusik” in der Innsbrucker Olympiahalle wieder aufzuheben, durchgesetzt.[2326]
Thomas Nußbaumer hat allerdings bei seinen Feldforschungen im Raum Kitzbühel, im Brixental, Ötztal, Passeiertal und Zillertal festgestellt, dass sich „neben der traditionellen Pflege von Volkslied, Volkstanz und Brauch eine volkstümliche Unterhaltungskultur der ‚Stimmungsduos', ‚Original Trios', Alleinunterhalter am Keyboard und Fokloregruppen, die in den Hotelhallen, Gasthäusern, Vereinshäusern, auf Zeltfesten und diversen Bällen aufspielen” herausgebildet hat, die inzwischen als „sogenannte ‚volkstümliche' Musikrichtung in den deutschsprachigen Alpenregionen ihre eigene Tradition aufweist.” Er konnte weiterhin beobachten, dass in der Musizierpraxis „die ideologische Frontstellung zwischen ‚traditionell' und ‚volkstümlich' (kommerziell) kaum spürbar” sei und dass sich „die Durchlässigkeit der Grenzen von ‚regional traditionell' und ‚kommerziell' im Bewusstsein der Menschen” zeige.[2327] Die Entwicklung bleibt abzuwarten, wieweit sich in den Spiel-Repertoires Veränderungen oder Erweiterungen ergeben, die auf die Medieneinflüsse durch die so genannte „Volkstümliche Musik” zurückzuführen sind und sich neue Traditionsformen und Inhalte herausbilden. Auch hätte sich hierzu die Feldforschung entsprechend zu positionieren. Dies hebt aber nicht das gegenwärtige Image-Defizit und damit Vermittlungsdefizit der tradierten Volksmusik bei weiten Teilen der Schüler- und Lehrerschaft in der allgemein bildenden Schule auf.
Dies zeigt auch eine detailliertere Analyse zum Anteil der Bereiche der Musikalischen Volkskultur im Musikunterricht in der allgemein bildenden Schule in der Bundesrepublik Deutschland, die in Schulwerken, Lehrplänen und in der musikpädagogischen Publizistik – mit Ausnahme des Singens und auch hier nicht ohne Einschränkungen – insgesamt ein defizitäres Bild ergibt.[2328] Auf diese Weise entzieht sich die Musikpädagogik der Verantwortung gegenüber einem Zentralbereich der Musik-Kultur. Hier wäre, auch von Seiten der Musikalischen Volkskunde, erhebliche Aufklärungsarbeit zu leisten. Vor allem müssten aber entsprechende Materialhilfen in umfangreicherem Maße als bisher zur Verfügung gestellt werden.
Wie erfolgreich Fördermaßnahmen im Bereich der Musikalischen Volkskultur sein können, beweist das 1997/98 ins Leben gerufene Werk „Mit allen Sinnen” in Österreich. Behörden und Fachorganisationen arbeiten in einer „konzertierten Aktion” sehr erfolgreich zusammen: das Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten und das Österreichische Volksliedwerk, der Dachverband der Volksliedwerke der Bundesländer mit ihren einzelnen Volksmusikwerken. Schon 1992 war auf Initiative des Österreichischen Volksliedwerkes, der Volksliedwerke der Bundesländer und der FachinspektorInnen für Musikerziehung die österreichische Arbeitsgemeinschaft „Lied, Musik und Tanz in der Schule” gegründet worden.[2329] Elisabeth Gehrer, die Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, bettet das Projekt in die Aufgabe einer „musisch-kreativen Werteerziehung” ein: „Neben dem Erwerb von kognitivem Wissen ist es für die Ausbildung junger Menschen wichtig, die musisch-kreative Bildung zu fördern. Das traditionell kreative Fach Musik bildet einen guten Beitrag, die Persönlichkeit zu entwickeln und neue Denkstrukturen und Problemlösungsstrategien aufzubauen. Kinder und Jugendliche sollen so früh als möglich mit Musik in Berührung kommen. Gerade in unserer zunehmend rationalen Welt muss die musisch-kreative Werteerziehung verstärkt werden ... ‚Mit allen Sinnen' ist ein gelungenes Schulprojekt und stellt einen Beitrag zum Musikschwerpunkt in den Schulen dar. Eine Fülle von Aktivitäten wurde gestartet und viele Schulen in allen Bundesländern eingebunden.” Sie sieht in dem Projekt einerseits einen wichtigen „Beitrag zur Förderung der traditionellen Volksmusik, andererseits zur österreichischen Musikerziehung.”[2330]
Themenstellungen wie „Von der Lärmhölle in den Klanghimmel – Grenzerfahrungen im Singen, Musizieren und Tanzen”, „Du fremd hier? – Integration auf kulturellen Wegen”, „Eurotanz – vom historischen Tanz zum Friedensreigen”, „Tirol singt seine Lieder – Erarbeitung von gemeinsamen Tiroler Liedern an Tiroler Schulen ”, „Volkslied – Schatzsuche – Forschen in der musikalischen Geschichte der eigenen Familie, des eigenen Dorfes”, „Bosnien – Serbien – Wagrain – Multikulturalität in den Klassen”, „Musikanten kommen in die Schule – Volksmusik zum Angreifen”, „Bau von Instrumenten – Maipfeiferl und Nusstrommel sind in”, „Wie die Alten sungen ... Begegnungen der Generationen” neben der Erstellung einer CD-ROM „Begegnungen – Eine multimediale Reise in die Welt der Volksmusik” stellen nur einen Ausschnitt aus einem sehr umfangreichen Programm dar.[2331]
Schon in den ersten beiden Jahren waren an 170 Volksschulen, 15 Sonderschulen, 22 Hauptschulen, 16 allgemein bildenden höheren Schulen, einer Handelsakademie, einer Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe, zwei Bildungsanstalten für Kindergartenpädagogik und fünf Pädagogischen Akademien über 11.000 SchülerInnen und Studierende an dem Projekt beteiligt.[2332] Auf die Fülle der im Ganzen überwältigend positiven Ergebnisse kann hier nicht eingegangen werden. Wenn aber die SchülerInnen z.B. selbstständig in Feldforschungsprojekte eingebunden werden und die Ergebnisse ihrer Sammelarbeit in einer eigenen Publikation vorgelegt werden können, so kann man dies nur als höchstmögliche Effizienz musikpädagogischer Arbeit bezeichnen. Dass sich gleichzeitig die Bemühungen des Projekts auf Minderheiten, auf „fremde” Kulturen im „eigenen” Land richten, zeugt nur von dem kulturpolitischen Weitblick des Konzepts.
Wenngleich in der Bundesrepublik Deutschland ein Projekt dieser Art – schon angesichts seiner Größenordnung – wohl kaum realisierbar ist, verdienen die Bemühungen in dem Bundesland Bayern erhöhte Aufmerksamkeit. Seit drei Jahren befindet sich dort ein größeres Projekt in Planung, mit dem Ziel regionale Musik stärker zu fördern. Hier arbeiten Lehrer, Volksmusikarchive, Volksmusikpfleger, Elternverbände und Trachtenvereine zusammen. Zu den vorrangigen Zielen gehört auch die Wiederbelebung des Singens, dem zahlreiche Aktivitäten – wie Veranstaltungen und Publikationen (siehe oben) – dienen. Vor allem kommt dem Projekt durch die Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Musikpädagogik an der Universität München und dem Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung in München besondere Bedeutung zu. Auch soll der neue Lehrplan für das Fach Musik stärker darauf abgestimmt werden, d.h. die Pflege regionaler Traditionen besonders fördern.
So zeigen die musikpädagogischen Bereiche im Hinblick auf deren Funktionen und Chancen bei der Vermittlung Musikalischer Volkskultur gegenwärtig ein sehr heterogenes und widersprüchliches Erscheinungsbild, wobei gerade ihnen, da sie sämtliche Schüler aus allen Bevölkerungsschichten erreichen, eine zentrale Bedeutung zukommt. Keineswegs nutzt sie – von den beschriebenen Ausnahmen abgesehen – ihr Chancenpotenzial. Nötig wäre vor allem auch ein Umdenken in den musikpädagogischen Konzeptionen und deren Umsetzung in der Lehrerausbildung und -fortbildung. Die Anbindung des Instituts für Musikalische Volkskunde der Universität zu Köln an eine lehrerausbildende Institution mit einem kontinuierlichen Angebot spezifisch thematisierter Lehrveranstaltungen, auch in der Ensemble-Praxis, stellt zwar eine Ausnahmesituation dar, aber das dort entwickelte Modell eines integrierten Hochschulcurriculums könnte auch für andere Hochschulen entsprechende Anregungen und Erfahrungen vermitteln.
Volkstanz-Traditionen werden gegenwärtig überwiegend im Brauch sowie in den Volkstanzgruppen und Trachtenvereinen gepflegt. Allerdings tanzen diese Gruppen nicht nur zur eigenen Freude für sich, sondern treten mannigfach zu den verschiedensten Anlässen auf, veranstalten auch „Offene Tanzen” mit einem größeren Auditorium, was auffälliger Weise immer mit großer Resonanz angenommen wird. Die gleichen Beobachtungen wurden z.B. an der Pädagogischen Hochschule Rheinland – Abteilung Neuss, den Universitäten Düsseldorf und Köln gemacht, wo regelmäßig von Dozenten des Musikseminars bzw. MitarbeiterInnen des Instituts für Musikalische Volkskunde „Offene Tanzen” mit Unterstützung der seminareigenen Ensembles (Folklore-Ensemble und Tanz-Ensemble) veranstaltet wurden und werden. Die im Abstand von mehreren Jahren regelmäßig von der „Deutschen Gesellschaft für Volkstanz e.V.” durchgeführten großen internationalen Tanztreffen sowie das alljährlich in Rudolstadt (Thüringen) stattfindende zentrale „Internationale Tanz- und Folkfest” erreichen nicht nur ein großes Publikum, sondern sind auch gleichzeitig um die Vermittlung und Verbreitung tradierter Tänze bemüht.
Tanzen in der Schule war und ist, wenn überhaupt, heutzutage noch weitgehend eine Angelegenheit des Turn- und späteren Sportunterrichts, was mit dem Reigen für Mädchen begann.[2333] Dies hängt auch mit den zum Tanzen notwendigen größeren Räumlichkeiten zusammen. Der Musikunterricht verfügte teilweise noch nicht einmal über einen eigenen Musikraum. Demzufolge stand der Flügel zur Tanzbegleitung in der Turnhalle! Trotz zunehmender Angebote in neuen Lehrwerken für den Musikunterricht besteht immer noch ein bestimmtes Maß an Zurückhaltung und auch fachlicher Unsicherheit bei den Musiklehrern, nicht zuletzt wegen des mangelnden Angebots von entsprechenden Lehrveranstaltungen zur pädagogischen Vermittlung des Tanzens an den Institutionen für Lehrerausbildung. Überhaupt spielt die Reflexion über den tradierten Tanz als wichtiger Teil der überlieferten Volkskultur in den musikdidaktischen Positionen oftmals eine nebengeordnete oder sogar untergeordnete Rolle. Die Sequenzen in den Lehrwerken vermitteln europäische und außereuropäische Tänze neben Gesellschaftstänzen, z.B. aus Lateinamerika, sowie aus dem Rock- und Popbereich neben Klassik zum Tanzen.[2334] Das einheimische Volkstanz-Repertoire bildet dabei nur einen Teil der vermittelten Tänze. Auch hier besteht die Aufgabe, insbesondere durch Veranstaltungen in der Lehrerweiterbildung, Aufklärung zu leisten, Vorurteile abzubauen und Qualifikationen direkt zu vermitteln, obgleich in den Lehrwerken die Tänze sorgfältig aufbereitet und kommentiert sind. Auf diese Weise könnte in der Schule eine breitere Basis als Vermittlungsinstanz von Tanztraditionen geschaffen werden.
Die beobachtete große Resonanz beim „Offenen Tanzen” lässt auf eine stärkere Bereitschaft – auch bei den Jugendlichen – schließen, überlieferte Volkstänze neben den üblichen Disco-Tänzen und in der Tanzschule gelernten so genannten Gesellschaftstänzen zu pflegen, da sie mit ihrem Formenreichtum und Variierungsmöglichkeiten einen besonderen Reiz ausüben. Darauf weist auch ein Bericht von Sigrid Römer über die Einführung eines „Volkstanzes zum Mitmachen” in der DDR zu Beginn der 1980er Jahre im Folkklub Leipzig hin. Im Kontrast zur professionellen, d.h. von Berufstänzern dargebotenen „Bühnen-Show-Folklore” der Staatlichen Ensembles – die im Kern Propaganda-Shows zur Demonstration „sozialistischer Volkskunst” waren -, kann man sie als Ausdruck von verdeckter Opposition werten, wie sie auch in den Folk-Gruppen ausgeübt wurde (siehe oben). Diese Tanzveranstaltungen fanden eine überwältigende Resonanz. Lehrgänge für Tanzmeister wurden durchgeführt, so dass schon 1986 22 Volkstänzer bzw. Tanzmeister mit eigenen Gruppen arbeiteten und damit eine eigene Bewegung auslösten, d.h. eine neue Vermittlungsform alter Tanztraditionen mit Hilfe der Live-Musik engagierter Folk-Gruppen auf eine breite Basis stellten.[2335] Auch Eva Sollich machte sich in der DDR mit der Pflege von überlieferten Singtänzen, insbesondere mit Kindern, in dem von ihr 1977 in der Gemeinde Bernshausen (Thüringen) gegründeten aktiven Tanzhaus, dem Einzigen dieser Art , äußerst verdient.[2336]
Helmut Segler hat in jahrelanger Feldforschung Kindertänze in Deutschland und anderen europäischen Ländern untersucht, die auf Straßen, Schulhöfen und Plätzen von den Kindern in ungebrochener oraler Tradition bis heute gepflegt werden.[2337] „Kinder-, Straßen- und Hof-Singtänze”, der etwas umständliche Hilfsbegriff sei erlaubt, bilden eine völlig selbstständige und von jeglicher Pflege oder Förderung unabhängige Kinderspiel- und Kindertanztradition. Mit selbst erfundenen originellen Texten voller Witz und auch Selbstironie sowie Melodien, die teilweise bekannte Lieder oder Schlager etc. parodieren oder sich aus Melodiebruchstücken zusammensetzen, die unbekümmert aneinandergereiht werden, legen sie Zeugnis eines nahezu unerschöpflichen Gestaltungsreichtums kindlicher Phantasie ab.
Wie Lieder und Tänze der Volksüberlieferung spielen auch die Formen instrumentaler Volksmusik und damit als Traditionsträger im Brauch eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus nehmen sie aber zugleich wichtige Funktionen bei zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, Umzügen, Festen, geselligen Anlässen etc., aber auch im privaten Rahmen der Familie, im Freundeskreis in intimeren Formen wahr. An ihren Orten und ihren Regionen zählen sie zu den wichtigsten Trägern der Musikalischen Volkskultur und ihren Traditionen. Mit den in die Zehntausende gehenden Instrumental-Ensembles vom Spielmanns- und Fanfarenzug bis zum voll ausgebauten Blasorchester, von der „Marching Band” bis zum Zupforchester, von der „Stuben-Musi” bis zu „Fleitlmusi”- Gruppen, vom Streichorchester bis zum Folklore-Ensemble, von der Blaskapelle bis zur Big Band, vom Alleinunterhalter bis zur Salonmusik-Gruppierung, vom Akkordeonorchester bis zu den ad libitum-Gruppen in den unterschiedlichsten Besetzungen, um nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zu nennen, entfaltet sich eine kaum noch übersehbare Fülle von Spielformationen.
Um eine Vorstellung von den quantitativen Dimensionen des instrumentalen Laienmusizierens zu bekommen, seien einige statistische Daten referiert. In der Bundesrepublik Deutschland waren in den Jahren 2000/2001 1,6 Millionen Mitglieder in weltlichen und kirchlichen Verbänden sowie Vereinen organisiert, davon 42 % als aktive Instrumentalisten und davon wiederum weit über die Hälfte junge Menschen bis zu 25 Jahren, in insgesamt 30.350 (!) Ensembles, einschließlich 7.000 kirchlicher Posaunenchöre. Die außerhalb der großen Laienmusikverbände aktiven Gruppen sind statistisch nicht erfassbar, dürften aber ebenfalls eine sehr hohe Zahl erreichen. Hierzu gehören insbesondere zahlreiche Amateurgruppen, die zumeist auch Heimat- oder Brauchvereinen angehören und sich vor allem der Heimat- und Brauchpflege in ihrer Region verpflichtet fühlen. Sie sind in Gebirgsregionen, z.B. in den Alpenländern, in größerer Zahl zu finden. Zu nennen wären zudem die Laienmusikgruppen an Musikschulen und allgemein bildenden Schulen, privaten Musikschulen und Volkshochschulen. Man schätzt, dass im Bereich der Rock-, Pop-, Jazz- und Folklore- Ensembles allein etwa 500.000 Instrumentalisten und Sänger in 50.000 (!) Gruppen aktiv.[2338]
Da die Repertoires dieser Ensembles breit streuen und tradierte Volksmusik nur einen Teil davon ausmacht, ist es hier, auch angesichts der Dimensionen dieses Forschungsfeldes, nur möglich, an zwei ausgewählten Beispielen auf die Vielschichtigkeit des Themenkomplexes hinzuweisen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen mit den Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen auch viele Laienmusiker in die Bundesrepublik Deutschland, die ihre heimatlichen Musiktraditionen mitbrachten und auch eigene Ensembles gründeten. Insbesondere in Bayern war ein beispielloser Integrationsprozess mit wechselseitiger Befruchtung der Musikkulturen zu beobachten, so dass böhmische und bairisch-alpenländische Volksmusik-Traditionen in einem außergewöhnlichen Assimilierungsprozess zu einem gemeinsamen Repertoire zusammengeführt wurden. Wolfgang Suppan sah sich daher veranlasst, darauf hinzuweisen, dass sich das Musizieren in Blaskapellen bei der Eingliederung der Heimatvertriebenen und Umsiedler als Sozialisationshilfe besonders bewährt hat und dass sie das „Blasmusikwesen in der Bundesrepublik Deutschland organisatorisch wesentlich mitgestaltet haben” und z.B. durch das Bewusstwerden altösterreichischer Blasmusiktraditionen „neu aufkommende Spielpraktiken, Besetzungsformen und Literatur entscheidend beeinflusst” haben.[2339]
Zu den Integrationsbemühungen zählen z.B. auch neue CD-Produktionen, die in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk, dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege in Zusammenarbeit mit der Heimatpflegerin der Sudetendeutschen produziert wurden und Volksgut aus dem Sudetenland, aus den deutschen Sprachgebieten Mittel- und Osteuropas, wieder lebendig machen und alte volksmusikalische Traditionen aus diesen Gebieten weiter pflegen.[2340]
Franz Schötz untersuchte z.B. seit Ende der 1970er Jahre die wichtige Frage, wieweit sich der Einfluss der „Volkstümlichen Musik” auf das traditionelle Musizieren in Ostbayern auswirk(t)e. Er wählte dazu die seit den 1950er Jahren sehr bekannt gewordene Gruppe „Slavko Avsenik und seine Original Oberkrainer” und kommt zu dem Ergebnis, dass die Adaption von Oberkrainer-Musik bei den traditionellen Musikkapellen in Ostbayern in erster Linie durch die Übernahme von Melodien stattfand. Der typische Oberkrainer-Sound wurde jedoch nicht übernommen: „Die Melodien werden in hierzulande üblichen Besetzungsformen gespielt, auch die nachschlagenden Instrumente verändern ihren Stil nicht. Musikstücke der Oberkrainer, gespielt von mehr oder weniger traditionellen Musikkapellen in Ostbayern, klingen daher nicht ‚oberkrainerisch', sondern ‚bayerisch'. Logische Folge davon ist, dass auch hierzulande überlieferte Musikstücke nicht ‚ver-oberkrainert' werden."[2341] Das Ergebnis ist insofern aufschlussreich, da Befürchtungen laut wurden, dass die „Volkstümliche Musik” größeren Einfluss auf die einheimischen Traditionen nehmen könnte, die in der untersuchten Region offenbar stärker sind. Hier sei auch an Thomas Nußbaumers Untersuchungsergebnisse erinnert (siehe oben).
Die vorliegende Untersuchung war bemüht, anhand ausgewählter Beispiele mit einem Schwerpunkt im Vokalbereich aufzuweisen, in welcher Reichhaltigkeit auch noch in unserer Zeit Traditions- und Vermittlungsformen Musikalischer Volkskultur lebendig und als Kulturträger wirksam sind. In einem knapp gefassten Essay ist ohnedies keine komplexe Darstellung der Phänomene möglich, zudem Forschungsdesiderate in einzelnen Bereichen bestehen. Auch konnten bestimmte Felder nicht berücksichtigt werden, z.B. die Vermittlungsformen der Medien – wie Rundfunk und Schallplatte/CD; Traditionsformen der Straßenmusik, die in den Städten, wo sie erlaubt ist, eine eigene Musikkultur mit differenzierten Ausprägungen herausgebildet hat; Traditionspflege in Jazz-Amateur- Formationen, z.B. die nach wie vor beliebte Dixieland-Besetzung, die im streng klassischen Stil spielt; die bereits im Vorschulalter beginnende Nachwuchspflege im Kölner Jazz-Haus-Projekt; die Förderung von Amateur-Rockgruppen durch Kommunen und andere Institutionen, wie z.B. Sparkassen; die Beförderung geistlicher Singtraditionen durch musikpädagogische Initiativen der Kirchen; Förder- und Pflegemaßnahmen der Bundesakademien (für musikalische Jugendbildung, musische Bildung und Medienerziehung) in Trossingen (Baden-Württemberg), Remscheid (Nordrhein-Westfalen), Wolfenbüttel (Niedersachsen) und Rheinsberg (Brandenburg) sowie einzelner Landesakademien, z.B. in Heek (Nordrhein-Westfalen); Vermittlungsformen in der Musikalischen Vorschulerziehung und Erwachsenenbildung; die vielfältigen Traditionsformen in den musikkulturellen Aktivitäten der Migranten und anderes mehr.
Deutlich wird auch erkennbar, dass noch viele Fragen offen sind und die Forschung vor großen Aufgaben steht. Das Förderpotenzial unserer Gesellschaft ist keinesfalls ausgeschöpft. Der Beitrag möge daher auch als Impuls verstanden werden, die kulturpolitische Bedeutung der Musikalischen Volkskultur in der gesellschaftlichen und staatlichen Öffentlichkeit stärker bewusst zu machen, um den Einsatz zu ihrer Bewahrung zu intensivieren. Dazu gehört auch die Bewusstmachung als Chancenpotenzial sozialer Integration, dem angesichts vielfältiger allgemeiner gesellschaftlichen Probleme in der aktuellen Gegenwart über die musikalische Kulturpflege hinaus größte Bedeutung beizumessen ist.
[2274] Vgl. [Brednich 1983].
[2275] Vgl. [Schepping 1983b]; [Schepping 1983a].
[2276] Vgl. [SuppanW 1983a].
[2277] Vgl. [Noll 1992b].
[2278] Vgl. [HaidG 2000a].
[2279] Vgl. [Sulz 2000a].
[2280] Vgl. [Deutsch 2000].
[2283] Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf eigene Untersuchungen zu diesem Thema in: [Noll 1980].
[2286] Vgl. [Lorenz 1981].
[2287] Vgl. [Engel/Ohlenschläger 1998].
[2288] Vgl. [Adamek 1996].
[2289] Vgl. Satzung „Il Canto del Mondo e.V.” Förder- und Aktionsgemeinschaft Il canto del mondo foundation – Stiftung Singen International vom 11.5.1999.
[2290] Vgl. [Bremberger 1996]; [Brandes 1992].
[2291] Vgl. [Reiser/Vössing 1984].
[2292] Vgl. [Schusser 1996b].
[2294] Vgl. [Noll 2002a].
[2295] Vgl. [Schusser 1992].
[2296] In: [Schusser 1996a], S. 23.
[2297] Vgl. [Thiel 1980], S. 62; [Schuhladen 1992], S. 13f.; [Fauser 1992].
[2298] Vgl. [Traut 1998].
[2299] Vgl. [Traut 1998]; [Thiel 1980], S. 62; [Schuhladen 1992], S. 13f.
[2300] Vgl. [Traut 1998]; [Schusser 1992]; [Schusser 1996a].
[2301] Vgl. [Noll/Kormann 1992], S. 85.
[2302] Vgl. [Noll/Kormann 1992], S. 83f.
[2304] [LeidelG/Bruckner/Schusser 1994].
[2308] „Möschtijall” ist von zwei Dialektwörtern abgeleitet: Mösch = Kölnisch: Sperling und „tijall „ von „Nachtijall”. Symbolisch sind damit „Volksgesang” und „Kunstgesang” gemeint, denn der Chor führt auch größere geistliche Werke auf, z.B. die Missa Brevis von Giovanni Pierluigi Palestrina (vgl. CD-Produktion LC 3854 von 1996).
[2309] Vgl. [Reimers 1996], S. 74ff. Diese Schrift vermittelt auch weiteres aufschlussreiches Material über Kölner Chöre und deren Traditionen sowie Repertoires.
[2310] Vgl. [Klusen 1978].
[2311] Vgl. auch [Noll 1994b], hier S.220.
[2312] Mitget. von: [Traut 1994], hier S. 64.
[2313] Mitget. von: [Schepping 1995], hier S. 185.
[2314] Mitget. von: [Schepping 1995], hier S. 186.
[2316] Vgl. [Schepping 1979b]; [Schepping 1980]; [Schepping 1981].
[2317] Vgl. [Schepping 1983a]; [Scheppping 1983b].
[2318] Vgl. [Nolte 1975], S. 43ff.
[2319] Vgl. [Nolte 1975], S. 53.
[2320] Vgl. [Noll 2002b].
[2321] Vgl. [Schepping 2000].
[2322] Vgl. [Noll/Kormann 1992], S. 163.
[2324] [Sulz 2000b].
[2325] Vgl. [Sulz 2000b].
[2326] Vgl. [NussbaumerTh 2002].
[2327] Vgl. [NussbaumerTh 2002], S. 78f.
[2328] Vgl. [Noll 1998b].
[2329] Vgl. [KochMar 1998], S. 207f.
[2330] [Gehrer 1998a]; auch in: [Gehrer 1998b].
[2332] Vgl. [KochMar 1998], S. 207f.
[2333] Vgl. [Noll 1988b]; [Noll 1988c], S.607–609; [Peters/Noll/Zacharias 1991].
[2334] Vgl. [Bröcker/Noll/Rutha 2000], Schülerheft, S. 42–59 und Lehrerkommentar, S. 71–100.
[2335] Vgl. [Römer 1992].
[2336] Vgl. [Sollich 1992].
[2337] Vgl. [Segler 1990]; [Segler 1992].
[2338] Vgl. [Rohlfs 2002].
[2339] Vgl. [SuppanW 1970].
[2340] Vgl. Kulturbrief der SL Musik – Gesang – Mundart – Tonträger sudetendeutscher Kulturgruppen. In: Mitteilungsblatt der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bundesverband e.V. München 4 (2001).
[2341] Vgl. [Schötz 1998].