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9.8. Lieder der Jugendbewegung – Zeugnisse kollektiver Mentalität (Wolfgang Lindner) - Langtext

9.8.1. Jugendbewegung: Was ist das?

9.8.1.1. Jugendlichkeit: eine neue Bewegung seit ca. 1900

„Die Jugendbewegung ist neben Arbeiter- und Frauenbewegung die dritte große Emanzipationsbewegung des 20. Jahrhunderts”.[2469] Die Jugendbewegung ist damit Teil einer Gesamtbewegung seit der Jahrhundertwende (1900) im mitteleuropäisch- deutschsprachigen Kulturraum; dazu zählt mit Österreich auch Salzburg. Zu diesen deutschen Reformbewegungen gehören außer der Jugendbewegung viele weitere „Bewegungen”, z.B.: Lebensreform-Bewegung, Schul- und Erziehungsreform- Bewegung, Landschafts- und Naturschutzbewegung, Ernährungsreform-Bewegung, Freikörperkultur-Bewegung, Naturheilbewegung, Sexualreform-Bewegung, Siedlungs- und Landkommune-Bewegung, Gartenstadt-Bewegung, Arbeitslager-Bewegung, Landerziehungsheim-Bewegung, Jugendmusikbewegung, Laienspiel- und Laientheater- Bewegung, Liturgische Bewegung u.a.m.

Die Jugendbewegung ist mit vielen dieser Bewegungen personell und ideell verflochten. Alle oben genannten Bewegungen sind nicht grundlos aus dem historischen Nichts hervorgegangen; sie reagierten auf Herausforderungen durch den Zeitgeist.

Sämtliche oben genannten Bewegungen haben eines gemeinsam: Sie antworten auf eine umfassende Kultur- und Gesellschaftskrise. Die bestehende Gesellschaft wurde als krisenhaft empfunden (eigentlich als „krank”), weil sie durch Industrialisierung und Verstädterung den Menschen vom eigentlichen Leben entfremdete, indem sie seine Lebendigkeit behinderte. Deshalb forderte der Lebensphilosoph Henry Bergson die Rückgewinnung des „élan vital”. Dieses philosophische Konzept nannte man „Vitalismus”.

9.8.1.2. Lebensideologie als Weltanschauung

Aus der Lebensphilosophie entwickelte sich ein weltanschauliches Denksystem, das nach neuerer Definition des Ideologiebegriffs als Lebensideologie bezeichnet werden kann. Dabei wird vorausgesetzt, dass es einen ideologiefreien Lebens-Raum nicht gibt. Diese Lebensideologie wird zum dominanten philosophischen System der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bekannte und weniger bekannte Namen tauchen neben Bergson im Zusammenhang mit diesem Denksystem auf und nehmen Einfluss auf die Bewegungs-Szene, z.B.: Friedrich Nietzsche, Max Scheler, Wilhelm Dilthey, Rudolf Steiner, Georg Simmel, Romano Guardini, Hans Driesch, Martin Heidegger, Ludwig Klages, Karl Jaspers.

Daneben finden sich Literaten wie: Stefan George, Hans Grimm, Ernst Jünger, Carl Zuckmayer, Friedrich Georg Jünger, Johannes R. Becher, Arnolt Bronnen, Thomas Mann, Ernst Glaeser, Robert Musil, Ernst Erich Noth, Karl Heinrich Waggerl, Ludwig Ganghofer, um nur wenige von vielen lebensideologischen Schriftstellern und Poeten des 20. Jahrhunderts zu nennen.

Aus ihren Schriften lässt sich ein lebensideologisches Begriffslexikon erstellen. Es weist eine deutlich dialektische Struktur auf, z.B.: Erneuerung gegen Erstarrung, Jugendlichkeit gegen Spießertum, Organismus gegen Zerrissenheit, Ganzheit gegen Zergliederung, Gemeinschaft gegen Gesellschaft, Erlebnis gegen Intellekt, Ekstase Heuchelei, Innerlichkeit gegen Äußerlichkeit, Natürlichkeit gegen Künstelei, Kultur gegen Verstädterung, Kulturvolk gegen Staatsvolk.

Alle diese Vokabeln gruppieren sich um eine begriffliche Mitte: Leben. Die Jugendbewegung wurde von dieser Lebensideologie und ihren literarischen und philosophischen Hervorbringungen entscheidend beeinflusst. Dies äußert sich in ihren Liedern und theoretischen Schriften.

9.8.1.3. Jugendbewegung: Äußerung lebensideologischer Identität

Mentalitätsgeschichte ist ein schwieriger, umstrittener, aber unverzichtbarer Forschungsgegenstand. Ihre Vertreter finden sich mehr im romanischen (besonders französischen) und angelsächsischen Sprach- und Kulturraum als im deutschen. Deshalb orientiert sich eine Definition von „Mentalität” zunächst an den Ursprüngen dieses Begriffs. Sie könnte etwa folgendermaßen lauten: Mentalitätsgeschichte ist eine Geschichte kollektiver Lebensentwürfe und habitueller Lebensweisen, die einer komplizierten Schnittstelle von Affekt und Kognition zugeordnet ist. Dadurch sind unbewusste Annahmen ebenso zu berücksichtigen wie Meinungen, philosophische Kategorien und Metaphern (z.B. Symbole). Die Mentalitätsgeschichte ist damit ihrerseits dem lebensideologischen Ganzheits-Konzept verpflichtet. Sehr vereinfacht gesagt, ist Mentalität ein Lebensstil, der sich sowohl „aus dem Bauch” wie „aus dem Kopf” herleitet – mit unterschiedlichen Präferenzen.

Das Verhältnis der Mentalität zur Ideologie hat der Soziologe Theo Geiger zu umschreiben versucht: „Aus der Mentalität wächst die Ideologie als Selbstauslegung hervor – und umgekehrt: kraft schichttypischer Mentalität bin ich für diese oder jene ideologische Doktrin empfänglich”.[2470] Ohne solchen Soziologen-Jargon lässt sich das Problem leider nicht eindeutig darstellen. Dieser Sachverhalt ist nicht ganz unkompliziert. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist „Mentalität” zum Allerweltsbegriff geworden, der fast alles und damit ziemlich wenig bezeichnet (etwa im Sinn von „Grundgefühl”). Die Geschichtswissenschaft muss demgegenüber mit einem engeren und präziseren Mentalitätsbegriff arbeiten.

Sie versteht unter Mentalitäten grundsätzlich kollektive Gruppenmentalitäten. Sie äußern sich in einem mehr oder weniger festgelegten Habitus (Erscheinungsformen): Sprachlicher Habitus, Habitus von Symbolen und Emblemen (Abzeichen), Kleidungs- Habitus, gestischer Habitus, Habitus des Alltagsverhaltens (Essens-, Freizeithabitus u.a.), Brauchtums-Habitus (oft in ritualisierter Form). Zusammengefasst: sozio- kultureller Habitus.

Alle diese habituellen Äußerungen von Gruppenmitgliedern sind als Konvention mehr oder weniger festgelegt und wandeln sich nur langsam. Mentalitätsgeschichte ist eine Geschichte der Langsamkeiten (im Gegensatz zur Verlaufsgeschichte

Noch eine Einschränkung: Nicht jede Sozietät (gesellschaftliche Gruppe) verfügt über ein deutlich erkennbares Mentalitätsprofil. Nur deutlich gegen ihr gesellschaftliches Umfeld abgegrenzte Gruppen können über ihre kollektive Mentalität definiert werden. Versucht man, umfassende Gemeinschaften auf ein Mentalitätsprofil festzulegen, entstehen häufig stereotype Vorurteile (mit positivem oder negativem Konnotat = Beigeschmack): „alle Österreicher sind ..., alle Männer/Frauen sind ..., alle Juden sind ...” usw.

Die Jugendbewegung stellt bei aller strukturellen Pluralität (Vielfalt) eine einheitliche Sozietät dar, deren Mentalitäten (Mehrzahl!) als solche untersucht und beschrieben werden können. Entscheidend für eine kollektive Mentalität ist die Tatsache eines oft elitären Identitätsgefühls bzw. -bewusstseins der Gruppenmitglieder. Beides war in der Jugendbewegung von Anfang an stark ausgeprägt, was ihr von Kritikern entsprechend vorgehalten wurde. Auch und vor allem Gebrauchslieder können als habitueller Ausdruck der Gruppenidentität verstanden werden.

9.8.1.4. Jugendbewegung im Wandel der Zeit (ca. 1900-1965)

Der Beginn der Jugendbewegung lässt sich genau datieren, ihr Ende nicht. Es gibt zwar ein signifikantes Gründungsereignis, aber keinen ebenso deutlich markierten Abschluss. Vielmehr lässt sich ein Auslaufen der mentalitätsbedingten Breitenwirkung feststellen, das sich auch und gerade in den Liedern der Bewegung manifestiert. In dem Zeitraum zwischen Beginn und Ende lassen sich vier Entwicklungsabschnitte (Epochen) erkennen, die sich jeweils durch Paradigmenwechsel im mentalen Bereich unterscheiden. Sie decken sich etwa auch mit polit-, sozial- und kulturhistorischen Epochenabschnitten.

9.8.1.4.1. Vom Wanderverein zur Bewegung: 1901–1920

Das Ende jugendbewegter Mentalität lässt sich nicht genau bestimmen: irgendwann in den 60er Jahren. Das Geburtsereignis ist dagegen genau datierbar: Datum: 4. November 1901 Ort der Handlung: Berlin-Steglitz, Ratskeller Gründungsväter: 4 Schriftsteller, 5 Jugendleiter, 1 Arzt – alles Erwachsene Gründungs-Produkt: Wanderverein: „Wandervogel”, Ausschuss für Schülerfahrten e.V. Vereinssatzung, Vereinszeitschrift Programm: siehe Vereinsname! In Wirklichkeit: antibürgerliche Jugendlichkeit als Ziel!

Allmählich erfolgt eine Ideologisierung des zunächst unbedarften Wandervereins. Sie ist bis zum Ersten Weltkrieg abgeschlossen. Grundlage bietet der lebensideologische Zeitgeist. Jugendlichkeit als Lebensprinzip (Vagantentum), Antiurbanismus („Flucht in die Wälder”), Natur-Zuwendung, Echtheitsforderung: Pflege von Volkslied, Volkstanz, Volkstheater, Geselligkeit als Folge elitärer jugendlicher Solidarisierung, Lebensreform: Abstinenz (spät und nie völlig in der Jugendbewegung), Ablehnung politischen Engagements speziell bei der „reichsdeutschen” Jugendbewegung (bei Akzeptanz eines gewissen Patriotismus) – im Gegensatz dazu tendiert der österreichische Wandervogel von Anfang an deutsch-völkisch.

1913 schließen sich auf dem Hohen Meißner (Weser Bergland) Jugendbewegte aus Deutschland und Österreich zur Freideutschen Jugend zusammen. In der „Meißnerformel” werden alle lebensideologischen Grundsätze zusammengefasst. Dabei werden österreichische Wandervögel vom Hauptredner Karl Wyneken wegen ihrer völkisch-aggressiven Haltung gerügt.

Nach außen wirkt die Wandervogel-Bewegung durch ihre Zeitschriften, Lieder und ihren spezifischen Lebensstil – besonders durch ihren Kleider-Habitus: kurze knielange Hose, Vagantenbluse mit Schillerkragen – bei den Wandervogelmädchen: weit fallendes „Eigenkleid” mit Raffung unterhalb der Brust, Ablehnung des Korsetts, an der Volkstracht orientierte Zierborten, volkstümliche Zopffrisuren, besonders Gretchenfrisur.

Einführung oder Neubelebung von Volksinstrumenten: besonders Gitarre (von den Wandervögeln „Zupfgeige” oder „Klampfe” genannt) und Blockflöte, aber auch Verwendung von Mandolinen und Lauten sowie sogar Banjos.

9.8.1.4.2. Exkurs: Die Wandervogelbewegung in Österreich

Noch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts breitet sich die Wandervogelbewegung von Deutschland nach Deutsch-Österreich aus. Der Böhmerwald ist bevorzugtes Ziel Berliner Wandervögel bei ihrer „Flucht in die Wälder”. Jugendliche aus Deutsch- Böhmen („Sudetenland”) übernehmen von ihnen Lebensstil und Mentalität sowie den Namen „Wandervogel”.

Von Böhmen aus entstehen Wandervogelgruppen in Wien und anderen Städten Deutsch-Österreichs, auch in Salzburg. 1911 wird von deutsch-böhmischen Wandervögeln ein österreichischer Gesamtverband gegründet: „Österreichischer Wandervogel. Bund für deutsches Jugendwandern”. Bundeszeichen: silberner Greifenvogel – Bundesfarben: Grün-Rot-Gold – Bundeshymne: „Die Wandervögel sind wir ja ...” (vgl. Anhang 22). Bei aller Verbundenheit mit der deutschen Jugendbewegung entwickelt ihr österreichisches Derivat einige signifikante Unterschiede:

  1. Der österreichische Wandervogel ist von Beginn an politisch ausgerichtet. Während man im „Reich” antibürgerliche politische Enthaltsamkeit auf die Fahnen schreibt, tendiert man in Österreich unter deutsch-böhmischem Einfluss völkisch-deutschnational. Die Gründung der Wandervogelgruppen erfolgt häufig von völkischen „Schutzvereinen” und Turnvereinen aus. Bald macht sich auch ein rassistischer Antisemitismus bemerkbar: Auf dem Wandervogel-Bundestag 1913 wird für den Gesamtverband der Arierparagraph beschlossen, also der Ausschluss jüdischer Mitglieder. Gleichzeitig erhebt man gegen die reichsdeutschen Wandervögel den Vorwurf einer „liberalen Haltung” in der „Judenfrage”. In der Folge entsteht eine eigene jüdisch-zionistische Jugendbewegung. Beim gesamtdeutschen Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner 1913 (Weser Bergland) weist der reichsdeutsche Hauptredner, Gustav Wyneken, die österreichischen Jugendbewegten wegen ihrer völkisch-aggressiven Haltung zurecht. Diese wiederum betonen ihre konfliktreiche Lage im Vielvölkerstaat.

    In Wien bildet sich vor dem Ersten Weltkrieg eine linksliberale Alternativ-Jugendbewegung. Der Reformpädagoge Gustav Wyneken sammelt modernistisch- liberale Intellektuelle, um die Zeitschrift „Der Anfang” zu gründen, darunter auch Mitglieder jüdischer Abstammung – z.B. Literat Siegfried Bernfeld und Musiker Hanns Eisler (Brecht-Vertonungen). Diese „Jugendkulturbewegung” begründet eine „Sprechsaal-Bewegung”; sie dient der diskursiven Auseinandersetzung im Geist einer aufgeklärten demokratischen Grundhaltung. Allerdings bleibt diese „Jugendkulturbewegung” auf die größeren Städte beschränkt.

  2. Ein zweiter Unterschied zwischen österreichischem und reichsdeutschem Wandervogel ergibt sich aus der sozialen Position der Gründungsväter. In Österreich sind es vor allem Pädagogen und Studenten, die ihren Einfluss auf die Bewegung geltend machen. Sie sehen das Ziel der Jugendbewegung darin, Jugendliche zu deutschvölkischem Engagement zu erziehen, gemeinsam und oft in Personalunion mit völkischen Erwachsenen-Organisationen. Der Generationskonflikt spielt dadurch eine geringere Rolle als in Deutschland, wo man gegen das wilhelminische Establishment rebelliert.

9.8.1.4.3. Die Zeit der „bündischen” Jugend: ca. 1920–1933 (D) bzw. 1938 (Ö)

Der Erste Weltkrieg bedingt als Epocheneinschnitt einen deutlichen Wechsel von allgemeinen Lebensstilen: Davon ist besonders auch die Jugendbewegung betroffen. Eine veränderte Mentalität von Neubeginn und Zukunftshoffnung wird an den Namen neu gegründeter Jugendbünde und an den Titeln ihrer Zeitschriften deutlich, z.B.: „Der neue Anfang” (1919–20), „Neuer Aufschwung” (1918), „Der neue Bund” (1921), „Die Kommenden” (1926–32), „Neuwerk” (1919), „Neue Jugend”.

Jugendlichkeitskult und Jugendreich sind neue Ideale. Es gibt sie schon vor dem Weltkrieg, aber nun werden sie zum allgemeinen Trend. Der österreichische jugendbewegte Schriftsteller Arnolt Bronnen veröffentlicht programmatische expressionistische Dramen, von denen eines zum Theater-Bestseller wird: „Vatermord”, „Recht auf Jugend”, „Die Geburt der Jugend”. Jugendlichkeit als Mentalität wird auch von Erwachsenen eingefordert. Der „ewig Jugendbewegte” wird geboren: Wer das Leben als Abenteuer begreift, ist jung, auch wenn er älter geworden ist. Um 1930 erreicht dieser Jugendlichkeitskult seinen Höhepunkt. Die junge Generation wendet sich offensiv gegen die Bürgerlichkeit früherer Generationen. Ein Lied aus dieser Zeit wird zum Programm (vgl. Anhang 23): „Zerreißt des Bürgers Ruhe mit gellenden Fanfaren! / Er schläft auf seiner Truhe, ihr stürmt in hellen Scharen.”

Neu ist vor allem die Idee des „Bundes”. Waren die „Wandervögel” in lockeren Zusammenschlüssen vereinigt (auch wenn es Vereinsstrukturen gab: „Horden”), so ist die Jugendbewegung neuen Typs dem Ideal der verschworenen Lebensgemeinschaft verpflichtet. Dem neuen Modewort „Bund” („bündisch”) liegt nicht von ungefähr das Verb „binden” zu Grunde. Bündisches Leben bedarf zur Identifikation der Mitglieder mit dem Bund der Bundestracht, der Bundeslieder, der Bundesembleme und des Bundesführers. Als Lieder dieser bündisch verschworenen Gemeinschaften waren die Volkslieder früherer Zeiten meist nicht geeignet. Jetzt sind Marschlieder gefragt, aber auch raue Männergesänge von gesellschaftlichen Außenseitern aller Art: Piraten, Landsknechte, Kosaken, Renegaten eben.

Die Wandervogelbewegung verliert an Einfluss gegenüber der männerbündisch tendierenden neuen Jugendbewegung. Diese fühlt sich über das „läppische Tandaradei” der Volkstanzenden „Vaganten” erhaben. Die Pfadfinder übernehmen das Regiment in der Jugendbewegung. Sie verkörpern das neue Ideal bündischen Gemeinschaftslebens. Aus der Flucht in die Wälder wird jetzt das tätige, ja kämpferische Engagement (vgl. die „gute Tat” der Scouts). Nun engagiert sich die Jugendbewegung auch im Bereich der christlichen Kirchen, der zionistischen Bewegung, aber auch in den politischen Parteien, besonders auf deren linken und rechten Flügeln. Alle öffentlichkeitsaktiven gesellschaftlichen Vereinigungen legen sich jetzt „Jugendabteilungen” zu.

Romantische Verträumtheit der Wandervogelzeit passt nicht mehr zur neuen bündischen „Tatgesinnung” der „sachlichen” jungen Generation. Um 1930 entsteht durch Abspaltung von der „Deutschen Freischar” (Wandervögel und Pfadfinder) die „deutsche Jungenschaft”. Sie nennt sich nach ihrem Gründungsdatum „d.j.1.11.” – eine bewusst sachlich-modern gestylte Titulierung. Die Paradigmen (der Lebensstil) dieser „Jungenschaft” beherrschen von da an die gesamte jugendbewegte Szene, auch in den Jugendabteilungen der Erwachsenen-Organisationen.

9.8.1.4.4. Jugendbewegung zwischen Kollaboration und Opposition (1933/1938 –1945)

Von 1933 an verläuft die Mentalitätsentwicklung in der deutschen und österreichischen Jugendbewegung fünf Jahre lang auf getrennten Wegen. Nach dem „Anschluss” Österreichs ans „Deutsche Reich” (1938) gleichen sich die Verhältnisse dann wieder an.

In Deutschland werden 1933 alle Jugendbünde vom NS-System „gleichgeschaltet”, d.h. aufgelöst und in die Hitlerjugend übergeführt. Nur die katholische Jugendbewegung kann unter dem Schutz des Reichskonkordats Hitlers mit dem Papst bis 1938 halblegal weiter bestehen. Die Abschaffung der Bünde ruft von Anfang an eine oppositionelle Mentalität bei deren Mitgliedern hervor (sogar bei politisch „rechts” orientierten Gruppen), denn dieses Verbot steht im direkten Widerspruch zum viel besungenen Ideal der Treue zum Jugendbund.

Für die ehemals bündisch Jugendbewegten waren drei Optionen möglich: Beitritt zur Hitlerjugend und loyale Kollaboration, Beitritt zur Hitlerjugend und subversives Widerstehen (Unterwanderung) oder Verweigerung des Übertritts zur HJ und illegale Jugendopposition.

Nicht wenige ehemals Bündische und Wandervögel konvertieren zum Nationalsozialismus, auch aus dem Milieu der Arbeiterbewegung. Einer der wichtigsten Exponenten der Hitlerjugend und ihr Haupt-Liedermacher, Hans Baumann, war vor 1933 Mitglied im katholischen Gymnasiastenbund „Neudeutschland” (Lied: „Es zittern die morschen Knochen”); „Arbeiterdichter” Hermann Claudius wird zum begeisterten Sänger des Hitlerkults (Lied: „Herrgott, steh dem Führer bei”) usw.

Die Zahl der Verweigerer und illegal Opponierenden muss jedoch erheblich gewesen sein, denn das Regime sieht sich genötigt, neben „Säuberungen” innerhalb der HJ ein eigenes „Gesetz gegen bündische Umtriebe” zu erlassen. Besonders ist es der Geist der „Jungenschaft”, der sich dem Konformitätszwang der Staatsjugend (vgl. uniformierte „Volksgemeinschaft”) widersetzt.

In Österreich sind von 1933 bis 1938 die Jugendbünde der politischen extremen Rechten (Hitlerjugend) und der Linken (Arbeiterjugend usw.) verboten. Sie betätigen sich jedoch subversiv in der Illegalität. Die freien Bünde sowie kirchliche Jugendorganisationen (vor allem der katholische „Bund Neuland”) können ihr Gemeinschaftsleben unbehindert fortführen. Allerdings droht dem „Bund Neuland” eine Spaltung in systemkonforme Jugendliche und Sympathisanten des Nationalsozialismus.

Im Krieg verstärkt sich die Jugendopposition im gesamten „Großdeutschen Reich”, also auch in der „Ostmark” (Österreich). Besonders ab 1943 (Niederlage von Stalingrad) entsteht ein regelrechter Jugendwiderstand, der zahlreiche Opfer aus den Reihen der illegalen Bünde fordert. In der westdeutschen Widerstandsgemeinschaft „Neubündisches Gefährtentum” finden die ehemals gegensätzlichen Bünde zu antifaschistischer Solidarität zusammen (Christliche Jugend, Arbeiterjugend, Pfadfinder, Wandervögel usw.). Immer mehr schließen sich auch Mädchen den ursprünglich männerbündischen oppositionellen Jungengruppen an. In den Großstädten bilden sich freie Jugendcliquen (z.B. in Wien), die den militärischen Konformitätszwang boykottieren. Die jugendbewegte Widersetzlichkeit äußert sich besonders in oppositionellen, meist ironischen Liedern (oft Persiflagen). Ihr Absingen und ihre Verbreitung werden vom NS-Regime hart bestraft.

Auf der anderen Seite werden durch die Hitlerjugend fanatische Parteigänger Hitlers herangezogen, die als todesbereite Marschkolonnen skrupellos „verheizt” werden. Durch die Einführung der Pflicht-HJ spaltet sich die Hitlerjugend zusehends in NS- Begeisterte und „Drückeberger”. Für viele jener jugendlichen Fanatiker bricht mit der Kriegsniederlage eine Welt zusammen.

Rückblick: Jugendbewegte Mentalität fühlte sich kaum liberal-demokratischer Gesinnung verpflichtet, aber auch keiner protofaschistischen Ideologie, auch nicht dem Führerideal. Sie war vielmehr weitgehend an bündischer Humanität orientiert, wie sie sich etwa im Pfadfindergesetz äußert („gute Tat” – Internationalismus). Bündische Verhaltensmuster, die teilweise durchaus mit faschistischen Verhaltensnormen vereinbar waren, konnten auf diese Weise sogar zu Widersetzlichkeit und offenem Widerstand genutzt werden. Worauf es dabei ankommt, ist das Abzeichen auf Kluft oder Uniform: Pfadfinderlilie oder Hakenkreuz, Christusmonogramm oder Todesrune – nicht die Kluft als solche.

9.8.1.4.5. Jugendbewegung zwischen Restauration und Modernisierung (1945- ca. 1965)

Die Generation der bündischen Jugend, aber auch der Hitlerjugend bzw. des BDM, versucht nach dem so genannten „Nullpunkt-Jahr” 1945 da weiterzumachen, wo man 1933 bzw. 1938 (Österreich) aufhören musste. Besonders beteiligen sich die ehemals oppositionellen nun Jungerwachsenen am Wiederaufbau der Jugendorganisationen. Begünstigt werden dabei kirchliche und Pfadfinder-Bünde durch das Wohlwollen der Alliierten, die in diesen international strukturierten Verbänden wichtige Elemente einer antifaschistischen Umerziehung („reeducation”) sehen. Von Anfang an wird dadurch eine zweite Amerikanisierungswelle wirksam (nach einer ersten um 1930).

Andrerseits sind die generationsbedingten lebensideologischen Prägungen der Kriegsgeneration noch virulent und treten in Konflikt mit der Modernisierungstendenz. Das jugendbewegte Milieu beginnt sich zu segmentieren, unterschiedliche Verhaltensparadigmen verschiedener Generationen treffen aufeinander, z.B. wird die männerbündische Tendenz der „Jungenschaft” durch zunehmend koedukative (gemischt-geschlechtliche) Strukturen verdrängt. Mädchen beteiligen sich verstärkt an der Jugendbewegung.

Gehörten die Führer der neu gegründeten Bünde noch zur Kriegsgeneration, die der Soziologe Helmut Schelsky als „politische Generation” einstuft, so ist der jugendbewegte Nachwuchs der „skeptischen Generation” (Schelsky) zuzurechnen (Geburtsjahrgänge ca. 1933 bis höchstens 1945). Sie ist mental geprägt durch die Nachkriegsjahre, was einen deutlichen Lebensrealismus zur Folge hat, der mit dem „Idealismus” der Führergeneration kontrastiert. Misstrauen gegenüber charismatischen Führern und deren Rhetorik ist angesagt.

Wieder einmal (wie bereits 1918 und 1933) wird dieser Paradigmenwechsel von vielen Älteren als Ende der Jugendbewegung erlebt, zumal der Gesichtspunkt der Jugendpflege durch gesellschaftliche Institutionen an Bedeutung gewinnt. Die „Bewegung” wird in der Tat zum Dienstleistungsservice. Es werden jedoch die erwachsen gewordenen „Skeptiker” der Nachkriegsgeneration sein, die Mitte der 60er Jahre die Liquidierung der Jugendbewegung „abwickeln”.

Die Folgegeneration der 68er-Jugend bricht endgültig mit der jugendbewegten Tradition, auch mit deren Lebensideologie. Eine neue und andere Jugend-Subkultur entsteht aus dem Substrat der vorhergegangenen. Zwar führen Restbestände der Jugendbewegung und deren Nachwuchs bis heute eine Nischenexistenz (von der zahlreiche Websites zeugen), zur tonangebenden verhaltensbestimmenden Jugendszene zählen sie jedoch in keiner Weise. Alle diese Veränderungen, von der Wandervogelzeit bis in die 60er Jahre, lassen sich an der Liedkultur der Jugendbewegungen besonders deutlich nachweisen. Lieder und „kultige” Musik stellen damit privilegierte Dokumentationen der Mentalität eines Jugendmilieus dar.

9.8.2. Kommunikationsbedingungen des jugendbewegten Gebrauchsliedes

9.8.2.1. Gebrauchslieder haben Mitteilungscharakter

Jedes Lied insgesamt muss als Text verstanden werden, auch in seiner musikalischen Form. Unter „Text” soll dabei jedes zusammenhängende Zeichensystem verstanden werden, das der Verständigung unter Menschen dient. Lieder können daher als Kommunikationsmittel mit den Begriffen der Kommunikationstheorie beschrieben werden (vgl. Kommunikationsschema): Sender (Singer, Sprecher), Empfänger (Hörer, Leser), Rückmeldung (Reaktion), Medium (Mittel zur Übertragung).

Gebrauchslieder werden um ihrer Wirkung willen gesungen. Sie kann sich nach außen auf eine Zuhörerschaft richten, aber auch und vor allem nach innen auf die Gemeinschaft der Singer selbst. Diese Wirkung kann sachbezogen oder personenbezogen sein, ist auf Ideen oder auf Psyche gerichtet. Lieder können Sympathiewerbung für Ideologien, Religionen, Gesellschaften sein, sie können aber auch negativ wirken, können ausgrenzen, drohen und bekämpfen.

Im Fall von Gebrauchsliedern ist das Verhältnis von Produzent (Liedermacher) und Reproduzent (Liedersinger) komplex. Die Liedermacher-Instanz (Texter, Komponist) liefert dem Liedersinger („User”) eine Liedervorlage per Liederbuch, Zeitschrift u.Ä Diese wird vom Liedbenutzer aufgenommen und zum Singen verwendet. Bei diesem Übertragungsprozess spielen sich auf Sach- und Beziehungsebene vielfältige, auch konflikthaltige Interaktionen ab.

9.8.2.2. Die Liedermacher-Instanz

Die Jugendbewegung hat sich sowohl vorgefundener als auch selbstverfertigter Lieder bedient. Die ersten Wandervögel nach 1900 sangen wahllos alles, was an Liedern geboten wurde: Kommerslieder, Soldatenlieder, Operettenschlager, vor allem jedoch Volkslieder und volkstümliche Lieder. Mit der früh einsetzenden Ideologisierung (Lebensideologie) des Wandervogels wandte man sich bevorzugt dem authentischen Volkslied zu nach der Devise: „Zurück zu den Ursprüngen!”. Liederbuchverfasser „Zupfgeigenhansl” Hans Breuer ließ für sein Liederbuch nur solche Lieder gelten, deren Verfasser anonym waren oder die eine mindestens 100-jährige Patina (Edelrost) aufwiesen. Allerdings folgten die meisten Wandervögel nicht dieser strengen Observanz (Vorschrift), sondern sangen auch volkstümliche Lieder aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ja, diese Gesänge wurden in der Jugendbewegung besonders populär (z.B. „Hoch auf dem gelben Wagen” oder „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein”). Da der vorhandene Liederfundus bald nicht mehr ausreichte und zum Teil auch textlich nicht zur Lebensideologie passte (z.B. Wandern als Verhängnis im alten Volkslied), schuf sich die Jugendbewegung selbst Lieder im Volksliedton. Definition: zum Ziel der Volksläufigkeit nachahmend.[2471] Man nannte diese ersten Liedermacher „Neutöner” – eine durchaus nicht unumstrittene Angelegenheit. Eines der ersten dieser Neutöner-Gesänge wurde zur heimlichen Wandervogelhymne: „Wir wollen zu Land ausfahren”. Ihr Dichter und ihr Komponist gaben um 1912 die musikalische und textliche Marsch-Richtung vor.

9.8.2.3. Liedersinger als Programmgestalter

Ein Singer von Gebrauchsliedern ist auf weit intensivere Weise Benutzer eines Textes als dessen Leser. Er geht deshalb selbstbewusster, selbsttätiger, ja rücksichtsloser mit der Textvorlage um als der Leser etwa eines Gedichtes. Aus diesem Grund wurden Gebrauchslieder seit jeher für die Benutzung „zurecht gesungen” bzw. „zersungen” – Schicksal vieler Volkslieder, von denen es in der Regel diverse Fassungen gibt.

Textveränderungen durch Benutzer entstehen gelegentlich durch äußerliche „technische” Ursachen (Missverständnisse, Anpassung an Melodie und Rhythmus usw.), meist gehen Textveränderungen jedoch auf eine deutlich erkennbare Absicht des Benutzers zurück, die von der Intention des Autors abweicht. So sind etwa entstellte Zitate unbewusster Ausdruck einer Anpassung an die eigene Mentalität.

9.8.2.3.1. Textveränderung durch Weglassung

Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür liefert das vielstrophige beliebte Volkslied aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648): „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod” (vgl. Anhang 2). Das neuromantische Todes-”Erlebnis” war ein wichtiger lebensideologischer Topos (Bild-Element) für die Jugendbewegung. Das Lied thematisiert den barocken Weltflucht-Gedanken (vanitas), greift aber auch die spätmittelalterliche Totentanz-Allegorie wieder auf. Von den 16 vorhandenen Strophen werden in den Liederbüchern der Jugendbewegung nur vier bis fünf abgedruckt. Dabei ist besonders die 4. Strophe von der Weglassung betroffen – dies hat seinen Grund. In ihr wird nämlich mitgeteilt, warum das Lied „sehr nützlich ... zu betrachten ist” (Vorrede von 1638): Der Tod „macht” nämlich „so gar kein Unterscheid”, der „stolze Rittersporn” erleidet das gleiche Schicksal wie das Ackerunkraut „Kornblume”. Solche Philosophie konnte 200 Jahre später von der Ständegesellschaft auf die soziale Ungleichheit der bürgerlichen Klassengesellschaft übertragen werden. Die Repräsentation dieser Strophe in verschiedenen Liederbüchern gibt signifikanten Aufschluss über die soziale Mentalität der jeweiligen Jugendgemeinschaften: Während das deutsch-völkisch tendierende „Wandervogels Singebuch” (1918) diese Strophe den jugendlichen Singern ebenso vorenthält wie die Liederbücher der NS-Zeit, drucken zwei katholische Jugendliederbücher (1929 und 1947) die Gleichmacherstrophe ab, weil der „christliche Sozialismus” in der katholischen Jugendbewegung besonders Konjunktur hatte. Ähnliches lässt sich an dem in der gesamten Jugendbewegung (mit Ausnahme der Arbeiterjugend) verbreiteten Feuerlied „Flamme empor” beobachten (vgl. Anhang 24).

9.8.2.3.2. Textveränderung durch Zudichtung

Dieser seltenere Fall von Textveränderung dient meist der Ausrichtung eines Liedes auf das besondere Mentalitätsprofil einer Jugendorganisation, immer dann, wenn man eine Art „Bundesstrophe” braucht.

Als Beispiel dient wieder das Lied des Arbeiterdichters Hermann Claudius: „Wann wir schreiten Seit an Seit” von 1910 (vgl. Anhg. 9). In ihm geht es um die typische Stadtflucht der frühen Jugendbewegung. 1944 war dies aber kein Thema mehr, man hatte jetzt andere Sorgen: z.B. die Zerstörung der Städte durch Luftangriffe. Angesichts dieser apokalyptischen Stimmung des untergehenden „tausendjährigen NS-Reichs” dichtet der Münchner katholische Jugendgeistliche Ludwig Hugin eine Zeitgeist-Strophe hinzu: „Heil'gem Kampf sind wir geweiht, Gott verbrennt in Zornesfeuern / eine Welt, sie zu erneuern, wollen machtvoll wir beteuern. / Christus, Herr der neuen Zeit!"

Ein Jahr später nach der „Stunde Null” in der Zeit des Wiederaufbaus und Neubeginns war die christliche Erneuerung der Welt eine zentrale Aufgabe, zu der sich die Nachkriegs-Jugendbewegung herausgefordert sah. Logischerweise gelangte diese Zusatzstrophe nie über den engeren Bereich der katholischen Jugendbewegung hinaus und findet sich nicht einmal in deren sämtlichen Liederbüchern.

9.8.2.3.3. Textveränderung durch Umdichtung

Die meisten Zudichtungen erfolgten im Zusammenhang mit Umdichtungen, die in der Liederpraxis der Jugendbewegung relativ häufig vorkommen – teils unbewusst durch „Zersingen” auf Grund von Missverständnissen, teils jedoch mit voller Absicht zwecks Sinnveränderung vorgenommen.

Eines der frühesten Beispiele hierfür ist das Volkslied (Ende 15. Jahrhundert): „Nach grüner Farb mein Herz verlangt in dieser trüben Zeit” (vgl. Anhang 3). Dieses authentische Volkslied gibt das Lebensgefühl um 1500 wieder, nicht das der Wandervögel um 1900; es passt nicht zum lebensideologischen Zeitgeist der Wandervögel. Das Volkslied ist noch ganz der Frühlingssehnsucht des Mittelalters verpflichtet, eine Reaktion auf die Lebensbedrohung durch winterliche Kälte (vgl. „kleine Eiszeit” im 15./16. Jahrhundert). Damals war die Überlebens-Freude in keiner Weise mit vitalistisch-darwinistischer Mentalität garniert. Daher besteht das Lied vor allem aus Klage über die Lebensfeindlichkeit des Winters: „... das tut des argen Winters G'walt, der treibt die Vöglein aus dem Wald ... / er macht die bunten Blühmlein fahl ... All Freud und Lust wird itzo feil”.

1903 verfasst der erste Wandervogel-Barde, Siegfried Copalle, eine Um- und Zudichtung zu unserem Volkslied. Nur die ersten beiden Zeilen der Winterklage werden übernommen. Copalle verlegt die lyrischen Vorgänge von außen (Natur) nach innen (Psyche), eine typische Romantisierung. Die eigene Winterschwermut wird allegorisierend in die Natur projeziert: „... muß alles kahl und traurig stehn ... Im Totenkleid das Jahr entschlief ...” bis schließlich der Frühlingswind „die starre Hülle bricht” (typisch lebensideologische Vulkan-Metaphorik). Der Sänger-Dichter taucht dann ganz ein in die mythische Welt einer vergöttlichten Natur, die er in Form eines hymnischen Gebets anruft: „O Frühling, du mein lieber Gsell, mit dir ist wandern gut”, womit er endlich beim Hauptthema der Wandervögel angekommen ist. Zwanglos fügen sich nun die Bundesfarben des Wandervogels ins vitalistische Gesamtkonzept: rot („Feur ins Blut”), gold („die güldne Sonn”), grün („zum grünen Kleide”). Dies ist lebensideologische Allgemein-Metaphorik. Von den tödlich „fahlen Blühmelein” des Originals ist natürlich keine Rede mehr, Leben ist angesagt.

9.8.2.3.4. Politisch motivierte Textänderungen

Politisch motivierte Textänderungen treten vor allem im Verhältnis der Jugendbewegung zum Nationalsozialismus auf. Subversiver Widerstand gegen das Regime artikulierte sich öfters in parodistischen Umdichtungen und Persiflagen von Liedern, die in der Hitlerjugend beliebt waren. Z.B. lautet der Originaltext eines viel gesungenen Soldatenliedes (vgl. Anhang. 20a): „Wir traben in die Weite, das Fähnlein weht im Wind. / Viel Tausend mir zur Seite, die ausgezogen sind, / ins Feindesland zu reiten, hurra victoria, / fürs Vaterland zu streiten, hurra victoria”. In den folgenden Strophen des Originals ist dann von der „Fahne” die Rede, die „rauschend Blut und Tod singt” und vom Heldentod „in fremder Erde” kündet (vgl. Anhang). „Reichsjugendführer” und Gauleiter von Wien, Baldur v. Schirach, ließ sich durch dieses Lied zu seinem Gesang todesbereiter Marschkolonnen der Hitlerjugend inspirieren („unsre Fahne ist mehr als der Tod”).

Die illegale bündische Jugend reagierte gegen solch totalitäre Vereinnahmung mit systemkritischer Umdichtung (vgl. Anhang. 20): „Wir trampen in die Weite und singen in den Wind. / Viel Tausend uns zur Seite, die auch verboten sind. / Wir sind der Bünde buntes Heer, uns lockt der Ferne Ruf, / Und um uns her ein dunkles Meer, das schwarze Hölle schuf”.

Die Substituierung von „traben” (der Kavallerie) durch „trampen” (der amerikanischen Vagabunden) war bereits Widerstandsprogramm. Die Anspielung auf den beträchtlichen Umfang des Jugendwiderstandes („viel Tausend”) sollte zu solidarischer Aktion ermutigen. „Der Bünde buntes Heer” weist auf Zusammenschlüsse unterschiedlicher politischer, religiöser und freier Jugendbünde im Zeichen der Widersetzlichkeit hin. Das NS-System sah sich genötigt, das Singen derartiger Lieder unter schwere Strafen zu stellen. Im eigens erlassenen „Gesetz gegen bündische Umtriebe” werden sie aufgezählt.

9.8.2.4. Text oder Melodie? Frage der Präferenz

9.8.2.4.1. Drei Möglichkeiten

Eigentlich gehört die Melodie mit zum textuellen Bestand eines Liedes. Nach moderner Textlinguistik ist „Text” ein durch innere Organisation zusammenhängendes System von verbalen und nonverbalen (!) Zeichen. Melodie und Sprache sind dann Sub-Texte eines einzigen Textcorpus. Dabei stellt sich allerdings die Frage nach der innertextuellen Präferenz von Musik und Sprache.

Drei Fälle von Musik-Sprach-Relation sind dabei denkbar:

1. Primat der Sprache vor der Musik (Lieder um des Textes willen gesungen),
 2. Primat der Musik vor der Sprache (Lieder um der Melodie willen gesungen) oder
 3. Gleichberechtigung beider Medien.

  1. Präferenz des Liedtextes:

    Für die Nutzung von Gebrauchsliedern als mentalitätsgeschichtliche Quelle trifft naturgemäß Fall 1 am meisten zu. Logisch: Je ideologiehaltiger ein Lied ist, desto mehr Gewicht kommt der Sprache zu.

    Beispiel 1: Dem ehemaligen „Reichsjugendführer” Baldur v. Schirach wurde vom Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal (1946) vorgehalten, er habe mit dem Liedtext: „denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt” (vgl. Anhang 25), die Jugend zum Angriffskrieg verführt. Größere Bedeutung einer liedsprachlichen Äußerung kann es kaum geben.

    Beispiel 2: Im bayerischen Landtag gab es 1914 eine „kulturpolitische” Debatte wegen angeblich „revolutionärer Bestrebungen” ausgerechnet des jugendbewegten Liederbuchs „Zupfgeigenhansl”. Man warf ihm „Verbreitung anstößiger Lieder” vor. Wer lange genug im „Zupf” blättert, stößt schließlich auf das Volkslied: „Es hat ein Bauer ein schönes Weib”, aber eben nicht er allein; da gibt es noch einen „jungen Reitersknecht”, der die Frau „ums Gürtelband fasst” und sie „wohl hin und her schwang”. Am Ende sogar: „er lieget im Heu und im Hof. Er fährt auch manchmal ins Heu” usw. Dieser Skandal war insofern verständlich, als in der bürgerlichen Gesellschaft zum Vorverständnis des „Zupfgeigenhansel” das Gefühl gehörte, die Wandervögel trieben in ihrem Befreiungsdrang allerlei „Heubodenerotik”, wie es der Wiener Dramatiker Arnolt Bronnen vom österreichischen Wandervogel beschreibt.

    Dass Liedertexte inhaltlich ernst genommen wurden, setzte sich im Wandervogel erst nach einigen Jahren durch. Anfangs kümmerten sich die jungen Freizeitwanderer kaum um die textlichen Aussagen der von ihnen gesungenen Lieder. Hauptsache: „Frisch- Fromm-Fröhlich-Frei!” (Devise der Turnbewegung – die 4 Turner-F). Aber mit zunehmendem Einfluss der Lebensideologie (Nietzsche etwa) und fortschreitender Ideologisierung wurden die Liedertexte immer wichtiger und daher immer bewusster gesungen. In der Arbeiterjugend-Bewegung ging man wegen des von Beginn an (um 1905) politischen Engagements von vorneherein vom Liedtext aus (z.B. Gedichte Herweghs) und suchte sich erst nachträglich eine Melodie dazu. Oft nahm man dazu gängige Liedmelodien her und schob ihnen einen gruppenspezifischen Weltanschauungstext unter: z.B. dem Volkslied „Es liegt ein Schloss in Österreich” (vgl. Anhang 4), das Weberlied Gerhart Hauptmanns: „Hier im Ort ist ein Gericht, noch schlimmer als die Femen ...” (vgl. Anhang. 4a). Auf diese Weise entstehen so genannte „Kontrafakturen”, welche die Präferenz des Textes vor der Melodie belegen.

    In der bündischen Zeit (nach 1920), als sich die Jugendbewegung mehr und mehr zur religiösen oder politischen Tat hin orientierte, kommt der Textbedeutung wachsendes Gewicht zu. Wichtige programmatische Gedicht-Texte wurden jetzt eigens im Stil der neuen Jugendbewegung vertont, um sie nach innen und außen wirken zu lassen: Zwei der verbreitetsten Lieder der bündischen Jugend sind spätere Vertonung älterer Texte:

    Das Lied „Wildgänse rauschen durch die Nacht” (vgl. Anhang 18) wird erst um 1925 vertont, als die Nachkriegsgeneration verstärkt Interesse für Krieg und Kriegsliteratur zeigte.

    Das Gedicht „Wann wir schreiten Seit an Seit” (vgl. Anhang 9) aus der Arbeiterjugend (Hermann Claudius) findet erst um 1925 in der gesamten Jugendbewegung Verbreitung und wird deshalb um diese Zeit nach ca. 20 Jahren erst vertont. „Mit uns zieht die neue Zeit” war das Zeitgeistwort, auf das es den Bündischen ankam.

    Eine besonders textintensive Sonderform des Liedersingens stellt die Ballade. Definition: Eine erzählende Dichtung, die in lyrischer Versart geschrieben ist; es gibt strophische Balladen und durchkomponierte Balladen dar. Sie war besonders in der Wandervogelbewegung der vorbündischen Zeit (vor 1920) außerordentlich beliebt. Ihre epische Erzählhaltung macht eine enge Textbindung nötig. Man musste sämtliche meist zahlreichen Strophen beherrschen, um die Einheit der Handlung zu vermitteln. Dies gilt auch noch für die maskulin-pubertären Bündischen und ihre Lieblingsballade: „Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm” (vgl. Anhang 26) eines Börries v. Münchhausen.

  2. Präferenz der Melodie vor der Sprache

    Es gibt jedoch auch (wenngleich weniger) Beispiele für melodie-intensives Singen in der Jugendbewegung, was manch Ehemaliger feststellen dürfte. Auch der Mentalitätshistoriker muss gelegentlich die komplizierte Verflechtung beider Medien in ihrer Wirkung auf Texter, Singer und Hörer thematisieren, d.h. sich mit der Musikalisierung von Liedern befassen. Auch sie kann „Dokument des Imaginierten” (Jaques Le Goff) sein.

    Zwei Sorten von jugendbewegten Liedern stellen Beispiele für Musik-Präferenz dar: Tanzlieder und Kanons.

    Tanzlieder etwa waren von Metren und Rhythmus dominiert und dienten bei Reigentänzen gelegentlich als Instrumentenersatz.

    Ein anderer Fall von Musik-Dominanz ist der Kanon, also strenge polyphone Mehrstimmigkeit. Diese Liedform wurde von der Jugendmusikbewegung (Hensel, Halm, Jöde, Götsch: ab ca. 1918) besonders gefördert – aus reformpädagogischen Gründen (Individuation und Anpassung im ausgewogenen Verhältnis). Diese Kanons oder Singrädchen (bayerisch/österreichisch: „Singradl”) zerlegen regelrecht den syntagmatischen Textzusammenhang. Im bekannten Frohsinn-Kanon der Jugendbewegung etwa werden folgende Wörter von allen vier Einsatzgruppen gleichzeitig, also überlagernd, gesungen. Aus „Froh zu sein bedarf es wenig” wird: „froh + darf + und + ist / zu + es + we + nig” usf. Nonsens also, wie er in geringerem Umfang bei jedem polyphonen Gesang entsteht.

    In der Jugendbewegung versuchte man dem Textzusammenhang dadurch gerecht zu werden, dass der Kanontext einstimmig von allen vorgesungen wurde, um den Textgehalt zu vergegenwärtigen (der vom Gruppenführer gelegentlich erläutert wurde). Dies war bei religiösen Kanons besonders nötig (das Trienter Konzil hat im 16. Jahrhundert Polyphonie für den kirchlichen Gebrauch verboten, während die reformatorischen Kirchen diese Liedform erst recht kultivierten (vgl. etwa Heinrich Schütz).

9.8.2.5. Verbreitung jugendbewegter Gebrauchslieder

9.8.2.5.1. Lieder als Äußerung der Mentalität

Für die gesamte Jugendbewegung ist neben Wandern und Auf-Fahrt-Gehen das Singen die zweitwichtigste Tätigkeit. Singend erfahren die Jugendlichen, dass sie zusammengehören und warum. 1912 in der so genannten heimlichen Hymne der Jugendbewegung („Die blaue Blume”) kommt dies zum Ausdruck (vgl. Anhang 1): „Wo wir wandern und singen / Lieder ins Land hinein”.

„Wandern und Singen” werden durch das „und” zu gleichwertigen Verrichtungen gemacht. Mit zunehmender weltanschaulicher Ideologisierung steigt auch die Bedeutung des Liedersingens überhaupt. Singen wird für die Jugendbewegung Teil ihrer lebensideologischen Krisenreaktion (vgl. Kulturkrise). Auch lassen sich die Wandervögel von der romantischen Vorliebe für Lyrik und ihre Musikalisierung anregen. Eichendorff wird zu einer Art Kultfigur und mit ihm seine Romanfigur „Taugenichts”, der fiedelnd auf der Landstraße dahinwandert.

Der Begriff „Wandervogel” stammt selbst aus einem spätromantischen Singspiel (Roquette), das die Vorliebe für den Liedgesang den Jugendbewegten vermittelte: „Ein Wandervogel bin ich auch, / mich trägt ein frischer Lebenshauch (!), / und meines Sanges Gabe / ist meine liebste Habe”.

Zu Lied und Musik kommt dann bald der Tanz (Reigen) als lebensideologische Bewegungsform (vgl. „élan vital”). Besonders die durch den Wandervogel ausgelöste Mädchen-Emanzipationsbewegung entdeckt den Tanz als befreiende Bewegung im Freien. Im „Bund der Wanderschwestern” wird schon um 1910 verkündet, „dass unsere Mädchen dabei so manches alte verklungene Reigenlied ... singen und tanzen lernen werden, wie unsere schönen Stamm-Mütter draussen im Freien”. So steht die Volkstanzbewegung im engen Zusammenhang mit der Jugendbewegung.

Im Vorwort zum Liederbuch des österreichischen Wandervogels (1912) wird die Bedeutung des Liedersingens hervorgehoben, denn das Lied musste „naturgemäß zu einem Abglanz der österreichischen Gemütsart werden, jenem glücklichen Gemisch von Tränenseligkeit und lachender Heiterkeit. Singen ist dem Österreicher Lebensbejahung (!), Lebensfreude (!)”.

Noch die Hitlerjugend übernimmt trotz ihrer paramilitärischen maskulinistischen Tendenz von der Jugendbewegung die Vorliebe für das Liedersingen, wie sie etwa das „Pimpfen-Handbuch” formuliert: „Was zwingt uns zu Musik und Sang? Wenn es dem Deutschen gut geht oder auch schlimm, so fängt er an zu singen”. Beim „Bund Deutscher Mädel” (BDM) waren Singen und Tanzen noch weit mehr in Übung.

Noch 1988, lange nach dem Ende der eigentlichen Jugendbewegung, beschwört ein Nachzügler-Liederbuch die große Bedeutung gemeinschaftlichen Singens: „Ohne die Fahrt, was wäre unser Leben! Ohne Lied, was wären unsere Fahrten! Ein Volk, das nicht mehr singt, stirbt. Mit Liedern brach die Jugendbewegung auf. Arm wären wir, wollten wir das vergessen ...”.

So kann der umstrittene Zeitpunkt des Endes der Jugendbewegung aus guten Gründen auf das Ende der jugendbewegten gemeinschaftlichen Singkultur datiert werden. Mit dem Verschwinden der jugendbewegten Lieder aus dem allgemeinen Gebrauch durch die Jugend verflüchtigt sich auch die Mentalität der Jugendbewegung.

Das traditionell bündische Liederheft des Voggenreiter-Verlages „Der Turm” (Ludwig Voggenreiter war Pfadfinder) in der Ausgabe von 1962 mag mit seinem Vorwort diesen Paradigmenwechsel dokumentieren: „Gemessen an den schlichten Versen, die überall entstehen, ist es unbegreiflich wie viele Liederblätter heute noch mit Reimereien befrachtet werden, die ewiggestrig am imaginären Jugendreich bauen oder völkisch- heldischen Krampf pflegen. Solcher Liedkitsch trägt zur Verdummung und gefährlich lebensfremden Erziehung bei”.

Mit dieser Absage an den typisch jugendbewegten „Idealismus” wird ohne Absicht, aber nicht ohne Berechtigung die Jugendbewegung überhaupt in die Geschichte verabschiedet. Über ein halbes Jahrhundert hatte ihre Mentalität jugendliche Verhaltensparadigmen geprägt, jetzt hatte sich der Zeitgeist endgültig geändert.

9.8.2.5.2. Liederbücher der Jugendbewegung

Die Anzahl der Liederbücher, die seit Beginn der Jugendbewegung um 1900 gedruckt wurden, geht in die Hunderte, wenn nicht in die Tausende. Sie enthalten einen Fundus von ca. 1.000 Liedern in immer neuen Zusammenstellungen. Im engeren Sinn könnte man von einem Kanon von ca. 300 der beliebtesten Lieder sprechen.

Der Grund für diese Vielfalt: Die Jugendbewegung spaltete sich von Beginn an in verschiedene größere und kleinere Gruppen, die ihre kollektive Mentalität nicht zuletzt über Liedertexte definierten. Die Vorworte dieser Liederbücher und -hefte verraten daher mehr über die Struktur der Jugendbewegung als manche der vielen theoretischen Abhandlungen.

Bald nach der Gründung des Wandervogels (1901) wollte man sich von bürgerlichen Liedersammlungen unabhängig machen. Der Berliner Wandervogel Siegfried Copalle stellt ein erstes Liederbuch zusammen, das auch selbst gefertigte Lieder bzw. Umdichtungen enthält. Nach 1905 erscheint dann das bekannteste Liederbuch der Wandervogelbewegung, der „Zupfgeigenhansl”, von Insidern meist liebevoll „Zupf” genannt. „Zupfgeige” war neben „Klampfe” ein von den Wandervögeln geprägtes Kunstwort für die Gitarre, die von der Jugendbewegung wieder entdeckt worden war. Der „Zupf” enthält nach der puristischen Absicht seines Herausgebers, Hans Breuer, ausschließlich Volkslieder, soweit sie als authentisch galten: Entweder hatten sie eine Patina von mindestens 100 Jahren aufzuweisen oder ihr Schöpfer war anonym (aus dem „Volk” sozusagen entsprungen). Volkstümliche Liedkreationen der zweiten Jahrhunderthälfte aus spät- oder neuromantischem Kulturmilieu waren für Breuer als „unecht” verpönt; deshalb finden sich signifikante Kultlieder der Jugendbewegung nicht im „Zupf” (nicht einmal „Kein schöner Land” oder „Hoch auf dem gelben Wagen”, auch nicht der „Lindenbaum” fanden Gnade vor Hansls Ohren). Auch die von den Wandervögeln selbst geschaffenen „Neutöner-Lieder” sucht man im Zupf vergebens (so tauchen etwa das berühmte „Wir wollen zu Land ausfahren” oder Lieder des Wandervogels Hermann Löns auch in späteren Ausgaben nicht auf).

Dass weit mehr und andere Lieder gesungen wurden, zeigt „Wandervogels Singebuch” von 1915/18. Es enthält gemäß dem Vorwort alles, „was ein Wandervogel singen will” (ca. 500 Lieder) und distanziert sich deutlich vom Volksliedpurismus Breuers.

Das Liederbuch der österreichischen Wandervögel „Unsere Lieder” (1912) fühlt sich dagegen mehr dem Geist des „Zupf” verpflichtet, vor allem aber dem Wiener Volksliedforscher Dr. Josef Pommer und dem Wiener „Deutschen Volksgesangsverein”. Im Unterschied zur deutschen Volksliedpflege werden in Österreich vor allem landschaftlich gebundene Mundartlieder gesammelt und gesungen. Auf diese Weise berücksichtigt man die Vielfalt deutschsprachiger Kulturen in Österreich. Allerdings finden sich auch im „Zupf” gelegentlich mundartliche Texte, vor allem alemannisch-schwäbische und sogar niederdeutsche (plattdeutsche).

Der bedeutende Paradigmenwechsel in der Jugendbewegung um 1920 vom Wandervogel zur bündischen Jugend zeigt sich auch in der Liederbuch-Szene. Eine eigens gegründete „Jugendmusikbewegung” pflegt die Tradition des Wandervogels weiter und beeinflusst damit vor allem die Singpraxis der neu gegründeten Mädchenbünde. Vor allem ist es der Bärenreiter-Verlag (Kassel), der mit seinen Liederbüchern, aber auch Notenheften mit alter Musik (z.B. für die in der Jugendbewegung beliebten Blockflöten), den Markt der Jugendmusikbewegung bedient (der Verlagseigner war selbst Wandervogel und Mitglied des „Finkensteiner Bundes” Walter Hensels). Etwas später kommt – mit ähnlichem Programm – der Georg- Kallmeyer-Verlag (Wolfenbüttel) heraus.

Auf der anderen Seite benötigt die neu entstehende bündische Bewegung (von der Pfadfinderei dominiert) neue Lieder und Liederbücher. Der pubertäre Maskulinismus neu gegründeter Jungenschaften äußert sich in entsprechend „rauen Männergesängen” nach dem Vorbild von Landsknechten, Seeräubern, Reiterführern und Renegaten aller Art, Außenseiter und Gegenidole zur bürgerlichen Gesellschaft. Von der Jugendmusikbewegung wird diese neue Jugend-Singkultur als „Radaugebrüll” kritisiert. Einer der Väter der Pfadfinderbewegung neuen Typs („Neupfadfinder”), Ludwig Voggenreiter (Potsdam), gründet deshalb einen eigenen (Gegen-)Verlag, der speziell dieses neue bündische Liedgut verbreitet. Hier erscheint z.B. 1934 das bekannte Liederbuch „Kilometerstein”, das dem pubertär-männerbündischen Humor huldigt; es wird bis in die 60er Jahre immer wieder neu aufgelegt.

Die neu entstehenden kirchlichen und politisch tendierenden Bünde halten sich ihre eigenen Liederbücher. Wo es um koedukative Gemeinschaften geht, werden Volkslied und Jungenschaftslied nebeneinander berücksichtigt. Ansonsten kommen zum üblichen Jugendbewegungs-Fundus bundesspezifische Lieder hinzu. Die Liederbücher der Nachkriegszeit entsprechen überwiegend diesem Typus.

Zu den Verlagen Bärenreiter und Voggenreiter kommt ein weiterer, jungenschaftlich tendierender Verlag hinzu: Verlag Günther Wolff (Plauen). Vor allem erscheinen in den 30er Jahren anstelle umfangreicher Liederbücher Liederhefte. Sie enthalten die neuesten Jungenschafts-Schlager und sind oft als Themenhefte angelegt (Landsknechtslieder, Lieder für Fahrt und Lager oder „Feierstunden” u.dgl.).

Eines der meistbenutzten Liederbücher dieser Jahre ist „Die weiße Trommel” des Voggenreiter-Verlags. Das Inhaltsverzeichnis von 1934 nennt 160 Titel. Die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland macht sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Liederprogramm bemerkbar, obwohl die deutsche Jugendbewegung bereits „gleichgeschaltet”, d.h. in die Hitlerjugend überführt worden ist. Im Gegenteil: Das sozialdemokratische Kultlied „Brüder zur Sonne zur Freiheit” ist neben dem später als „undeutsch” verbotenen Kosakenlied vom Helden Platoff vertreten.

Noch 1935 kann der G. Wolff-Verlag die „Lieder der Südlegion” drucken. In diesem Liederheft äußert sich unter den Augen der Zensur subversive Opposition gegen das Regime. Vor allem gelingt es dem Verlag, Lied-Texte jüdischer Autoren des George- Kreises zu veröffentlichen: Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf. Allerdings wird dieser Verlag 1938 im Zusammenhang mit den Maßnahmen „gegen bündische Umtriebe” verboten.

Mit Ausnahme der im kirchlichen Raum als „Kirchenlieder” getarnten Lieder des antifaschistischen Widerstehens werden die zahlreich entstandenen Widerstandslieder nach 1945 weitgehend vergessen, auch deshalb, weil subversive Texte aus Gründen der Geheimhaltung weitgehend mündlich oder handschriftlich tradiert werden mussten. Erst in den 80er Jahren versucht ein Liederheft zu sammeln und zu retten, was an oppositionellen Liedern von Zeitzeugen noch erinnert wird.

Ansonsten enthalten die ersten Nachkriegsliederbücher, oft aus der kirchlichen Jugendbewegung, den Gesamtbestand der Lieder-Situation vor 1933/1938 (Österreich) einschließlich ausgewählter Lieder des kirchlichen Widerstands, deren politische Intention jedoch nicht mehr rezipiert und verstanden wird. Typisch dürfte hierfür das Liederbuch „Singende Jugend” des „Katholischen Jugendwerks Österreichs” sein (Otto Müller-Verlag, Salzburg 1948).Von rund 320 Liedern ergeben sich folgende Anteile an Themenbereichen: Volkslieder/volkstümliche Lieder, oft Mundart: ca. 50 %; geistliche Lieder: ca. 38 %; bündische Lieder: ca. 7 %; Neutönerlieder/Jugendmusikbewegung: ca. 5 %.

Auffällig und für die österreichische Tradition typisch ist der hohe Anteil an Volksliedern bzw. volkstümlichen Liedern. Trotz der Belastung durch die NS-Vergangenheit wird im Vorwort der lebensideologisch-völkische Aspekt betont. Dreimal taucht das entsprechende ideologische Schlüsselwort „gesund” auf, viermal der Begriff „Art” (vgl. „artfremd”): Das Lied der Jugend „muß künden von Echtheit und eigenständiger Art, vom gesunden Empfinden (!), das alles Fremde, Gemachte und Kitschige ablehnt”; „herausgelassen wurde alles, was unserer Art, der Art gesunder Jugend und der Art österreichischen Volkes fremd ist”. ”... aus echtem gesundem Herzen singende Jugend ...”

Im Anhang zu diesem Liederbuch wirbt der Otto Müller-Verlag für ein Liederbuch alpenländischer Volkslieder, das vom Salzburger Musikprofessor Cesar Bresgen herausgegeben wurde, der selbst der Jugendmusikbewegung als „Neutöner”-Komponist verbunden war.

Im Vergleich dazu enthält das Liederbuch „Mundorgel” des evangelischen „Christlicher Verein Junger Männer/Menschen” (CVJM) zu 38 % bündische und zu 33 % geistliche Lieder. Der Rest entfällt auf Volkslieder, Neutönerlieder und lustige Lieder.

Bündisch tendierende kirchliche Jugendgruppen (z.B. St. Georgspfadfinder) ergänzen ihren Liederbestand durch eigene bündisch-jungenschaftliche Liedersammlungen mit den beliebten „wildjauchzenden” (Vorwort „Singende Jugend”) Fahrtenliedern. So enthält etwa das Heftchen der Münchner St. Georgspfadfinder (1950) 22 Lieder aus 9 Liederbüchern des G. Wolff-Verlags (vor 1933), darunter den „Hit” „Wenn die bunten Fahnen wehen” und das patriotische „Deutsche Jugend heraus” (1923).

Ende der 50er-Jahre macht sich dann der letzte Paradigmenwechsel vor Ende der eigentlichen Jugendbewegung bemerkbar: die Tendenz zur internationalen Folklore, die allerdings bereits vor der NS-Zeit und während ihr eingesetzt hatte (vgl. Jugendopposition). Im Vorwort zum bekanntesten Nachkriegsliederbuch „Der Turm” (1962) des Voggenreiter-Verlags wird die allgemeine Abwendung von Wandervogel und bündischer Jugend vorgeführt: „Das Gesicht vieler Bünde hat sich gewandelt und mit ihm die Lieder. Eine neue Haltung der Bünde kommt auch in der Bedeutung zum Ausdruck, die sie dem ausländischen Liedgut zuerkennen”. Nach alter Jungenschaftstradition dominieren zwar skandinavische Lieder, aber auch russische, chinesische und vor allem amerikanische Folklore ist vertreten, abgesehen von vielen Volksliedern aus ganz Europa.

Eine Zeitzeugin, Mitglied des Salzburger Wandervogels, hat mir ihre Liederbuchsammlung übergeben, wie sie um 1960 in Gebrauch war: „Der Turm” (Voggenreiter), „Der große Kilometerstein” (Voggenreiter), „Die Mundorgel” (Verlag CVJM-Köln), „Weiße Straßen” (Paulus-Verlag Recklinghausen), „Sattel und Kanu” (Paulus-Verlag). Dabei stellt die „Mundorgel” die am meisten für die Tradition der Jugendbewegung signifikante Sammlung dar.

Aufschlussreich ist ein Blick in das Liederbuch der österreichischen Alpenvereins- Jugend „Kein schöner Land”. Hier herrschen neben regionalpatriotischen (Landeshymnen) vor allem alpinistische „Bergsteiger-Lieder” vor, jedoch finden sich auch Volkslieder und zahlreiche bündische Lieder im Programm. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass immerhin 26 Lieder des Hitlerjugend-Funktionärs Hans Baumann abgedruckt sind, von dem u.a. das Lied „Es zittern die morschen Knochen” (vgl. Anhang 25) stammt und der die Hitlerjungen zu todesbereiten Marschkolonnen animierte:„Deutschland, sieh uns an! Wir weihen dir den Tod als kleinste Tat”.

9.8.2.6. Lieder der Wandervogelzeit (ca. 1900-1920)

Jeder Entwicklungsabschnitt einer Sozietät hat seine eigene Mentalität, hat seine eigenen Lieder. Er steht in enger Beziehung zum „Zeitgeist”. Im Fall des Wandervogels wirkt die Zeitgeistphilosophie „Lebensideologie” als „Vitalismus” paradigmenbildend für die Liederpraxis der Jugendbewegung.

Die bürgerliche historistisch beeinflusste Imitationskultur und ihre Salon-Ornamentik wurde von der neuen Jugendlichkeit als verlogen und damit als krisenhaft empfunden. Deshalb stellt die Forderung der Jugendbewegung von 1913 nach „Wahrhaftigkeit”, Echtheit und Authentizität das erste und entscheidende Ideologem der neuen Jugendlichkeit dar und bleibt es bis zu ihrem Ende. Konsequent leitet man aus dieser Wahrhaftigkeitsidee eine Forderung nach unverfälschter Natürlichkeit ab.

Dies alles glaubt man in einer vorindustriellen und prä-urbanen Gesellschaft und deren Kultur wieder zu finden (im bewussten Gegensatz zur „Zivilisation”), in einer Kultur des „Volkes” – Volk als soziales, nicht unbedingt nationales Phänomen. Diesem „Volk” werden Attribute zugeschrieben: „einfach”, „ehrlich”, „echt”, „natürlich”, aber auch „innig” und „gemeinschaftsorientiert”. Dass man die Realität der tatsächlichen Volkskultur dabei verkannte und selbst neoromantisch verfälschte, steht außer Frage und wurde oft kritisiert. Aus den Volkskulturen wird durch die Jugendbewegung nur dasjenige Kulturgut rezipiert, das in den lebensideologischen Raster passte. Gelegentlich greift man sogar korrigierend in Liedertexte ein, wenn sie etwa die sozialen oder ethischen Konflikte der Volksgesellschaft betreffen. Für derartige Harmonisierungen, die es zunächst vor allem in der bildenden Kunst gibt, haben Münchner „moderne” Künstler den Begriff „Kitsch” erfunden. Zweifellos trifft er auf manche Liedkreationen der Jugendbewegung zu, auch wenn er wegen seiner ambivalenten Herkunft umstritten war und ist. Allerdings trifft der Kitschverdacht nicht das authentische Volkslied älterer, oft anonymer Herkunft. Umso mehr jedoch die volkstümelnden Neuschöpfungen des späten 19. Jahrhunderts. Eben aus diesem Fundus stammen jedoch etliche der beliebtesten Wandervogellieder bis hin zu den Pseudo-Volksliedern eines Hermann Löns.

Genau dieser neuromantischen Verharmlosungstendenz verweigert sich „Zupfgeigenhansl” Hans Breuer. Er pflegt in seiner Wandervogel-Liedersammlung einen exklusiven Volksliedbegriff. Für ihn ist nur echt, was entweder einen anonymen Verfasser hat („Volksmund”) oder durch eine Patina von mindestens 100 Jahren geadelt ist. Breuer stützt sich dabei vor allem auf die Volksliedsammlung der Romantiker v. Arnim/Brentano „Aus des Knaben Wunderhorn”, ohne freilich zu wissen, dass deren Verfasser nicht nur gesammelt, sondern auch reichlich um- und dazugedichtet haben. Breuer geht in seinem Purismus konform mit dem gleichzeitig in Wien tätigen Volksliedforscher Dr. Josef Pommer, der sich mehr auf das Dialektlied konzentrierte, weil es den Echtheitsnachweis eo ipso lieferte.

Andere Liedersammler aus Wandervogelkreisen benutzten zusätzlich die Volksliederausgabe Wilhelm Zuccalmaglios (40er Jahre des 19. Jahrhunderts), der allerlei Liedgut anbietet, das in der damaligen romantisch tendierenden Bürgergesellschaft gesungen wurde. Auf diese Weise gelangen Liedertexte Joseph v. Eichendorffs, Victor v. Scheffels und anderer romantischer und spätromantischer Autoren und Komponisten in den Liederschatz nicht nur der Jugendbewegung. Eichendorff und seine Romanfigur „Taugenichts” („Aus dem Leben eines Taugenichts”) werden regelrecht zu Kultfiguren des Wandervogels.

9.8.2.7. Wanderlieder

Die Begriffe „Wandervogel” und „Jugendbewegung” weisen eine signifikante semantisch Wandern als Selbstzweck nicht von der Jugendbewegung erfunden; dies hatte schon einige Jahrzehnte früher die Turnbewegung besorgt – nach dem Vorbild der Romantik: „Turner ziehen froh dahin, wenn die Bäume schwellen grün. / Wanderfahrt, streng und hart, das ist Turnerart”.

9.8.2.7.1. Wander-Lust statt Wander-Frust

Für den Vitalismus der Wandervögel ist dieses „frisch-fromm-fröhlich-freie” (die 4 Turner-F) Wandern die ideologisch geeignete Freizeitbeschäftigung. Wandern aus „Lust an der Freude” übernehmen die Wandervögel aber auch aus Eichendorffs Roman „Aus dem Leben eines Taugenichts”, der mit Turnerei nicht das Geringste im Sinn hat. Schon zu Beginn dieser Schrift kommt der Gegensatz zur Gesellen-Pflichtwanderung älterer Volkslieder zum Ausdruck: „ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da meine alten Bekannten und Kameraden ... zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinaus kam, da nahm ich meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend (vgl. Anhang 27): Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt ... Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot. Sie wissen nur vom Kinderkriegen, von Sorgen, Last und Not um Brot”.

Die letztzitierten Zeilen fehlen in den meisten Schulliederbüchern, aus gutem Grund, denn nur selten wird derart die bürgerliche Gegenwelt verächtlich gemacht. Auch nicht alle Liederbücher der Jugendbewegung drucken diese Strophe ab: nicht der „NS- Singkamerad” (1935), nicht das „Arbeiterjugend-Liederbuch” (1929), auch nicht das „Liederbuch der österreichische Alpenvereinsjugend” (um 1960).

Ein anderes Eichendorff-Gedicht wird von der Jugendbewegung 1913 vertont (Hermann Engel, Herausgeber von „Wandervogels Singebuch” – vgl. Anhang 5): „Ich reise übers grüne Land, der Winter ist vergangen. / Hab um den Hals ein gülden Band, / daran die Laute hangen. [...] / Wie bist du schön! Hinaus! Im Wald geh'n Wasser auf und unter; / im grünen Wald sing, dass es schallt: Mein Herz, bleib froh und munter!”

Das gesamte Lied nimmt lebensideologische Metaphorik vorweg, vorausgesetzt, man interpretiert es mit entsprechender Hermeneutik: Lautenmusik – Morgensonne – der Ströme Lauf – Wasser geh'n – das Herz als „lustig funkelnder Diamant” (vgl. Kristall- Symbolik der späteren Lebensideologie) – der „grüne Wald”. Bekanntlich reicht der Symbolwert der Farbe Grün als politische Botschaft bis ins 21. Jahrhundert. Diese Farbsymbolik geht zwar aufs Mittelalter zurück, erfährt jedoch Ende des 19. Jahrhunderts allerlei vitalistische Aufladung: „Reisen” als „Bewegung”- „Frühling” als Beginn vitaler Lebensäußerung – „grünes (offenes) Land”, „grüner Wald” stellen die Gegenwelt zur grauen vermauerten Stadt dar („Aus grauer Städte Mauern zieh'n wir durch Wald und Feld”) – „Wasser geh'n” („vom Wasser haben wir's gelernt, das Wandern”) – die „Laute” bzw. Gitarre („Klampfe” genannt) als zurück gewonnenes Volksinstrument der Jugendbewegung – das „freie und muntere Herz” (drei der vier „F” der Turnbewegung: frisch, fröhlich, frei). Die Symbolik der Farben Grün und Gold findet sich nicht zufällig in zwei der drei „Bundesfarben” des österreichischen Wandervogels (neben Rot) wieder.

Das „grüne Land” ermöglicht bei Eichendorff erst die Bewegung des Wanderns, der „grüne Wald” erst stellt die geeignete Szenerie für lebensfrohes Singen dar. Die Lebensreformbewegung, eng verbunden mit der Jugendbewegung, konnte sich bei ihrer Naturzuwendung dieser Symbolsprache bedienen.

Der Wandervogel tendiert nicht von Anfang an abstinenzlerisch und templerenzlerisch, erst allmählich setzt sich lebensreformerische Askese durch, wenn auch nie vollständig. Im Gegenteil: Die Gymnasiasten und angehenden Wandervogel-Studenten orientieren sich an den wandernden Scholaren und Vaganten des Mittelalters, vom Ersten Weltkrieg an auch an den Landsknechten des 16. und 17. Jahrhunderts, bei denen Saufen und Würfelspiel zum allgemeinen Lebensstil gehörten. Die ersten Wandervögel um Karl Fischer nennen sich daher „Pachanten”, also nach den Jüngern des Weingottes Bacchus. Weinselige „Bacchanten-Lust” (vgl. Karl Orff: „In taberna” usw.) wird in alten und neueren (P)Bachantenliedern besungen: Da konnte die Jugendbewegung auf Viktor v. Scheffels „Frankenlied” von 1859 zurückgreifen (vgl. Anhang 28): „Verfahrner (!) Schüler Stoßgebet heißt: Herr, gib uns zu trinken!”

Solches Liedgut finden die Wandervogel-Pennäler überreichlich in den ansonsten abgelehnten Kommersbüchern der Studentenkorporationen, dort allerdings unter der Rubrik „Trinklieder”, was wieder für die lebensreformerische Observanz der Jugendbewegung suspekt war. In „Wandervogels Singebuch” von 1915 findet sich sogar der ziemlich rüde Sauf-Chorus „Ein Heller und ein Batzen” (vgl. Anhang 29), wenn auch die letzte Strophe wegzensiert ist: „Das war 'ne rechte Freude, als mich der Hergott schuf, / Ein Kerl wie Samt und Seide, nur schade, dass er suff”. Immerhin enthalten das „Arbeiterjugend-Liederbuch” von 1929 und das „Alpenvereinsjugend- Liederbuch” von 1960 diese Sauf-Strophe.

Mit fortschreitendem Einfluss der Lebensreform auf die Jugendbewegung wird der Bedarf an jugendfreien Pachantenliedern so groß, dass eigene Liedkreationen entstehen (alkoholfreier „Frohsinn”, versteht sich). Arbeiterlieder-Dichter W. Gättke huldigt z.B. diesem Pachanten-Ideal: „Pachantenlust, Pachantenart, vertraute liebe Mär! / Pachantensang, Pachantenfahrt, o, dass sie endlos wär! / Das ist so recht Pachantenart, das Leben lieben, nichts gespart! / Die Fiedel an die Seit getan, Pachantenschar voran!”

Dieses Lied zeigt im Übrigen, wie intensiv sich die Arbeiterjugend-Bewegung mit der Wandervogel-Bewegung eingelassen hat. Im Vorwort zum „Arbeiter-Jugendliederbuch” von 1929 liest sich dies so: „Mit dem Jugendwandern, beeinflusst vom Wandervogel, drang das Wanderlied ein (in die Arbeiterbewegung) ... Dichter und Vertoner dieser Lieder, die auf der guten Tradition des Volkslieds weiterbauten, wuchsen aus der Jugend heraus.”

Kein Wunder, dass sich in diesem Liederbuch ca. 20 Lieder von Hermann Löns sowie zahlreiche Kampflieder des Ersten Weltkriegs finden. Der Einfluss der bürgerlichen Bewegungen auf die Arbeiterbewegung muss auffallend stark gewesen sein und führte innerhalb der Arbeiterschaft zu gewissen generationsbedingten Irritationen und Konflikten.

9.8.2.7.2. Wander-Frust statt Wander-Lust

Die älteren Volkslieder, besonders Gesellen- und Soldatenlieder, besingen das Unterwegssein keineswegs immer als frisch-fröhlich-freie Fortbewegung in lebensgrüner Natur. Im Gegenteil: Wandern wird von einer vorindustriellen kleinbürgerlich-bäuerlichen Gesellschaft oft als hartes Schicksal erfahren. „Freiheit” wurde häufig als Ungeborgenheit und Gefährdung erlebt, als „Vogelfreiheit” (vgl. etymolog. Zusammenhang von „Fahrt” und „Gefahr”). Das Abschiedsmotiv mit der Klage über die Trennung von vertrauter Umgebung dominiert tendenziell in dieser Wanderpoesie. „Wander- und Abschiedslieder” bilden in vielen Liederbüchern des 19. Jahrhunderts eine Gliederungseinheit. Mit der vitalistischen Wanderfreude der Freizeitwanderung hat diese erzwungene Berufswanderung wenig zu tun. Dennoch hat die Jugendbewegung derartige Wander-Klagelieder gesungen, manche davon sehr gern, z.B. die alte Wanderklage eines prominenten Verfassers (Kaiser Maximilian): „Innsbruck, ich muß dich lassen, / ich fahr dahin mein Straßen in fremde Land dahin. / Mein Freud ist mir genommen, / die ich nit weiß bekommen, wo ich im Elend bin”. Dem „Zupfgeigenhansel” (Hans Breuer) war die alte Bedeutung von „Elend” sicher bekannt: „Fremde, Aufenthalt in der Fremde, Heimatlosigkeit, Verbannung”.[2472]

Warum hat sich die Jugendbewegung dennoch solcher Wanderklage hingegeben? Weil die Dialektik von Leben und Tod wesentliches Element der neuromantischen Variante der Lebensideologie ist. Dass die Trennung umso schmerzhafter ist, je leidenschaftlicher die Bindung war, ist für pubertierende Wandervögel eine allgemein nachvollziehbare Situation gewesen, gerade, weil ihr Abschied nicht für immer galt, weil Trennung mit Rückkehrgarantie verbunden war. Jugendpädagogisch gesehen handelt es sich dabei um eine Einübung im Ertragen von Trennungsschmerz. In der gesamten Jugendbewegung gern gesungen wurde das Wanderklagelied (vgl. Anhang 6): „Heut noch sind wir hier zuhaus, morgen geht's zum Tor hinaus / und wir müssen wandern, wandern, keiner weiß vom andern”.

Dieses Lied hat eine interessante Biographie. Die 1. Strophe entstand 1843 oder früher in der Tradition des romantischen Wanderabschieds. Aber dann: 1848 ergänzt ein politischer nationalliberaler Exilant das Lied um weitere 4 Strophen – Heinrich Hoffmann v. Fallersleben, der wegen „revolutionärer Umtriebe” auf die damals britische Insel Helgoland flüchten musste, ins „Elend” sozusagen. Dort verfasste er bekanntlich gegen die Restauration das Deutschlandlied: „... wandern auf und nieder, keiner sieht sich wieder. / Manches Mädchen lacht mich an, spricht zu mir: ‚Bleib guter Mann!' / Ach, ich bliebe gerne, gerne, muß doch in die Ferne. / Und die Ferne wird mir nah, endlich ist die Heimat da. / Aber euch ihr Brüder, Brüder, seh ich niemals wieder!”

In der vorliegenden Fassung wird das Lied in der Jugendbewegung verbreitet – trotz oder gerade wegen seiner pessimistischen Tendenz. Alle Strophen enthalten Wanderprogrammatisches. Zwei Wörter werden jeweils wiederholt und an ein Reimpaar gekoppelt; auch die musikalische Phrasierung (1843!) folgt der klagenden Betonung dieser Gemination: wandern – Andern (keiner weiß vom ...), nieder – (nicht) wieder, gerne – Ferne, Brüder – (niemals) wieder.

Mehr oder weniger positive Konnotate bestimmen die jeweils ersten Reimwörter (Spalte 1): „wandern” als „des Müllers Lust”, „auf und nieder” als Bewegungsmetapher, „gern bleiben” als Wertschätzung von Gastlichkeit und schließlich „Brüder” als solidarische Wanderkameradschaft. In den zweiten Reimwörtern der Reimpaare opponieren dann negative Aspekte des Wanderns: „vom Andern” („keiner weiß”), „wieder” („keiner sieht sich”), „Ferne” („muß ich in die”) als definitive Trennung („niemals wieder”). Sehr früh (mit 12 bis 14 Jahren) mussten junge Menschen begreifen, dass Freiheit und Mobilität (vgl. „Bewegung”) ihren Preis haben: Verlust von Geborgenheit und Zuwendung. Entwicklungspsychologisch gesehen, impliziert das metaphysische Grunderlebnis der Individuation auch das Erlebnis der großen Einsamkeit. Die Bedeutung der „Brüder” als bündische Notgemeinschaft wird von den Wandervögeln in das Lied hinein- bzw. aus ihm herausinterpretiert worden sein, was bei Gebrauchsliedern durchaus üblich ist. Aus der politischen Zwangslage des Asylanten Hoffmann wird dadurch eine psychologische.

9.8.2.7.3. Wanderbewegung und Todeserlebnis

Ein derartiges Bewegungs- und Vergänglichkeitsgefühl kommt auch im weit in der Jugendbewegung verbreiteten Lied „Hoch auf dem gelben Wagen” (vgl. Anhang 7) zur Sprache. Es wurde in der Viktor-von-Scheffel-Nachfolge in pseudoromantischer Manier nach 1850 von Rudolf Baumbach geschaffen und fehlt nur in denjenigen Liedersammlungen, die am Echtheitsideal der Jugendmusikbewegung orientiert sind; sie klassifizierte das Lied vermutlich als „unecht” und „sentimental”. Den meisten Jugendbewegten war jedoch die Textbotschaft wichtiger, abgesehen von der „fetzigen” Melodie. Der Refrain wandelt das Grundmotiv vierfach ab:

„Ich möchte gern ruhen und schauen, aber der Wagen der rollt ”;
 „Ich bliebe so gern bei der Linde, aber der Wagen, der rollt”;
 „Ich möchte so gerne noch bleiben, aber der Wagen, der rollt”;
 „Ich wäre ja so gerne noch geblieben, aber der Wagen, der rollt”.

Dazu muss man wissen, dass die Vertonung (Heinz Höhne) den vierfach repetierten Refrain mit besonderer Emphase (Nachdruck) hervorhebt, so dass er meist aus voller Kehle und möglichst mit geterzter Zweistimmigkeit in Terzen forte gesungen wird. Das Lied gipfelt in der Darstellung erlebter Todesnähe in barockem Vergänglichkeits-Pathos: „Sitzt einmal ein Gerippe hoch (Variante: ‚dort') bei dem Schwager vorn, / schwingt statt der Peitsche die Hippe (Sense), Stundenglas statt dem Horn ...”

Im Ersten Weltkrieg wurde die Todesnähe für die Wandervogel-Soldaten Realität. Zwar ist der Langemarck-Mythos ein Produkt nationalsozialistischer Kriegserziehung, aber schon während des Weltkriegs beginnt die neuromantisch verklärte Todesfeier im Lied (vgl. Anhang 8): „Der Tod reit' auf einem kohlschwarzen Rappen ... / ... Flandern in Not, in Flandern reitet der Tod ...”

Dieses Lied wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Jungen- und Mädchengruppen gleichermaßen begeistert angestimmt, nicht zuletzt wegen der Melodie des Refrains, die in einfacher, aber wirksamer Zweistimmigkeit in düsterer Moll- Tonart so gesungen wurde, dass es den jungen Leuten schaurig-schön über den Rücken lief. Die Melodie erinnert an den Liedgesang des 16. Jahrhunderts, der noch den Kirchentonarten verpflichtet war. Die ersten vier Takte des so genannten „Stollens” verweilen auf einem einzigen Ton, vergleichbar dem tonus rectus der Liturgie, was im Refrain wiederholt wird („Flandern in Not”) und wie ein Alarmruf klingt. Das Lied gehört zu der seit dem Ersten Weltkrieg immer beliebteren Spezies der Landsknechtslieder und wurde von Elsa v. Wolzogen für die Zeitschrift „Frontwandervogel” verfasst. Eine gewisse Unaufrichtigkeit des Liedes ist für uns heute augenfällig, damals war sie es nicht und sie war auch der Poetin nicht bewusst.

Das Zerrbild vom euphemistisch verklärten Heldentod des Langemarck-Mythos prägt das Lied: „Den Landsknecht man zu Grabe trug ...”, unter militärischen Ehren, mit Trommelwirbel, Salutschüssen und dem Lied vom guten Kameraden. Das würdelose „Verheizt”-Werden der beginnenden Materialschlachten (Verdun) wird im Lied zum Einschlummern in Mutters Armen verklärt. Das Sterben an der Front sollte den jungen Wandervogel-Soldaten leichter, weil würdiger gemacht werden – mit dem reitenden Tod an ihrer Seite. Noch (1915/16) kennt niemand die Verherrlichung des modernen Technik-Kriegs durch den jugendbewegten Leutnant Ernst Jünger („In Stahlgewittern” – ab 1922). Elsa v. Wolzogen deutet die Sinnlosigkeit der Massentötung (bei Wandervogel-Leutnant Walter Flex immerhin als „Morden” bezeichnet) als ehernes Heldenschicksal, dem sich niemand entziehen kann und soll: „Er (der Tod) trommelt laut, er trommelt fein, / gestorben, gestorben, gestorben muß sein!”

Zum Trost haben sich auch die Frauen in der Heimat in den Totentanz einzureihen, ihnen nähert sich der Tod in Gestalt eines „Cherubim vom Himmel”, um „mit ihnen im Tanze zu gleiten”. Der Refrain wird passend dazu abgeändert: „Falalala”, trällern die Mädchen beim Todesreigen. Auf diese Weise wird eine wichtige Prämisse von Trivialität bzw. „Kitsch” erfüllt: Scheinwirklichkeit mit manipulativer Wirkung. Dies erweist sich auch an der Sprachgestalt des Liedes, sie ist künstlich gealtert. Um die nötige Patina (Edelrost) zu erzeugen, brauchte die Verfasserin nur den süddeutschen Lautstand ins Hochdeutsche zu übertragen: „Er (der Tod) trägt ein unsichtbare Kappen” (aus „a Kappm”). Ähnliche Antikisierung gilt für die beschönigende Darstellung des Verblutens: „Da hat's das Blut vom Herzen getragen”. Dazu kommen schiefe (unstimmige) Bilder: Mit Trommelwirbel (!) wird das Kind in den Schlaf (!) gewiegt, die „Kappen” des Todes ist „undurchsichtig”, wo sie doch unsichtbar machen sollte (vgl. Tarnkappe der Nibelungensage).

Das Lied „Der Tod von Flandern” ist zu schön, um wahr zu sein. Es war nicht derartig beliebt, obwohl, sondern weil es trivial war. Allerdings enthält Gebrauchsliteratur immer die Gefahr der Trivialisierung, dies legt schon der semantische Zusammenhang nahe (Trivialliteratur = Konsumliteratur). Damit steht jedoch manches Lied der Jugendbewegung im Widerspruch zur Wahrhaftigkeitsforderung des Wandervogeltreffens am Hohen Meißner (1913): „Die freideutsche Jugend will ... mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten”.

9.8.2.8. Wander-Mentalität und Raum-Semantik

9.8.2.8.1. „Aus grauer Städte Mauern ... hinaus ins Feld”

Durch Wandern und Wander-Fahrt wird die Jugendlichkeitsbewegung auf den Raum übertragen. Wer sich wandernd bewegen will, muss natürlich sagen, wohin und warum er wandern will und wieso die Wanderung nicht einfach „ins Blaue” (Romantische) gehen soll. Von Anfang an ist die Wanderung eine Bewegung „von – weg, aus – hinaus”, wobei die Großstadt als ideologisch verfluchter Ort zurückgelassen wird. Die Jugendbewegung spricht in diesem Kontext von der „Flucht in die Wälder” – eine typisch vitalistische, ja biologistische Denkfigur. Um 1900 hatten neue Wissenschaften Konjunktur, u.a. die Sozial- und Psycho-Geographie, vor allem jedoch die Geopolitik. Im Mittelpunkt dieser „modernen” Geographie standen Begriffe wie „Landschaft” (Natur-, Kulturlandschaft) und „Raum” (Lebensraum, Siedlungsraum). In den Liedern der frühen Jugendbewegung tauchen dann die Versatzstücke dieser „Lebens-Geographie” auf: Stadt-Land-Gegensatz in der Siedlungsgeographie, Feld-, Wald- und Wiese in der Pflanzengeographie, Berg und Tal in der Geomorphologie, deutsche („Heimat”) – außerdeutsche „Lande” in der politischen Geographie.

Besonders in der expandierenden Großstadt Wien werden Nachteile der Urbanisierung augenfällig, ist sie doch Wanderungsziel von Landfluchtmassen aus den Ländern der „Völker”. Besonders betroffen von der katastrophalen Wohn- und Lebenssituation in den Großstädten war die Arbeiterschaft. Deshalb verdankt die Jugendbewegung einen ersten stadtkritischen Liedertext dem „Arbeiterdichter” Hermann Claudius (vgl. Anhang 9): „Wann wir schreiten Seit an Seit und die alten Lieder singen, / fühlen wir: es muß gelingen. Mit uns zieht die neue Zeit”.

In diesem Mailied steht die Naturzuwendung im Vordergrund, nur nebenbei taucht Zivilisationskritik auf: „Birkengrün und Saatengrün, wie mit bittender Gebärde / hält die alte Mutter Erde uns die vollen Hände hin”. Zuvor jedoch wird in einer vierzeiligen Strophe die städtisch-industrielle Gegenwelt beschrieben: „Einer Woche Hammerschlag, einer Woche Häuserquadern / zittern noch in unsern Adern, aber keiner wagt zu hadern. / Herrlich lacht der Sonnentag”.

Allerdings wurde dieser Liedertext erst in den 20er Jahren von der Jugendbewegung vertont und verbreitet, wenn auch nur ausgewählte Strophen. Der Expressionismus hatte inzwischen auch in bürgerlichen Kreisen die Unmenschlichkeit der industriellen Arbeitswelt bekannt gemacht. In einem späteren Lied artikuliert Claudius die Lebensfeindlichkeit der Stadt daher noch deutlicher: „Wir haben die Sonne lieb! / Wollt uns nicht zwängen in Engen der steinernen Stadt. / Unsre Seelen würden sich an den Mauern matt sinnen und welk und alt.”

Mit „Seelen sinnen sich welk” meldet sich hier die Geistfraktion der Lebensideologen zu Wort: Nicht allein die physische Existenz ist bedroht („zittern” – „Adern”), sondern auch die psychische, das „Seelenleben”. Vergleichbar damit heißt es in einem Lied aus dem österreichischen „Kinderland” (Arbeiterbewegung mit direktem Bezug auf die Situation in Wien): „Wir kommen aus der dumpfen Stadt, die wenig Licht und Freude hat. / Wir wandern nicht zur Lust allein, wir wandern, um einst stark zu sein”.

Wandern wird schon ganz im Sinn des Prinzips „Mens sana in corpore sano” dem ungesunden Leben schwächenden Umfeld großstädtischer Slums als Naturheilmittel entgegengesetzt. Zusätzlich taucht ein neuer Aspekt der Jugendbewegung auf: gesellschaftsverändernder Aktionismus anstelle des ursprünglichen Eskapismus („stark sein” zur Tat). Schon auch beginnen Fremdenverkehr und Alpinismus derartige Motivationen der Wanderbewegung zu verstärken.

Die bürgerliche Jugendbewegung textet, noch unter Wandervogel-Einfluss, bis weit in die stadtfreundlicheren, neusachlichen 20er Jahre antistädtisches Ressentiment (vgl. Anhang 10): „Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld. / Wer bleibt, der mag versauern, wir fahren in die Welt”. Für die gesundheitsschädlichen Auswirkungen „grauer Städte” steht hier der jugendbewegte Neologismus „versauern”, eine Metapher, die aus dem Bereich der Lebensmittelhygiene entnommen ist: Milch kann sauer werden, auch Bier; besonders im zweiten Fall ist damit der Vorgang des Verderbens und der Ungenießbarkeit verknüpft. Im jugendbewegten Kontext bedeutet „versauern” soviel wie geistig und gesellschaftlich zu verkommen, unfähig zu werden, die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen.

9.8.2.8.2. Feld, Wald und Wiesen als Wanderraum

Der „deutsche Wald”

Zunächst ist es für die Berliner und Wiener Wandervögel der stadtnahe Erholungsraum, dem die ersten Ausflüge zu Fuß („wandern”) gelten: Grunewald bzw. Wienerwald und „Bucklige Welt”. „Wald” gilt seit der Romantik als mythisch beseelt (Märchen); er eignet sich daher besonders als Gegenentwurf zur entmythisierten, entzauberten Industriewelt. Eichendorffs Lied vom „deutschen Wald” gehört deshalb von Anfang an zum Repertoire des Wandervogel-Gesangs: „Wer hat dich, du schöner Wald / aufgebaut so hoch da droben? / ... frommer Sagen Aufenthalt / ... Was wir still gelobt im Wald, wollen's draußen ehrlich halten / Deutsch Panier, das rauschend wallt! Schirm dich Gott, du deutscher Wald!”

Das oben genannte Lied „Aus grauer Städte Mauern” (vgl. Anhang 10) wird von dieser kultischen Wald-Stimmung inspiriert: „Ein Heil dem deutschen Walde, zu dem wir uns gesellt ...” „Heil” und „heilig” sind Vokabeln, die in Verbindung mit „Wald” immer wieder auftauchen („Waldes-Dom” usw.). „Wald” wird mit dem Nimbus (Heiligenschein) des Metaphysischen versehen und der Waldmensch, Jäger und Holzknecht obendrein. In kaum einem Liederbuch fehlt der Abschnitt „Jägerlieder” mit etlichen Kanons. Der „élan vitale” der Lebensphilosophie verbindet sich im „Wald” mit der Dimension des Numinosen (Göttlichen) und tut sich kund im „Jagdgesang” und im „wilden und fröhlichen Hörnerklang”: Romantik und Vitalismus. Besonders von der österreichischen Jugendbewegung wird im Zug der Dialektlied-Pflege das privilegierte Leben der Holzknechte besungen, z.B. in folgenden Titeln: „Es war amal a Holzknecht so stolz ...”; „Mei Vat'r is a lustiger Holzknecht ...”; „Da Lahnsadler Holzknecht ...”

In der „heimlichen Wandervogelhymne”: „Wir wollen zu Land ausfahren” (vgl. Anhang 1) spielt der Erlebnisraum Wald eine Hauptrolle: „Dämpfet die Stimmen, die Schritte im Wald! / Dann seht und hört ihr manch Zaubergestalt, / die wallt mit uns durch die Nacht.”

Wie in der Kirche führt ehrfürchtiges Schweigen dazu, sich der Geisterwelt zu nähern und sich wandernd mit ihren Gestalten zu vereinen: Gnomen und Elfen werden zu Wanderkameraden. Unio mystica mit Natur und Naturgeist! Dass durch den Nationalsozialismus der „deutsche Wald” in Misskredit geraten ist, geht nicht auf das Konto der Jugendbewegung. Das NS-Regime ist es ja gewesen, das seinen jüdischstämmigen deutschen Mitbürgern verboten hat, dieses deutsche Nationalheiligtum „Wald” zu betreten.

Bewegungsraum Heide

Bei weitem weniger mit nationalen Traditionen und Ideologemen befrachtet ist ein weiterer Wanderraum der Wandervögel: die Heide. Auch sie weist lebensideologische Relevanz auf. Die Berliner Wandervögel finden in der näheren und weiteren Umgebung „Hasenheide” und „Lüneburger Heide”, die Wiener Wandervögel die Pußta Westungarns (Burgenland), die Salzburger das Anifer Moor als Erlebnisraum, über das zur gleichen Zeit Georg Trakl sein Moor-Wandergedicht schreibt: „Wanderer im schwarzen Wind ... / Ein Zug von wilden Vögeln folgt quere über finsteren Wassern ... ”. Zugvögel? Wandervögel? Wer weiß?

Schon in der Goethezeit stellt „Heide” eine metaphorisch besetzte Landschaftsform dar: „Röslein auf der Heiden”. Hier scheint die Heide als Ort erotischer Begegnung auf, was schon seit dem Mittelalter gilt: „Unter der linden an der heide, / da unser zweier bette was ...” (Walther v. d. Vogelweide). Wandervogel- und Heidepoet Hermann Löns benennt die Heide ebenfalls als erotischen Begegnungsraum. Erotik als Lebensfunktion im Sinne der Lebensphilosophie war für die pubertierenden Wandervögel erst in poetisch verschlüsselter Form akzeptabel. Die „Heubodenerotik” der Wiener Wandervögel (Arnolt Bronnen) stellt sich andernorts als „Heidekraut-Erotik” dar: „Auf der Lüneburger Heide in dem wunderschönen Land ... / Bester Schatz, du weißt es ja ... ” (Löns). „Wir wollen zu Land ausfahren über die Fluren weit” (vgl. Anhang 1) lautet ursprünglich: „über die Heiden weit”. Mit der Erweiterung des Wanderraums wird dann der Raumbegriff verallgemeinert.

Die Wandervögel eröffnen mit der Entdeckung der Heide einen touristischen Stadtfluchttrend, der noch und gerade heute derartige agrarwirtschaftlich extensiv genutzte Naturlandschaften (Schafweide) als Freizeitgelände, d.h. als freien Bewegungsraum nutzt, ohne Behinderung durch Zäune, Betretungsverbote und andere wirtschaftsbedingte Denaturierungs-Elemente. Die Heide wird zum Friedensparadies für Zivilisationsflüchtige: „Der Menschen Hassen, Neiden, das soviel Glück zerbricht, / kennt hier auf brauner Heiden den stillen Frieden nicht.”

Nach der Ablösung des Wandervogelgedankens durch das bündische Prinzip ab ca. 1920 verliert die Heide an paradigmatischer Bedeutung, aber ihre metaphorisch nutzbaren Landschaftselemente finden sich in Liedern von den Tundren Lapplands und den Steppen Russlands wieder.

Bewegungsraum Berg und Tal

Selbstredend ist für die österreichischen Wandervögel, besonders auch die Salzburger, die vertikale Landschaftskomponente oben – unten besonders wichtig. Früh verbinden sich in der alpinistischen Bewegung Wandervögel und Alpenverein, nicht selten als Personalunionen. Aber schon in Horants Wandervogelhymne von 1911 „Wir wollen zu Land ausfahren” wollen auch die norddeutschen Wandervögel „aufwärts zu den klaren Gipfeln der Einsamkeit”. Dort wollen sie „schauen, was hinter den Bergen haust und wie die Welt so weit” (was man bekanntlich nur von oben sehen kann). Solcher ‚Drang zum Höheren' ist durchaus symbolisch gemeint als jugendlicher Idealismus gegenüber einer profitorientierten Bürgerwelt. Unten: Menschengewimmel, urbaner Schmutz, niedrige Gesinnung – das Reich des Massenmenschen, oben: klare reine Luft der idealen Denkart in elitärer Gemeinschaft der erwählten Außenseiter. Diese lebensideologische Opposition übernimmt man vor allem von Nietzsche und seinen Epigonen, vor allem aus seinem „Zarathustra”, der von oben aus dem Licht hinabsteigt, um seine Schüler das wahre Leben zu lehren.

Bald wird gerne flussaufwärts gewandert im Gegensatz zu den Romantikern Schubert'scher Prägung, die „immer dem Wasser nach” gingen. Da greifen sich die Wandervögel Zitate Nietzsches aus dem textuellen Zusammenhang, wie sie diese eben brauchen können: „Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.” Beim Steigen und erst recht beim Klettern erfolgt also die lebensideologische Katharsis (Reinigung). Das Liederbuch der österreichischen AV-Jugend ist voll von entsprechenden Bezugsstellen: „Frisch auf, Berggefährten, der Morgen ergraut, / steigt hinauf in die sonnige Höh', / in die Welt, die so hoch über Wolken gebaut, / lasst im Tale Jammer und Weh ...!” Wer sich im alpinen Purgatorium derartig läutert, ist allem Niedrigen überlegen: „Wir sind die Fürsten dieser Welt / und die Herren in Fels und Eis!” Schließlich weitet dieses Lied dann den Blick vom Gipfel weiter empor ins Metaphysische: „Wir war'n die Fürsten dieser Welt / und wollen es droben auch sein. / Juvi valleri, juvivallera ...” Die Melodie zum Text entnimmt man dem Soldatenlied aus dem Ersten Weltkrieg: „Der mächtigste König im Luftrevier”, das in der bündischen Jugend viel gesungen wurde. Die textliche Nähe zur Alpinfassung ist kaum zu übersehen.

9.8.2.9. Heimat und Wanderbewegung

9.8.2.9.1. "Heimat" als reaktive Denkfigur

Die Jugendbewegung hat als Wanderbewegung begonnen und ist diesem Prinzip bis zum Schluss treu geblieben. Ihre episodischen Freizeitwanderungen erfolgen von der sicheren Bleibe eines etablierten Elterhauses aus (mit Ausnahme der Arbeiterjugend). Im Rhythmus von Ausfahrt und Abschied von der Heimat und Heimkehr zu ihr vollzieht sich die Bewältigung der großen Kulturkrise seit der Jahrhundertwende. In früheren agrarischen Gesellschaftskulturen war „Heimat” der bäuerliche Hof mit Grund und Boden, nicht mehr. Das Verlassen heimatlicher Geborgenheit bot in dieser Situation keinerlei Grund zur Freude. Wander- und Abschiedsklage im Lied waren die Folge. Die Wandervögel der Jahrhundertwende sehen dies völlig anders: Durch die „Fahrt” mit ihren „Gefahren” wollen sie „erfahrener” werden, auch moralisch geläutert. Heimat wird nun mit dem Verlust bäuerlicher Verhaltens-Paradigmen als Ort der Rückkehr/Erwartung mit Gefühls- und Erlebniswerten besetzt. Sentimentale Heimatlieder drücken die neue Befindlichkeit aus. Durch diese Um- und Aufwertung des Heimatbegriffs erfolgt auch bald seine Ideologisierung.

„Heimat- und Volkskultur” werden zu Fahnenwörtern der lebensideologischen Bewegungen. Über diesen neuen Heimatbegriff wird von Heimat- und Volkskundlern ausgiebig reflektiert, auch aus jugendbewegtem Milieu. Allerdings ergibt sich für die Wandervögel mit ihrer antibürgerlichen Bewegungstendenz hieraus ein gewisses Konfliktfeld. Für sie mussten Heimatkultur und Heimatlied erst ihre Tauglichkeit als Mitte der Krisenreaktion erweisen und gleichzeitig dem Echtheitsanspruch der Wandervögel entsprechen (Kitschverdacht). Dies bedeutet, dass sich die Jugendbewegung gegen die städtisch-bürgerlichen Gesangsvereinslieder zur Wehr setzt und die so genannte „Koschaterei” verpönt (nach Koschat, einem österreichischen Komponisten volkstümlicher Salonlieder). Diese Koschaterei wird nicht Liedern aus der Heimat vorgehalten, sondern solchen über sie, weil es ihnen an „innerer Wahrhaftigkeit” mangelt. Was man nach einem in Münchner Künstlerkreisen entstandenen Begriff als „Kitsch-Gesang” verurteilt, wird heute eher als „Schnulze” bezeichnet: Lieder von aufdringlicher, tränensatter Sentimentalität.

Dagegen setzen die Wandervögel das „echte” authentische Volkslied, auch wenn es von der Heimat singt: z.B. „Drunten im Unterland” (vgl. Anhang 12). In diesem Lied werden unsentimental, ja fröhlich-tänzerisch die Vorzüge der engeren Heimat einer eher lebensunfreundlichen Außenwelt gegenübergestellt (dem „Oberland”): „Trauben” hier – „Schlehen” dort, „gut's Blut” (Gefühl) hier – „dumm im Kopf” dort, „warm” hier – „kalt” dort (klimatisch und mental), „arm” (glückliche Armut) hier – „reich” (seelisches Defizit) dort, „froh, frei, treu” hier – „Herzen gar net weich” dort.

In der Fremde ist alles schlechter als daheim, auch sozial und moralisch. Man hat dann kurze Zeit später ein oberländisches Gegenlied geschaffen (von Silcher vertont), das die Verhältnisse umkehrt und das Lied in die Nähe der bürgerlichen Heimatkultur rückt. Dass in der österreichischen Jugendbewegung dieses zweite Lied bevorzugt wurde, geht auf die oberflächliche Identifizierung mit der Gebirgslandschaft als Oberland zurück und hat keine grundsätzliche Bedeutung.

Das vielleicht beliebteste Heimatlied der Jugendbewegung, 1840 aufgezeichnet vermutlich nach älterer Vorlage, weist schon in der Anfangszeile auf die exklusiven Vorzüge der Heimat hin (vgl. Anhang 13): „Kein schöner Land in dieser Zeit / als hier das unsre weit und breit ...”

Dass es je nach Herkunft des Dichters oder Singers unendlich viele solcher allerschönsten Länder gibt, stört die Benutzer des Liedes deshalb nicht, weil Heimat durch die jeweilige subjektive Befindlichkeit definiert ist. Das Lied findet sich meistens unter die „Abendlieder” eingereiht, wird also nicht bewusst als Heimatlied wahrgenommen; dabei kommt der Begriff „Heimat” (wenn auch nicht wörtlich) häufiger vor als „Abendzeit”. Man kann dadurch von Heimat singen, ohne in Kitschverdacht zu geraten. „Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit”.

Heimat ist hier noch die dörfliche Siedlung, in deren Mittelpunkt die Dorflinde als Kommunikationszentrum steht. Die ersten Wandervögel tanzten deshalb „um die Linde herum”, wie es im Lied vom „gelben Wagen” heißt: Ausdruck elementarer Lebensfreude! Unter der Linde kommen sie zur seltenen und kostbaren Begegnung der Geschlechter zusammen, durchaus in der dörflichen Tradition des winterlichen alpenländischen „Hoagascht” (Heimgast). Dabei kommt dem gemeinsamen Singen eine wichtige soziale Bindefunktion zu: „Da haben wir so manche Stund gesessen da in froher Rund / und taten singen, die Lieder klingen im Eichengrund.”

Der Linde, dem slawischen Symbolbaum, gesellt sich friedlich die Eiche zu, das germanisch-deutsche Wappensymbol: Völkische Ein- und Ausgrenzung ist in der vor- nationalen Welt dieses frühen Liedes unbekannt. Dazu passt auch der abschließende Gebetsanruf: „Gott mag es schenken, Gott mag es lenken, er hat die Gnad”. Luthers Gnadentheologie: Glaube als Vertrauen auf göttliche Gnade! Dem neuheidnisch- völkischen Heimatbegriff steht die christlich-dörfliche Heimat entgegen. Das Lied findet sich auffälligerweise nicht in „Wandervogels Singebuch” von 1918, das ansonsten „alles enthält, was Wandervögel singen”, dafür aber in sämtlichen Liederbüchern nach 1920, auch in denen der NS-Zeit (einschließlich der religiösen Strophen). Vielleicht deshalb, weil „Wandervogels Singebuch” vom „Vaterländischen Bund für Jugendwandern” herausgegeben ist. Wer weiß!

Der Heimatgedanke, auch in seiner ursprünglichen Form, passt mit seiner Rückzugsmentalität eigentlich nicht in den Bewegungsanspruch der Wandervögel. Andrerseits kann als Ziel der Stadtfluchtbewegung auch die dörfliche Idylle fungieren, ebenso wie der „deutsche Wald”, die Heide oder das Gebirge. Außerdem hat die Jugendpsychologie (Eduard Spranger) erkannt, dass im pubertären Loslösungskonflikt (der bis ans Ende des dritten Lebensjahrzehnts reichen kann) ein „Sicherungstrieb” wirksam ist, der aus dem Bedürfnis nach Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen erwächst. Vielleicht erklärt sich so das widersprüchliche Verhältnis der Jugendbewegung zu Vaganten- und Heimatliedern.

9.8.2.10. Jugendbewegung und Lebensreform

Wie die Heimatideologie so stellt auch die Lebensreform wie alle Reformbewegungen um 1900 eine Reaktion auf die allgemein empfundene Zivilisationskrise dar. Auch daran hat die Jugendbewegung ihren bedeutenden Anteil. Schon die Turnbewegung formulierte einen lebensreformerischen Anspruch: Frisch-Fromm-Fröhlich-Frei, die berühmten 4 F. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts taucht dann in diesem lebensideologischen Kontext der Begriff „Volksgesundheit” auf. Er wurde auch durch die verminderte körperliche Leistungsfähigkeit der Rekruten aus dem ungesunden großstädtischen Arbeitermilieu veranlasst, wie es ein berühmtes Lied der Arbeiter- Jugendbewegung formuliert (vgl. Anhang 9): „Einer Woche Hammerschlag, einer Woche Häuserquadern / zittern noch in unsern Adern, aber keiner wagt zu hadern ...”

Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Jugendlichkeit war offensichtlich. Sollte doch die in München gegründete Zeitschrift „Jugend” (von der sich der „Jugendstil” herleitet) zunächst den Titel „Leben” tragen. Das Turnerideal „frisch” bedeutet ja auch „jung”, „neu”, „unverbraucht” („frische Kraft”). So kommt die Jugendbewegung zur Lebensreform, gerade in Österreich verhältnismäßig früh. Alkohol- und Nikotinabstinenz stehen dabei im Vordergrund. In der Meißnerformel der „Freideutschen Jugend” von 1913 lautet dieser Anspruch dann: „Alle Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei”. Zum naturnahen „gesunden” Leben gehört auch die jugendbewegte Kleiderreform, besonders der Mädchen (luftiges weit fallendes „Eigenkleid”). Auch der nackte Körper (vgl. „Freikörper-Kultur”) genießt erhöhte Wertschätzung, poetisierend wird die Nacktheit mit „Lichtkleid” umschrieben. Allerdings werden im jugendbewegten Liedgut lebensreformerische Grundsätze niemals explizit erwähnt, es sei denn im Scherzlied-Kanon: „Zwiebeln sollst du essen, kalt dich waschen / und viel spazieren geh'n und kräftig lachen: / hahahahahaha ...”

Die alten Volkslieder hatten für derartige vitalistische Errungenschaften nicht viel übrig, sie tragen nichts bei zur allgemeinen Gesundheitserziehung. Dafür wird in „Neutöner- Liedern” das lebensideologische Schema von Krankheit („Krisis”) per Zivilisation und Heilung per Natur metaphorisch poetisiert und evoziert: da „flattert” und „weht” es – Luft, Sonne und alkoholfreier „Frohsinn” opponieren mit einer dunklen, dumpfen, engen, versauerten, griesgrämigen Gegenwelt. Da wird „ausgeschritten” („Wann wir schreiten Seit an Seit”), auch und gerade von den Mädchen im wallenden „Eigenkleid” mit hochgezogener Taillierung. „Licht”, „Luft” und „Sonne” werden zu unentbehrlichen Lebenselementen und -elixieren, gerade auch in der Arbeiter-Jugendbewegung; früh entsteht eine sozialistische FKK-Bewegung.

Dieses gesundheitsorientierte Programm findet vor allem in Frühlings- und Morgenliedern seinen angemessenen Ausdruck. Ein viel gesungenes Volkslied konnte im Sinn der Lebensreform uminterpretiert werden nach dem Prinzip: gleiche Wörter, verschiedene Begriffe: „Wenn alle Brünnlein fließen, dann muß man trinken ...” oder: „und wer das Brünnlein trinket, wird jung und nimmer alt”. Frisches Wasser als Jungbrunnen! Nicht zufällig nennt sich eine abstinenzlerische katholische Jugendbewegung „Quickborn”, was soviel wie „frischer Brunnen” bedeutet – dieser Name ist Programm. Das oben genannte Lied „Und in dem Schneegebirge” enthält ideologisch besetzbare Metaphern: Frühling („neu”) – Schneeschmelze („Sonne, Wärme”) – Quellgebirge – Gesundheitstrunk – Jungbrunnen. Dies bezieht sich freilich nur auf die ursprüngliche erste Strophe, die folgenden, später zugefügten, befassen sich mit einem ganz anderen Motiv – Abschied vom geliebten Mädchen, weil dies für die Volksliedsänger wichtiger war. Bis heute lebt solch lebensreformerischer Anspruch fort, verstärkt sogar, und wird in der ökologisch tendierenden Werbung kolportiert (z.B. Bier „aus reinem Quellwasser gebraut”).

Der spätbündische, zur Hitlerjugend konvertierte und zum hohen NS-Funktionär aufgestiegene Liedermacher Ernst Baumann („Es zittern die morschen Knochen ...”) tut sich lange nach der eigentlichen Wandervogelzeit mit Gesundheitsliedern hervor. Im Jugendliederbuch des ÖAV von ca. 1960 finden sich über 20 derartige Lieder Baumanns. „Volksgesundheit” war eben auch nach 1945 eines seiner bevorzugten Themen (vgl. Anhang 30), z.B.: „Und die Morgenfrühe ist unsere Zeit ... / und das Leben, das Leben, das wird sie uns bringen ...”

Das Naturszenario dieses Liedes Baumanns ist an dem berühmten Jugendstilgemälde „Lichtgebet” (Maler: Fidus) orientiert: der nackte Mensch im Gebirge, den Wind in den Haaren und die Sonnenstrahlen, welche „die Enge der Täler aufschließen” und sie zu Wanderwegen ins Weite machen. Auch ein metaphysisch-religiöser Anspruch fehlt nicht bei Baumann (er stammt aus der katholischen bündischen Jugend „Neudeutschland”): Der gesundheitsbewusste Mensch hat sein Gebet an die „Lerchen” delegiert, mit denen er sich in franziskanischer Brüderlichkeit eins fühlen darf. Die letzte Strophe seines Morgenlieds verrät die Hinwendung zu „Blut & Boden”: die Erde als „blanker Acker”, d.h. als unbebautes, aber bebaubares Land. Der „Weg zur Tat, den keiner uns vertreten wird”, weist durch den Reim hin zur „Saat”. Doch der eigene „Lebensraum” (Begriff des deutsch-völkischen Geographen Ratzel) reicht nach Baumann dazu nicht aus, „neue Lande soll'n wir uns gewinnen”. „Das Leben” – „neue Lande” – „Lebensraum” – so reimt sich dies auch nach 1945 noch zusammen.

Dieser vitalistische Geist des Wandervogels ist wie gezeigt auch nach 1920, also nach Beginn der bündischen Zeit, noch lange aktuell. Allerdings nimmt der Zeitgeist in den 20er Jahren eine etwas andere, offensivere Wendung.

9.8.2.11. Lieder der bündischen Zeit (ca. 1920-1933/38)

Die Geschichte kennt keinen abrupten Mentalitätenwechsel, nur evolutionäre Übergänge mit Überlagerungen und Überschneidungen. Um 1920 geht Altes zu Ende (wenn auch nicht völlig), und Neues beginnt (wenn auch nicht völlig). Der Wandervogel existiert weiter bis zum Ende der Jugendbewegung in den 1960er Jahren und mit ihm überleben seine Lieder. Aber mit der so genannten „bündischen Bewegung” prägt ein neuer Zeitgeist die Jugendbewegung. Man hat ihn gelegentlich als „Pfadfinderisierung” bezeichnet, obwohl die Scouts nur einen Teil der bündischen Gemeinschaften bilden. Die neuen Paradigmen (Lebensgrundsätze) sind von da an: Maskulinisierung (Männerbund), Tat- und Kampfgesinnung und neues Jugendreich. Dazu kommt eine allgemeine Veränderung des soziokulturellen Zeitgeistes von der Neuromantik zur Neu- Sachlichkeit. Diese Veränderungsprozesse können zum großen Teil anhand von Liedern dokumentiert werden.

9.8.2.12. Raumsemantik der "Bündischen" im Lied

Dass nun das romantisierende „Wandern” mehr und mehr durch die sachliche „Fahrt” ersetzt wird, ist von grundsätzlicher Bedeutung: Eine Fahrt setzt sich ferne Ziele; sie muss daher „technisch” vorbereitet werden. Ihr Wagnis, ja Abenteuer, stellt andere Anforderungen an Körper und Psyche als ein Dahinwandern „ins Blaue”. Dazu kommt als neuer jugendbewegter Brauch das Aufbauen und Bewohnen von „Lagern” mit eigener „Lagertechnik”. Dies ist die ureigenste Domäne der britisch-militärisch geprägten Scouts, die in Deutschland und Österreich allerdings eine spezifische jugendbewegt-bündische Prägung erfahren. In einem der bekanntesten Jungenschaftslieder singt man (vgl. Anhang 31): „Wenn die bunten Fahnen wehen ...Woll'n wir ferne Lande sehen, fällt der Abschied uns nicht schwer”.

Über See, auf die Gipfel, über die Steppe geht die Fahrt: „Seefahrt” – „Bergfahrt” – „Kletterfahrt” usw. Dieses neue Fahrtenideal kann auch die Folge einer kriegsbedingten Vermännlichung (Maskulinisierung) sein, obwohl schon die Turner einen ähnlichen Fahrtbegriff gekannt haben: „Fahrt” reimt sich auf „hart”. Man trennt sich deshalb von den Mädchen, bildet männerbündische Gemeinschaften und löst so die „Mädchenfrage” der meist koedukativen Wandervögel. Die ausgeschlossenen Mädchen schließen sich ihrerseits zu eigenen Bünden zusammen, in denen im Gegensatz zur männlichen Jugendbewegung nach wie vor Volkslied und Volkstanz gepflegt werden.

9.8.2.12.1. Bergfahrten-Lieder

„Fahrt” und „Gefahr” sind nicht nur etymologisch verwandt. Gefahren erfordern zu ihrer Bewältigung Tatkraft und Mut. Ganz anders war die Stadtflucht der Wandervögel motiviert, jetzt gilt die tatbestimmte „Eroberung” etwa der Gipfel (vgl. Anhang 31): „Wo die blauen Gipfel ragen, lockt so mancher steile Pfad. / Immer vorwärts ohne Zagen, bald sind wir dem Ziel genaht!”

Zur alpinistischen „Fahrt” gehören Mut und Tatendrang, nicht aber das „läppische Tandaradei” und „Gitarrengezirpe” der Wandervögel (vor allem der weiblichen), wie es ein Funktionär des ÖAV ausgedrückt hat. Am Ende des oben genannten Liedes werden allerdings die „wilden Wandervögel” (nur sie) einbezogen ins bündische Milieu, eine Folge der 1926 stattgefundenen Vereinigung der meisten Wandervogelgruppen mit den Bündischen (z.B. den Pfadfindern) zur „Deutschen Freischar”.

Eines der bis heute meistgesungenen Bergsteiger-Lieder trägt die signifikanten Merkmale der neuen Jugend-Mentalität: „Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen” (vgl. Anhang 14). Es enthält „verdichtet” das neusachliche Lebensprogramm, besonders in den ersten beiden Strophen und in der letzten. „Schwindelnde Höhen” müssen „erklommen” werden, um das Tatenziel „Gipfelkreuz” zu erlangen. Aus der Neuromantik entnimmt man noch „brennende Sehnsucht” und Ruhelosigkeitund das Vagabundenideal des Wandervogels, das sich so gar nicht mit der ehrgeizigen Zielstrebigkeit des Kletterers verbinden will. „Romantisch und sachlich zugleich ist diese (moderne) Jugend”, hat der Münchner Kletterphilosoph Leo Maduschka um 1930 formuliert (in seiner Schrift „Junger Mensch im Gebirge”). Neue „sachliche” Technik ersetzt die saloppe Wanderausrüstung der Wandervögel („Räuberzivil”): „Mit Seil und Haken, alles zu wagen, hängen wir mitten in der Wand ...”

Die letzte Strophe fokussiert dann endgültig den neuen bündischen Geist: „Wir kommen wieder, denn wir sind Brüder, / Brüder auf Leben und Tod ”, denn: „Bergvagabunden sind treu, ja treu ...”. Nun ist „Treue” nicht gerade eine bevorzugte Charaktereigenschaft von „Vagabunden”, umso mehr jedoch die von „Kameraden” im bündischen Sinn, weshalb die Singer dieses Liedes nicht selten den Text entsprechend abändern: „Bergkameraden sind treu.” Kein Wunder! Ist doch „Kameradschaft” ein wichtiges Fahnenwort bündischer Mentalität. Schließlich ist in einer früheren Strophe vom kameradschaftlichen Gipfelhandschlag die Rede (der „Gipfelkuss” passt weder ins metrische, noch ins männerbündische Konzept). Bergkameradschaft ist dem bündischen Menschen nicht nur vordergründige Zweckbindung, sondern Selbstzweck. Sozusagen: Weil wir „Brüder” sind, deshalb gehen wir in die Berge, allein würden wir es bleiben lassen – ein Erbe jugendbewegter Mentalität.

9.8.2.12.2. Seefahrten-Lieder

Das Meer ist wie das Hochgebirge für die neusachliche bündische Jugend von hohem lebensideologischem Symbolwert: es stürmt, braust, wogt, schäumt – romantisch wie bei Heine „im letzten Abendscheine erglänzt” es nie. Eine derartige Inszenierung maritimer Vitalität findet sich in einem der beliebtesten Lieder der bündischen Jungenschaft: „Wir lieben die Stürme” (vgl. Anhang 15). Zum maskulinen Paradigma kommt hier pubertär-trotzige Selbstbehauptung: „... und dennoch sank unsre Fahne nich”. Auch dies ist ein Leitmotiv der neuen Generation und auch der Wagemut bis zum Übermut: „Wir fürchten nicht Tod und den Teufel dazu ... / am Grunde des Meeres erst finden wir Ruh”. Bis zur Todesverachtung kann sie gehen, die kämpferische männliche Tat. Der heroisch-sinnlose Opfertod der SS-Panzerdivision „Hitlerjugend” lässt sich durchaus im Zusammenhang mit dieser Mentalität interpretieren.

Und dann der Refrain dieses Jugendbewegungs-Schlagers: „Hajo, hajo, hajohajohajoho hajohajohohajo – hei! hei! hei!!” Diese Stelle wird aus rauen Männerkehl irgend möglich im Chor gebrüllt, besonders das dreifache „Hei” zwischen den Wiederholungen. Heruntergekommener Expressionismus? Immerhin waren rhythmische Sprechchöre ein verbreitetes Mittel bündischen „Ausdrucks”: Der Schrei als Befreiung. Die Vertreter der „Jugendmusikbewegung”, Musikpädagogen zumeist, nennen dieses pubertäre Geschrei „Radaugebrüll” und stellen ihm das kultivierte Volkslied gegenüber, nicht wissend, dass ein jugendlicher Loslösungskonflikt (auch mancher Mädchen übrigens) des selbst erlösenden Schreies bedarf.

Darwinistische Lebensmetaphern sind auch „Wind” und „Sturm”, die zur See gehören (vgl. Anhang 32): „Wir sind durch Deutschland gefahren / vom Meer bis zum Alpenschnee. / Wir haben noch Wind in den Haaren, / den Wind von den Bergen und Seen”. Das Jugendliederbuch des ÖAV aus den 1950er Jahren ersetzt aus Gründen des politischen Zeitgeistes „Deutschland” durch „in die Welt”, nur dass diese Welt nicht zwischen „Meer” und „Alpenschnee” begrenzt ist; die Umdichtung zerstört den raumsemantischen Kontext des Liedes, das übrigens von Arbeiter-Texter Walter Gättke stammt. Wind wühlt in den Haaren und bläst die Augen blank, in ihnen ist „das Leuchten der Sterne”. Der Wind als befreundetes Element: „Wenn man den Wind gegen sich hat, so ist dies nur ein Grund, umso stärker auszuschreiten” – ähnliche Devisen finden in Liedform weite Verbreitung in der bündischen Jugendszene. Deshalb „liebt man die Stürme”, deshalb singt man „mit dem Sturm unser Lied”. Sicher haben die vielen literarisch Gebildeten unter den Bündischen, die Lehrer mit den so genannten „Wandervogelfächern” Deutsch-Geschichte-Erdkunde, sich an den „Sturm & Drang”, die frühere Jugendbewegung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, erinnert und an Goethes „Wanderers Sturmlied”; allerdings kommt jetzt, 150 Jahre später, die vitalistisch-darwinistische Komponente hinzu.

9.8.2.12.3. Steppen- und Kosakenlieder

Der österreichische Jugendbewegte Fritz Molden (katholischer „Bund Neuland”) berichtet von einem Donkosaken-Konzert 1943 in Wien. Dort hatten sich einige Tausend Wiener illegale Bündische getroffen, um ihre Resistenz gegen die völkische Kulturdiktatur des Nationalsozialismus zu demonstrieren. Etliche von ihnen, darunter auch Molden, wurden danach von der Gestapo wegen „bündischer Umtriebe” inhaftiert. Ein NS-Gesetz dieses Namens ordnete bei Strafe an, dass bestimmte Lieder nicht mehr gesungen werden dürfen. Der Oberstaatsanwalt von Köln verfügte daraufhin, dass „Steppenlieder, asiatisches Volks- und Heldentum verherrlichend”, zu verbieten seien. Dies hatte seinen Grund, denn um 1930 entdeckt die „deutsche Jungenschaft 1.11.” unter ihrem Kult-Führer „Tusk” die abenteuerliche Freiheitswelt von Nomaden und Kosaken. Statt Wald und Heide werden nun Steppe und Tundra zu bevorzugten Erlebnisräumen, und sei es per Lied. Wie schon die Wandervögel bringen auch die Bündischen Liedgut der Gastvölker mit nach Hause und singen es in Übersetzungen – daher die oft holprige Sprache (vgl. Anhang 16): „Die Steppe zittert, und es trommeln harte Hufe (auch: klopfen harte Hufe) / auf schnellen Pferden naht ein Reiterheer. / Es knallen Peitschen und es gellen ihre Rufe / vom Kuban bis zum schwarzen Meer. / Die harte Faust umspannt die kurze Lanze, / zum Stoß bereit, denn zahlreich sind der Feinde Scharen ... / Hejo hejohejo ho – wir sind Kosaken vom Don, heij”.

Diese Lieder bieten Freiraum, Bewegung und Kampf, wichtige Verhaltenselemente der Spätbündischen. Besonders spielt die musikalische Seite, die Rhythmik, bei dieser Wirkung auf die Jugendlichen eine große Rolle. Für den Galopp-Rhythmus bedarf es einer eigenen Gitarren-Schlagtechnik (Fingerknöchel), getrommelt wird mit den Fingern auf der Decke des Instruments oder auf seinem Boden. Dem lebensideologischen Jugend-Zeitgeist entspricht zudem die „undeutsche” Synkopierung am Taktanfang, wie sie auch für den Czardas typisch ist (im oben genannten Bergvagabunden-Lied taucht sie wieder auf). Eine weitere Dynamisierung stellt das reichlich eingesetzte Stilmittel der Temporückung dar: Accelerando und Rallentando in rascher Folge. Die Jugendlichen lassen sich mitreißen, wie es später nur noch Jazz- und Rock-Musik vermögen, zum Missfallen der Altvorderen, deren Erziehungsziel auf Bewahrung der Contenance ausgerichtet war.

Auch inhaltlich zeigt sich „undeutscher” Geist: Anstelle von soldatischen Helden der deutschen Geschichte besingt man den Kosaken-Hetman (Hetman = Oberhaupt der Kosaken) „Platoff”: „Heil dem Sieger, Preis und Ehr / dem russischen Kosakenheer ...”. Auch dieses Lied ist musikalisch inszeniert mit wilder Tempobeschleunigung und scharfer Verlangsamung. Dazu kommt die heftige Betonung der geraden Takte im 2/4- Takt, ähnlich dem Blues-Rhythmus, nur schneller. Dazu wird in die Hände geklatscht, ganz langsam zuerst, dann zu rasendem Tempo beschleunigend, bis das Lied mit einem geschrieenen „Hej” endet.

9.8.2.13. Die bündische Gemeinschaftsidee im Lied

Mit dem lebensideologischen Fahnenwort „organisch”, d.h. „naturwüchsig”, entsteht die Vorstellung von einer natürlich gewachsenen wie eine Sippschaft verschworenen Gemeinschaft. Daher die bündischen Gruppeneinheiten „Sippe” und „Stamm”, die im „Bund” verwachsen sind. Die katholischen Pfadfinder Österreichs nennen sich nicht zufällig „Pfadfinderkorps”: Die militärische Einheit „Korps” leitet sich vom französischen „corps” = Körper ab; der organologische Kontext ist unübersehbar. Die größte österreichische Jugendorganisation nennt sich „Bund Neuland” und orientiert sich damit bewusst an der bündischen Idee. In einem derartigen bündischen Organismus beruhen die sozialen Bindungen überwiegend auf Affekten, die Abgrenzung gegen die andersartige gesellschaftliche Außenwelt erfolgt nicht selten über Ressentiments und stereotype Vorurteile. Andrerseits sind Jugendbünde nun einmal keine natürlich gewachsenen Einheiten, sondern rational geschaffene Artefakte, also künstlich konstruierte Gesellschaften, deren Gründungs-Events bewusst tradiert und feiernd erinnert werden. Der Bund wird damit zur gesellschaftlich-gemeinschaftlichen Mischform, wenn auch mit der Entwicklungstendenz zur neusachlichen Zweckgemeinschaft (z.B. Sportbünde oder politische Jugendbünde).

Die bündische Idee stammt nicht genuin aus der Jugendbewegung, wurde von ihr aber am konsequentesten verwirklicht. Am Vorgang der so genannten „Bündigung” nimmt auch die Arbeiterjugend teil. Aus einer ursprünglichen politischen Zweckgemeinschaft wir unter dem Einfluss der Jugendbewegung eine Werte-, ja Wesensgemeinschaft. Dies zeigen viele Liedertitel der Arbeiterjugend: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit ...”, „Brüder in eins nun die Hände ...”, „Brüder seht, die rote Fahne weht ...”, „Brüder, wir stehen geschlossen auf Leben und Tod ...”, „Lasst uns wie Brüder treu zusammenstehen ...”.

„Brüderlichkeit” wird aus der Französischen Revolution („fraternité”) nicht nur von der Arbeiterjugend ins bündische Milieu übertragen. Im Pfadfindergesetz heißt es z.B.: „Der Pfadfinder ist ... Bruder aller Pfadfinder”. Etliche Lieder thematisieren die bündische Brüderlichkeit: „Brüder links und rechts zur Seite, Arm in Arm und Herz an Herz ...” oder „Brüder in den Zelten schlaft nur immerzu, Wachen im Feuerkreise schützen eure Ruh ...” oder aus einem bekannten Volkslied „Nun Brüder eine gute Nacht” und viele andere. Zwar reicht die metaphorische Sprachverwendung von „Bruder” weit in die Geschichte zurück (vgl. etwa die Bibel), aber Häufung und Intensität des Begriffs sind typisch für die bündische Zeit. Dass auch Freundschaft und Kameradschaft im bündischen Kontext eine große Rolle spielen, versteht sich, jedoch stellt Brüderlichkeit die engst mögliche menschliche Bindung dar.

9.8.2.13.1. Der "Bund" als Wesensgemeinschaft

Nachweislichen Einfluss auf die „Bündigung” der Jugendbewegung hat einer ihrer Kult- Poeten ausgeübt: Stefan George mit seinem „Jünger-Kreis”: „Wer je die flamme umschritt, bleibe der flamme trabant ... / Nur wenn sein blick sie verlor, treibt er zerstiebend ins all ...”. Trotz seiner Beliebtheit wurde dieser Text nie von der Jugendbewegung vertont (im Gegensatz zu anderen Gedichten Georges), vermutlich, weil er zu elitär-esoterisch war (vgl. auch die typische Kleinschreibung). Gedichte seiner Jünger Gundolf oder Wolfskehl wurden in den 30er Jahren melodisiert.

Der Feuerkreis wird für die Jugendbewegten neuen Typs Bild und Sinnbild bündischen Lebens. Stets evoziert die Feuer-Metaphorik Bindung und Abhängigkeit. Dafür steht die Vokabel „Treue”. Viele Feuerlieder der Jugendbewegung besingen dieses verschworene Treusein. Ein Feuerkreis umschließt nur wenig Raum, in dem nur Wenige Platz finden, z.B. der „Singkreis”, der „Freundeskreis”, die „Sippe”. Alle Mitglieder des Kreises sind durch körperlich-sinnliche Nähe verbundene „Trabanten”, d.h. Abhängige. Nur innerhalb des Feuerscheins sieht man sich, hört man sich singen und sprechen und kann sich bei den Händen fassen (auch in feierlicher Armüberkreuzung). Der Bund als Wesensgemeinschaft geht vom Feuer aus; am Lagerfeuer legen bündische Jungenschaftler und Pfadfinder ihr „Versprechen” ab, treu zur Gemeinschaft zu stehen. Das Lagerfeuer stiftet Licht, Wärme, Bewegung im Spiel der Flamme und des Funkenflugs. Jenseits des Feuerkreises herrscht Dunkelheit. Wer sich allein, d.h. bindungslos hinauswagt, ist verloren: „er treibt zerstiebend ins all” (George).

Solche Feuerlieder häufen sich um 1930 mit der radikal-bündischen Jungenschafts- Bewegung. Aus ihrem „Kreis” stammt das Lied von den „drei wilden Knaben” (vgl. Anhang 33). Das gewohnte Lagerfeuer-Szenario eröffnet es: „Drei wilde Knaben halten am Feuer Wacht” und zwar gegen „die Nacht, so schwarz und ungeheuer ...”

Symbol kleinster Geschlossenheit sind „Drei”. Jedem der Drei ist eine symbolische Funktion am Feuer zugeordnet: einer „singt”, einer „schaut” (vgl. „Wesensschau”), einer „schweigt”. Dem Schweigenden wird eine eigene Strophe gewidmet, er ist der charismatische Führer: „Und der, der schwieg, der schuf den Bund, / dem waren viel verfallen, / die Jungen draußen in der Rund / als Freunde und Vasallen”.

„Vasallen” korrespondiert mit dem George'schen „Trabant”. Aber der Textverfasser (Tusk/Köbel–1932, der Gründer der „deutschen Jungenschaft 1.11.”) deutet mit dem pejorativen (verschlechternden) Konnotat „verfallen” an, dass eine derart totale Vergemeinschaftung die Gefahr in sich trägt, sich einem gewissenlosen charismatischen „Rattenfänger” kritiklos auszuliefern und in Treue anzuhängen. Tusk fasst hier die 1932 drohende Gefahr einer totalitären Vereinnahmung zum ersten Mal in Lied-Worte.

Ein ähnliches jungenschaftliches Feuer-Gemeinschaftslied liefert weitere Verdeutlichungen der bündischen Mentalität: „Wenn das Feuer hell und heiß lodert auf in Flammen, / schließen wir in unserm Kreis fester uns zusammen. / Und es findet bei dem Brand sich in dieser Stunde / Freundeshand zu Freundeshand, Band zum größern Bunde.” Unverkennbar ist die Nähe zur Metaphernwelt Georges, aber hier weitet sich die elitäre Kleingruppe „zum größern Bunde”. Auch diese erweiterte „Bündigung” ist total: „Keiner kann für sich allein in der Welt bestehen, / jeder muss durch Lust und Pein mit den andern gehen”. Der George'sche Optativ „bleibe ... Trabant” wird hier durch ein schicksalhaftes „Müssen” ersetzt, das nicht nur eine Notgemeinschaft darstellt („Pein”) sondern auch gemeinschaftlichem Hedonismus („Lust”) dient.

Solche Verabsolutierung der bündischen Idee ist unübersehbar in einer Zeit, in der kollektives und autoritäres Bewusstsein sich auf dem Höhepunkt befinden. Als nach 1945 eine Restauration der bündischen Mentalität erfolgt, erinnert man sich an die bündische Widerstandsgemeinschaft gegen den Nationalsozialismus, dem man vor allem die Zerstörung der Bünde übel genommen hat: „Uns hat umschlossen ein heiliger Ring, / der uns mit bannender Macht umfing. / Uns hat ein Feuer zusammengeschweißt, / dass auch der Tod diesen Ring nicht zerreißt”.

Bezeichnend an diesem Liedertext von ca. 1950 ist die Vergangenheitsform (Präteritum). Bündische Absolutheit erscheint in der Retrospektive. Allerdings reicht die „bannende Macht” des Feuers für die „Zusammengeschweißten” ein Leben lang, ja sogar über den Tod hinaus.

Unauflöslichkeit und magisch bannende Kraft gegen Dämonen sind Grundelemente einer „Wesensgemeinschaft”. Gegen den NS-Führerkult wird in diesem Lied aus der christlichen Jugendbewegung noch einmal die Treuebindung Christus, den König (vgl. Lehensherr-Vasall) beteuert. Die Schutzfunktion des Feuers („Bann” = zwingende Gewalt wie in ‚Bannkreis' oder „Bannwald”), aus uralter Zeit überliefert, gehört mit zum substantiellen Mentalitätsbestand der Jugendbewegung: „Jungen im Feuerkreise haltet gute Wacht ... / Wachen im Feuerkreise schützen eure Ruh. / Kamerad, nun ruhe ...”

Das berühmte Feuerlied „Flamme empor” aus den Befreiungskriegen, ist „von den Gebirgen am Rheine” aus gegen Frankreich gerichtet (vgl. Anhang 24): „Auf allen Höh'n leuchte, du flammendes Zeichen, / dass alle Feinde erbleichen, / wenn sie dich seh'n!” Dass dieses Lied, von der Jugendbewegung überliefert, noch heute bei Sonnwendfeiern gesungen wird, wenn auch nicht mit der zitierten Strophe, hat mit der faszinierenden Gewalt des gemeinschaftlichen Feuers zu tun.

9.8.2.13.2. Der bündische Treuebegriff im Lied

Natürlich war das Volkslied „Wenn alle untreu werden” (vgl. Anhang 17), dem der Wandervogel-Komponist Walter Hensel zu Beginn der 20er Jahre die Melodie des Wilhelmusliedes unterlegte, bei den Jugendbewegten in aller Munde. Der Text stammt vom Poeten der „Befreiungskriege” 1814, Max von Schenkendorf. Dieses Lied ist in den meisten Jugend-Liederbüchern der 20er/30er Jahre vertreten, wenn auch nicht im Liederbuch der Arbeiterjugend (mit dem „heiligen deutschen Reich” hatten sie es weniger). Als das Lied nach 1945 in Verruf gerät, weil es gegen Ende des Krieges als offiziöse Hymne der SS fungierte, druckt es nur noch das Liederbuch der bayerischen katholischen Jugend von 1947 ab; dabei konnte es sogar als subversives Widerstandslied aufgefasst werden: „Ihr Sterne seid uns Zeugen, die ruhig niederschaun, / wenn alle Brüder schweigen und falschen Götzen traun. / Wir wolln das Wort nicht brechen, nicht Buben (Ehrlose) werden gleich ...”

Der erste Satz dieses Liedes verbindet zwei substantielle Begriffe: „Treue” und „Fähnlein”, wobei letzteres eine Einheit der Landsknechtsheere meint (vgl. Jungvolk- Fähnlein der Hitlerjugend) und damit eine bündische Größe darstellt. Dazu gesellen sich weitere Schlüsselwörter der Jugendbewegung: „Männertugend” und „Liebestod”. Das mittelalterliche Gefolgschaftssystem, das für die Neupfadfinder der 20er Jahre als Modell dient und nicht nur für sie, beruhte auf dem Begriff der „triuwe”, was ursprünglich „Vertragstreue” bedeutet, ohne lebensideologische Überhöhung. Für die Jugendbewegung bedeutet Treue: „das Wort nicht brechen”. Dies ist Vertragstreue in unmittelbarem Bezug zum militärischen Fahneneid. Für die Waffen-SS erfolgt der „Liebestod” aus blinder Hingabe an den Führer Hitler und gewann gegen Ende des Krieges, als immer mehr „Defätisten” am Endsieg zweifelten, eine pseudoreligiöse Dimension. Die fälschlich klitternde Identifizierung von „Heiligem Römischem Reich” und „Drittem Reich” gehört mit zur typischen Umwertung eines Liedes durch den Singgebrauch.

Dieses besagte Treuelied stammt aus der Zeit der Befreiungskriege. Aus der gleichen Zeit ist das oben zitierte Feuerlied „Flamme empor” überliefert (1814), das auch wegen des Treuemotivs in der Jugendbewegung weit verbreitet war (vgl. Anhang 24): „Siehe, wir steh'n treu im geweihten Kreise, / dich zu des Vaterlands Preise brennen zu seh'n!”

Das Liederbuch der österreichischen Alpenvereinsjugend von ca. 1960 ersetzt „geweiht” durch „brüderlich”, vielleicht aus zwei Gründen: Einmal wollte man den bündischen Charakter des Liedes betonen, zum anderen wollte man möglicherweise dem Treuebegriff seinen religiösen Nimbus nehmen. Die meisten Treuelieder aus der Zeit der Befreiungskriege stellen nämlich „Treue” in einen religiösen Kontext und werden in manchen Liederbüchern deshalb unter „Geistliche Lieder” eingereiht. Besonders ist es der Treueschwur (Fahneneid), der vor Gott als Schwurzeuge abgelegt wird.

Treuebruch wird in der Jugendbewegung zu dem Zeitpunkt aktuell, als der Nationalsozialismus die Bünde aufgelöst bzw. „gleichgeschaltet” hat. Nun musste sich erweisen, wer in Treue zum Bund stand (auch in subversiver Resistenz) oder wer als „lapsus” (Begriff aus der frühchristlichen Verfolgungszeit) bzw. als Kollaborateur sich der „Fahnenflucht” schuldig machte. Nun häufen sich (ab 1933 in Deutschland, ab 1938 in Österreich) Liedkreationen, welche die Untreue der Gefolgschaft beklagen, z.B. „Verlorene Reiter”: „Sie haben uns verraten, die mit uns wollten sein. / Ihr lieben Kameraden, wir sind nun ganz allein!” Dieser Text des Dichters Manfred Hausmann, selbst begeisterter Jugendbewegter, zeigt, wie die bündische Gemeinschaft durch Untreue ihrer Mitglieder existentiell bedroht wird („ganz allein”). Im handschriftlich überlieferten Lied Willi Grafs vom Widerstandskreis „Weiße Rose” (Archiv „Weiße Rose” Uni-München) wird solche „Fahnenflucht” mit expressionistischer Sprachverwendung beklagt: „blut leuchtet grell, blitze zucken hell, / schrei durchbebt den Ort, manche laufen fort / von der fahne.

Die „Fahne” symbolisiert für die Jugendbewegung vor allem eines: den Mittelpunkt, um den sich bündische Notgemeinschaft schart – daher die vielen Fahnenlieder der bündischen Jugend, was natürlich von der nationalsozialistischen Propaganda instrumentalisiert werden konnte, besonders gegenüber Jugendlichen: „Unsre Fahne flattert uns voran. / In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann. / Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not / mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot ... / Unsre Fahne ist die neue Zeit, / und die Fahne führt uns in die Ewigkeit! / Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!”

Dieser Liedtext, von „Reichsjugendführer” Baldur v. Schirach persönlich verfasst, stammt aus dem HJ-Werbefilm „Hitlerjunge Quex” (1934), in dem ein Junge von der Arbeiterjugend weg zur Hitlerjugend angeworben wird. Das Lied lässt deutlich erkennen, wie die „Hülsenfunktion” bündischer Mentalität politisch benutzt werden konnte.

Aber auch die Jugendresistenz gegen das NS-System und seine totalitäre Repression konnte sich der Fahne als Widerstandssymbol bedienen: „Weißt du, warum du mit uns gehst / auf den Weg voll Müh' und Gefahr, / warum du mit uns am Feuer stehst, / wenn Sturmwind zerzaust unser Haar? / Siehst du, wie vor uns die Fahne zieht, / unser Leben verschworen ihr bleibt!”

Dieses Lied aus den Kreisen der „deutschen Jungenschaft” (d.j. 1.11.), die eine illegale Widerstandsgemeinschaft bildete, korrespondiert mit ähnlichen Liedern aus dem Milieu der halblegalen bzw. illegalen christlichen Jugendbewegung (in Deutschland ab 1933, in Österreich ab 1938). Eines dieser Lieder im Liederbuch des „Katholischen Jugendwerks Österreichs” („Singende Jugend” – 1948 im O. Müller-Verlag Salzburg) erinnert an diese Treue im Widerstehen: „Auf bleibet treu und haltet fest, so wird euch mehr gelingen! ... / Auf bleibet treu und haltet aus, wie Lug und Trug auch schnauben! ... / Wer ganz die Seele dreingesetzt, dem soll die Krone werden!”

Dieses Lied wurde wie das von Schenkendorf/Novalis („Wenn alle untreu ...”) in der Zeit der Befreiungskriege verfasst. Wie dort so wird auch hier Treue ins Metaphysische erhöht (Teilhabe an der „Krone”, d.h. der Herrschaft Christi); allerdings winkt auch irdischer Lohn („wird mehr gelingen”). Voraussetzung dafür ist allerdings, dass „die Seele ganz dreingesetzt” wird. Als Lied vertont wird freilich dieses Gedicht erst 1933 von Adolf Lohmann, dem Chefkompositeur der deutschen und österreichischen katholischen Jugend, und zwar in „moderner” Intonation. Man hat sich also politisch unverfängliche Texte (Befreiungskrieg gegen Napoleon) gesucht und sie in subversiver Absicht singbar, d.h. benutzbar gemacht. Je nach Singsituation erhielten die Worte („Hülsen”) ihren widerständischen Sinn, ohne dass dies nachgewiesen werden konnte. Die Tatsache, dass eine lebensanschauliche „Hülse” mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Inhalten gefüllt werden konnte, führte zur vorzüglichen Eignung des „Treue”-Begriffs (Sekundärtugend) als Widerstandsmedium.

Die Arbeiter-Jugendbewegung hatte sich zuvor keineswegs mit der „Bünde buntem Heer” solidarisiert. Zwar waren bürgerliche Paradigmen besonders in der sozialdemokratischen Jugendbewegung im großen Umfang rezipiert worden, organisatorische Realität im Sinn einer Union wurde daraus jedoch nicht. Nun kommt es immer wieder zur bündischen Widerstands-Kooperation.

Der Treuebegriff im sozialistischen Milieu, soweit er sich in Liedertexten niederschlägt, hat im Wesentlichen zwei Komponenten. Am häufigsten artikuliert wird die Fahnentreue bis zum Tod. In der Jugendbewegung ist bei „Treue bis zum Tod” die lebenslange Treueverpflichtung gemeint, also über die eigentliche Jugendzeit hinaus. Der Treuebegriff des revolutionären Klassenkämpfers meint aber Treue um den Preis des Todes, also nicht nur Treue bis (temporal) zum Tod, sondern in den Tod, ein Unterschied, der den Grenzfall der Arbeiterjugend als „Jugendbewegung” betrifft. Viel früher als die bürgerlichen Jugendlichen, die in den Wäldern herumwanderten und romantisch am Lagerfeuer sangen, hatten die jungen Arbeiter am politischen Kampf um soziale Rechte teilgenommen (ab ca. 1905). Während die Bürgerjugend zunächst gegen das Establishment rebellierte – ein Generationenkonflikt als Kulturbewegung – befanden sich die jungen Arbeiter in intergenerationeller Gemeinschaft mit der Arbeiterklasse. Deshalb der frühe Ernst, mit dem sie als erste die politische Tat wollten, im Gegensatz zum agonalen, d.h. spielerischen Ziel einer Selbsterlösung in der bürgerlichen Jugendbewegung.

Der Fahneneid mit dem Versprechen, das eigene Leben für die gemeinsame Sache einzusetzen, wird in der bürgerlichen Jugendbewegung kaum oder gar nicht thematisiert. Das „Pfadfinderversprechen” fordert ja keineswegs eine totale Treueverpflichtung (deshalb heißt es „Versprechen” und nicht „Eid” oder „Schwur”). Anders die militärisch-revolutionäre Gefolgschaftstreue (zur Sache, nicht zur Person) in manchen Liedern der Arbeiterjugend, wie sie das „österreichische Kampflied” (vor 1882 entstanden) „Die rote Fahne” einfordert:

„Stolz weht die Fahne purpurrot im Kampfe uns voran,
 ihr folgen wir bis in den Tod getreu, ob Weib und Mann ... 
 Ihr wolln wir treu ergeben sein, getreu bis in den Tod,
 ihr wolln wir unser Leben weihn, der Fahne purpurrot.

Und wenn im wilden Kampf und Sturm uns führt die Fahne rot,
 und wenn der letzte Tropfen Blut verrinnt in Todesnot,
 wir wanken und wir weichen nicht ...”

Wie häufig bei Liedern der Arbeiterbewegung handelt es sich auch hier um eine Kontrafaktur (Umdichtung) eines patriotischen Liedes: „Dir woll wir treu ergeben sein, getreu bis in den Tod! / Dir wolln wir unser Leben weihn, dir Fahne schwarz-weiß-rot!”

Ein typisches „Hülsenlied” also: Man brauchte nur die Farbe der Fahne auszuwechseln. „Rot-Not-tot”- immer wieder beschwört dieser gleiche Reim die Todesbereitschaft jugendlicher Sturmkolonnen aller Art. Zu den drei althergebrachten Funktionen einer Fahne – Feldzeichen, Herrschaftszeichen, Lebenszeichen – kommt eine vierte: Glaubenszeichen. Die Fahne trägt, emblematisch verschlüsselt, die Idee, um derentwillen unter Einsatz des Lebens gekämpft wird. Die rote Fahne etwa weht, „wo für der Menschheit heilig Recht ein Herz im Busen glüht”.

Arbeiterdichter, Karl Bröger, der später zum Nationalsozialismus konvertiert ist, lässt die Arbeiterjugend schwören: „Volk hab acht! Brüder wacht! Deutsche Republik, wir alle schwören: Letzter Tropfen Blut soll dir gehören!” Der Weimarer Republik mit den von der Sozialdemokratie durchgesetzten Freiheitsfarben von 1848 (Schwarz-Rot-Gold) wollte Bröger in den 20er Jahren noch mit dem „letzten Tropfen Blut” verteidigt sehen, nach 1933 wollte er dies keinesfalls mehr. „Treue”?

9.8.2.14. Jugendbewegte Tatgesinnung im Lied

Die erste und wichtigste Tätigkeit der Wandervögel war das Wandern als antiurbane „Flucht in die Wälder”. Aber schon 1911 wird durch die neu gegründete Zeitschrift „Die Aktion” der Zeitgeist in eine andere Richtung gelenkt. Expressionistische Literaten beeinflussen bald auch die Jugendbewegung mit einer neuen vitalistischen Komponente. 1912 übernimmt Wandervogelverleger Eugen Diederichs folgerichtig die Zeitschrift „Die Tat”. Von da aus wird dann 1913 auf dem Hohen Meißner die tätige Eigenverantwortung der Jugend proklamiert. Der lebensphilosophische „élan vital” (H. Bergson) äußert sich von nun an zunehmend als Tatendrang, der als Privileg der Jugend aufgefasst wird. Was fand diese „Freideutsche Jugend” an „tat-geeigneten” Liedern der Vergangenheit vor? Vor allem Turner- und Studentenlieder und gewisse Volkslieder, die als Morgenlieder frisch-fröhliche Aufbruchsstimmung vermitteln konnten. Und natürlich Soldaten- und Landsknechtslieder! Die Liederbücher um den Ersten Weltkrieg herum lassen eine auffällige Präferenz von „Auf, auf”-Liedern erkennen, die zu vitaler Tätigkeit „auf”-rufen:

Tabelle 9.1.

„Auf, auf zum fröhlichen JagenAuf, Ansbach-Dragoner
Auf, ihr BrüderAuf, du junger Wandersmann
Auf, auf, ihr WandersleutAuf, grüner Jung
Auf, auf, ihr roten KriegerAuf, bleibet treu
Auf, auf, ihr MännerAuf, Genossen
Auf, sing mir ein LiedAuf, Sozialisten.”


Die Arbeiterjugend war schon vor den Wandervögeln aufgrund der sozialpolitischen Situation zur Tatgesinnung gekommen, nun zieht die Jugendbewegung nach.

9.8.2.14.1. Die gestaltende Tat

Der neue Tatgedanke entwickelt sich dann während der bündischen Zeit weiter von der eskapistischen zur gestaltenden und schließlich zur kämpferischen Tat. Bei solchem diachronen Nacheinander überlagert eine Stufe die nächste, so dass in der Folge alle drei Varianten des Tatmotivs gleichzeitig auftreten. Schon beim Meißner-Treffen der „Freideutschen Jugend” scheint sich gestaltender, gesellschaftsverändernder Tatendrang bemerkbar gemacht zu haben. Neu dabei war, dass dieser Aktionismus nicht mehr nach innen auf Selbsterlösung gerichtet war, sondern als Aktivismus zu konkreter Tathandlung drängte. Von daher ergibt sich eine plausible Erklärung dafür, dass der „Schlager des Tages” bzw. der Tagung (am Hohen Meißner 1913) zwar ein Lied aus dem 16./17. Jahrhundert war, dass es als Landsknechtslied jedoch eine sonst kaum übliche Tatenlust verbreitete. Wie weit dieses Lied in die Zukunft wirkte, zeigt die Tatsache, dass es sogar im Liederbuch des ‚Katholischen Jugendwerks Österreichs' von 1948 enthalten ist, obwohl dort zeitbedingt Kriegslieder eher selten sind. Seine Beliebtheit geht auf Textaussagen der ersten Strophe zurück (vgl. Anhang 34): „Ich habe Lust, im weiten Feld zu streiten mit dem Feind, / wohl als ein tapfrer Kriegesheld, der's treu und ehrlich meint. / Frisch auf, frisch auf zum Streit!”

Auf den ersten Blick scheint dieser Kriegsgesang unter die Kategorie „kämpferische Tat” zu fallen. Zu Unrecht! Zwar ist vom „Streiten mit dem Feind” die Rede, aber in der letzten Strophe stellt sich heraus, dass es dabei um „einen Sieg aus aller Not” geht, zu dem „der liebe Gott helfe”, also um eine Befreiung aus jedweder Notlage, sei sie materieller, sozialer, politischer oder geistlicher Art. Diese symbolische Verwendung von „Streit” ergibt sich aus der etymologischen Vergangenheit des Begriffs, die im 16./17. Jahrhundert geläufig war. Früher galt noch ein Begriffs-Pernotat „Mühe, Bemühung, Anstrengung, Elan” für „Streit”. Deshalb auch „spielen Musikanten auf” zu diesem „fröhlichen Streit”. Die jugendbewegten Singer haben ohne Textveränderung bei gleich lautendem Signifikanten („Streit”) das Signifikat „Kampf” zur „Tat im weiten Feld” der Möglichkeiten transformiert, ohne dem Text Gewalt antun zu müssen.

Der Übergang von der innengewandten Selbsterlösungs-Tat zur weltverbessernden Aktivität erfolgt im Kontext der seit Anfang der 1920er Jahre veränderten Lebensideologie. Damals folgte auf eine neuromantische Phase eine neusachliche. Dies führte dazu, dass sich das jugendliche Interesse auf sachliche Ziele richtete und sich reale Tätigkeits-Objekte suchte, was wieder als erweiterte Krisenreaktion gelten konnte.

Wandern als Schweifen im Gelände wird tendenziell durch die zielbestimmte „Fahrt” abgelöst. Über die Pfadfinderbewegung gelangt aus dem Kolonialland Großbritannien die „Fahrt” mit Merkmalen einer Exkursion oder Expedition in die deutsche Jugendbewegung. Dabei spielt das „Lager” mit seinem Lagerleben als vorübergehender Wohnplatz eine immer größere Rolle. Man musste es durch eigene Arbeit oder „Werktätigkeit” aufbauen, wozu eine eigene „Lagertechnik” entwickelt und eingeübt wurde (Seilbundtechnik, Knotentechnik, Einrichtungstechnik, Feuertechnik, Zeltbautechnik). Derartige Fertigkeiten werden in „Handbüchern” gelehrt (z.B. DRAP- Handbuch der österreichischen Pfadfinder) und auch in eigenen Leistungsprüfungen examiniert. In den fahrtenfreien Wintermonaten setzt sich dieser sachlich-technische Aktivismus fort mit „Werken” und „Basteln”, möglichst mit naturnahen Werkstoffen. Besonders für die Mädchenbünde ergibt sich dadurch eine Möglichkeit, geschlechterrollen-spezifische Aktivitäten auszuüben. Die Veränderung gegenüber der Wandervogel-Frühzeit mit dem Umherstreifen im „Wald und auf der Heide” ist signifikant gewesen und schlägt sich in vielen bündischen Liedertexten nieder.

Die Aufbau-Tat im Lied der Arbeiterjugend

Die bürgerliche Jugendbewegung fand frühe Vorbilder für Liedtexte von gestaltender Tat bei der Arbeiter-Jugendbewegung. Die Aufwertung der politischen Linken nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wirkte sich auch auf die Jugendbewegung aus, die einen bedeutenden linken Flügel ausbildete mit wichtigen expressionistischen Literaten und Musikern (z.B. Johannes R. Becher). Die Zeitschrift „Der Aufbruch”, vom „Wandervogel” zwar als „schädlich” abgelehnt, vermittelt nun Kontakte von der bündischen zur Arbeiterjugend, die ihrerseits vom Lebensstil der Wandervögel geprägt war. Als ab 1922 die neue faschistische Gegeninszenierung einsetzt (Mussolini), werden von der „linken” Jugendbewegung mehr und mehr „Kampflieder” gesungen, die einen Übergang von gestaltender zu kämpferischer Tat implizieren: „Aus des Alltags grauen Sorgen kommen wir im Schritt der Zeit ... / Hammerschlag und Ambossklingen wird zu Liedern stark und frei ...”

Das Lied des Arbeiterdichters Jürgen Brandt „Wir sind jung, die Welt ist offen” (vgl. Anhang 35) wird von der gesamten bündischen Jugend übernommen, weil sich im „Tatendrang zum Licht” beide Mentalitäten begegnen, sozialistische und bürgerliche „Werktätigkeit”, die für die jungen Arbeiter unentfremdete Arbeit darstellt. Für sie ist Arbeit nicht mehr „Frondienst” und „Sklaverei” (wie in der kommunistischen Internationale: „Herr der Sklaven wache auf ...”), sondern Aneignung der Welt und ihrer Zukunft, „Dem Mann der Arbeit”: „und ob er das Gold aus der Erde ringt ..., / ob er lehrt und schafft und die Feder hält / und den Meißel führt, / ihm gehört die Welt und der Zukunft Krone”.

Nun verleiht Arbeit den proletarischen Adelsnachweis: „Der Schweiß, der nieder die Stirn uns rann, / er adelt uns alle, Weib und Mann.” Nur ideell soll die Arbeit allerdings nicht sein: „Wir wollen für jeden sein heiliges Recht, / für jeglichen Arbeit, die lohne”, auch materiell natürlich, im Gegensatz zur bürgerlichen Jugend, die es sich leisten konnte, in freiwilligen Ferien-Arbeitslagern für Kost und Unterkunft zu „schaffen”. Dass Arbeit „die Kraft lehren kann, den Reichtum zu vermehren”, korrespondiert jedoch mit der Selbsterziehungs- und Bildungstätigkeit der bürgerlichen Jugendbewegung.

Ein frühes Zeugnis neusachlicher Tatgesinnung findet sich bei „Arbeiterdichter” Karl Bröger: „Walzen, Räder, Transmissionen drehen sinnvoll ihre Weise ... / Euch Maschinen, Gruß und Dank ... / Eure Kräfte, unser Hirn, eng vereint zu großen Taten ...”

Die von den neuromantischen antiurbanen Wandervögeln abgelehnte Maschinentechnik wird von den Bündischen allmählich akzeptiert, obwohl dort naturnahe landwirtschaftliche Siedlungs-Arbeit bevorzugt wird (vgl. „Siedlungsbewegung”). Sogar einige von Bert Brechts Gedichten machen als selbst vertonte Lieder in einem Pfadfinderbund „begeistert die Runde”.

Aus dem „Österreichischen Kinderland” stammt das Jungarbeiterlied „Auf, rote Falken, auf”: „Wir ziehen in die weite Welt und ehren Arbeit auf dem Feld (!) / und ehren Arbeit in dem Schacht und alles, was der Fleiß vollbracht”. Die Arbeiterjugend („Rote Falken”) gibt dem zweckfreien Wandern ein tatbestimmtes Zukunftsziel vor, was umgekehrt wieder auf die bürgerliche Jugend zurückgewirkt hat: „Wir wandern nicht zur Lust allein, wir wandern, um einst stark zu sein. / Mit jedem Schritt, mit jedem Tritt zieht unser Zukunftswille mit”. In einem weiteren „Falken”-Lied (1929 in einem internationalen Zeltlager entstanden) wird „Wandern” zum typisch sozialistischen „Schreiten” („zur Tat” etwa) erhoben: „Wir schreiten als Masse, die weiß, was sie will ... / Wir Sturmvolk von morgen sind Jungvolk der Tat, / Wir werden erbauen den roten Freiheitsstaat ...“. Die „Masse”, von der Jugendbewegung aus elitärem Anspruch abgelehnt, ist als „revolutionäre Masse”, „Arbeitermasse”, bei der Arbeiterjugend positiv besetzt: werktätige Masse als strukturierte Masse.

Nach einer russischen Melodie (!) entsteht Ende der 20er Jahre der Liedtext „Die Arbeiter von Wien”: „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt, / wir sind der Sämann, die Saat und das Feld. / Wir sind die Zukunft, wir sind die Tat ...”. Überraschend für ein Industrieproletariat begegnet hier die Landbau-Metaphorik der „Siedlungsbewegung”, die aus der Jugendbewegung hervorgegangen ist. Möglicherweise handelt es sich um den Einfluss der russischen Revolution, die sich als Bewegung der Arbeiter und Bauern verstanden hat, was wieder im Fahnensymbol von Hammer und Sichel zum Ausdruck kommt.

Die gestaltende Tat im Lied der Bünde

Die Wechselbeziehung zwischen Arbeiterjugend und bürgerlicher Jugendbewegung wird an gemeinsam gesungenen Liedern offenkundig. Nicht allein, dass die Jung- Proletarier das gesamte Liedgut des Wandervogel übernommen haben (vor allem aus dem „Zupfgeigenhansl”), die Bündischen ihrerseits (auch rechts-politischer Provenienz) sangen etliche genuine Lieder der Arbeiterjugend, besonders wenn es um das gemeinsame Tat-Motiv ging. Typisch für diesen Vorgang ist z.B. die Rezeption des Arbeiterliedes „Wann wir schreiten Seit an Seit” (vgl. Anhang 9) durch die bürgerliche Jugendbewegung Mitte der 20er Jahre. Der Text wurde von Arbeiterdichter Hermann Claudius vor 1910 verfasst, aber erst jetzt erhält er durch seine auch musikalisch „moderne” Vertonung allgemeine Aktualität. Nun wird das sozialistische „Schreiten” (zur Tat) von der freien, kirchlichen und völkischen Jugendbewegung übernommen. An die Hülsenfunktion dieses Liedes erinnert sich ein ehemaliger „Jungsozialist”: „Darunter (unter diesem Lied) kann man sich alles und nichts vorstellen ... Das war so symbolträchtig, dass es jeder singen konnte; später haben es die Nazis auch gesungen.” Bemerkenswert ist der Hinweis dieses Zeitzeugen auf den engen Zusammenhang zwischen Symbolik bzw. Metaphorik und Hülsenfunktion, eine wichtige linguistische Feststellung: Je symbolischer, desto pluralistisch benutzbarer ist ein Text.

In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs war die soziale Schichtenbarriere zwischen Bürgern und Arbeitern abgebaut worden (vgl. „Frontsozialismus”). Nun konnte Mentalität ausgetauscht werden, auch in Form gemeinsam gesungener Lieder: „... und die alten Lieder singen, / fühlen wir, es muß gelingen. / Mit uns (gemeinsam) zieht die neue Zeit.” Nicht zufällig wurde die letzte Zeile dieses Liedtextes als Titel zweier Abhandlungen über die bürgerliche Jugendbewegung gewählt: 1927 Else Frobenius und 1985 Frank Trommler (Hg.).

Ein weiteres „Tat-Lied” aus dem Milieu der Arbeiterjugend macht Karriere in der gesamten bündischen Bewegung: „Wir sind jung, die Welt ist offen” (vgl. Anhang 35). Allerdings thematisiert nur die erste Strophe den aktuellen Jugendaktivismus: „Bruder, lass den Kopf nicht hängen, / kanst ja nicht die Sterne seh'n! / Aufwärts blicken, vorwärts drängen! / Wir sind jung, und das ist schön”.

Der neue Jugendlichkeitskult und das Selbstwertgefühl der jungen Generation kulminieren um 1930. Junge Menschen, erwählt zu Höherem, drängen vorwärts und aufwärts zu den Sternen. Jugendbewegter Idealismus dringt ein in die materialistische Welt. Friedrich Hegel wird nun von der bürgerlichen Jugend „von den Beinen” (wohin ihn Marx gestellt hat) zurück „auf den Kopf” positioniert, wo er sich ursprünglich befunden hat. Das Lied ist teilweise noch der idealisierenden Neuromantik verpflichtet, aber im „Vorwärtsdrängen” äußert sich zukunftsorientierte Tatbereitschaft.

Dieser mehr und mehr sachlichen Tendenz entsprechend, organisieren viele Jugendbünde um 1930 herum regelrechte „Arbeitsdienst-Ferienlager” (z.B. die „Deutsche Freischar” oder der „Deutsche Pfadfinderbund” u.a.m.). Diese tatorientierte Arbeits-Lager-Mentalität wird in einem dafür typischen Lied besungen: „Immer wandern wir zu Sternen, haben wir auch hier gebaut. / Und im Staub der großen Straße bleibt das Lied im Herzen laut. / Immer sind wir auf den Wegen mitten aus dem Traum zur Tat. / Immer tragen wir zu Sternen neues Feuer, neue Saat.”

Aus dem idealistisch verklärten „Wolkenkuckucksheim” der Romantiker ist diese sachliche Jugend der Endzwanziger-Jahre „auf neuen Wegen” zur sinnvollen „Tat” aufgebrochen; sie wirkt als „neue Saat” zukunftsgestaltend und zwar „immer”, d.h. grundsätzlich. Eine typisch deutsch-jugendbewegte Modifikation der britisch- scoutistischen „guten Tat” liegt hier vor. Auch sie setzt eine ständige Tatbereitschaft („täglich”) voraus, die zum Lebensstil gehört.

Etwa um die gleiche Zeit kommt aus einem bekannten bündischen Lieder-Verlag (Günther Wolff) ein womöglich noch beliebteres Tatlied: „Junge wach auf” (vgl. Anhang 36), vermutlich aus dem pfadfinderischen Jungenschaftsmilieu: „Junge, wach auf, das Leben (!) gebeut (gebietet), / hell werben die wirbelnden Trommeln! / Wach auf und wirke dein Werk noch heut, / eh dich dein Tatenversäumen reut. / Einst hilft dir kein Fragen noch Trommeln ...”

Vom Topos des üblichen Morgenlieds („Erwacht ihr Schläfer ...”) ausgehend findet der Text sogleich zur „Wirkung” eines „Werks”, „wirken” in expressionistischer Manier transitiv gebraucht („be-wirken”). Nach vitalistischer Diktion ist es „das Leben” selbst, welches die wirkende Tat gebieterisch fordert und zwar unverzüglich: Leben als Taten- Drang! In Strophe 2 werden dann Tätigkeiten aufgezählt, die der Junge auszuüben hat: „zu stürmen, zu siegen, zu schaffen ...” letztlich, um „dein Volk aus der Not zu befreien” (wirtschaftlich, politisch, moralisch). Damit reagiert dieses Lied auf die aktuelle Krisensituation um 1930, in Deutschland wie in Österreich.

Die Aufbau-Tat im Lied der kirchlichen Jugendbewegung

Die katholischen Jugendbünde hatten deshalb ein besonders enges Verhältnis zur gestaltenden Tat, vielleicht durch den Einfluss der „Katholischen Arbeiter- Jugendbewegung” (CAJ). In den 30er-Jahren entstehen während des Dritten Reichs im katholischen Jugendmilieu in Deutschland subversive, als Kirchenlieder getarnte Liedtexte mit Aufbau-Mentalität, die von der österreichischen illegalen christlichen Jugendbewegung nach 1938 übernommen werden: „Wir bauen eine Straße bis an den Rand der Welt, / weit weg, bis wo der Himmel sich auf die Erde stellt. / Und weiter, immer weiter, viel weiter als ihr denkt ... / Hinauf in letzte Ferne, wo nur noch Ruh und Licht ...”

Deutlich erkennbar wird das Aufbau-Pathos der Arbeiterjugend übernommen, aber auch der Chiliasmus (Endzeiterwartung) vom „neuen Jugendreich” der Bündischen. Die materielle Straßenbau-Tat wird gleich zu Beginn metaphorisch ins Jenseits verlängert, dorthin, wo sich unter den Repressionen des NS-Regimes eine christliche Tatgesinnung allenfalls noch bewähren konnte. Ein neuer Eskapismus kommt auf: „weit weg ... in letzte Ferne”, an die Grenze nämlich zwischen „Drittem Reich” und „Gottesreich”.

Auch die Tonalität des Liedes stellt einen Grenzfall dar. Wie auch sonst häufig hat der Komponist, Adolf Lohmann, „moderne”, für die Ohren der Nationalsozialisten „entartete” Musikstrukturen gewählt. Statt der üblichen drei Tonika-Akkorde (Tonika, Dominante, Subdominante) wird dem jugendbewegten „Zupfgeiger” ein vielfältiges Griffrepertoire zugemutet, darunter der im Jazz (Swing) übliche Sextakkord (z.B. C6/am7), wie er auch in Kurt Weills Mackie-Messer-Vertonung auftaucht. Deutlich hat sich „Neutöner” Lohmann vom ursprünglichen Volkslied-Ideal der Wandervögel entfernt.

Aus dem nämlichen katholischen Jugendmilieu stammen weitere „Aufbau-Lieder”, z.B. „Wir kommen aus den Städten” (1934): „Denn schwer ist unsre Pflicht, / wir haben sie getragen und tragen sie zum Licht. / Dann ziehn wir in die Städte, wie in die große Schlacht / und schaffen viele Tage, bis unser Werk vollbracht ... / Dann bauen wir die Völker mit neuen Menschen auf.”

Da liegt die „Flucht in die Wälder” „aus grauer Städte Mauern” schon weit zurück, in die Städte hinein führt nun der Weg. Schon die ebenfalls „moderne” Vertonung durch denselben Adolf Lohmann lässt erkennen, wie konsequent die christliche Jugendbewegung die Wende vom antiurbanistischen Eskapismus zum neusachlichen Gestaltungswillen eines städtischen „Apostolats” vollzogen hat, das in dem selbstbewussten Anspruch globaler Erneuerung gipfelt. Auch auf Seiten der evangelischen Jugendbewegung kommt der Tatgedanke ins Spiel. „Der Jungen Morgenlied” etwa singt vom „Tagwerk”, von „fröhlichem Wagen”, vom „Stählen der Kräfte”. Die Melodie in jungenschaftlich-„zackigem” Marschrhythmus war wohl als männlich jugendbewegtes Kontrastprogramm gegen eine süßlich-pietistische Jesusfrömmigkeit gedacht. Sogar der evangelische Liederdichter, Jochen Klepper, Opfer des nationalsozialistischen Terrors, der im Allgemeinen eher die Ergebenheit in Gottes Willen betont, findet für die Jugendbewegten Lied-Worte der Tat: „Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht Er stark zur Tat”.

Gelegentlich wird behauptet, die Kirchen hätten die bündische Jugend instrumentalisiert und domestiziert, so dass es sich um keine echte rebellische Jugendlichkeitsbewegung mehr gehandelt habe. Eher ist das Gegenteil der Fall. Eine Analyse relevanter Liedertexte legt vielmehr den Schluss nahe, dass Jugendmentalität das kirchliche Gemeindeleben und seine liturgischen Formen grundlegend verändert und modernisiert hat. Nicht zufällig waren es gerade die Bündischen in beiden Konfessionen, die sich dem NS-Terror mutig widersetzt haben.

9.8.2.14.2. Die kämpferische Tat

Der Tatgedanke der bündischen Jugend entwickelt sich bis 1933/38 in vier Schritten: Selbsterlösungstat – gestaltende Tat – kämpferische Tat – kriegerische Tat. Unter ca. 300 repräsentativen Liedern der Gesamt-Jugendbewegung formulieren höchstens etwa 15 % den Kampfgedanken in irgendeiner Form; davon entfallen wieder gut 35 % auf den spielerischen (agonalen) Kampf, 15 % auf die aggressiv fröhliche „Hau-drauf- Mentalität”, 25 % auf die heroisch-defensive Variante (darunter Lieder der bündischen Opposition gegen den Nationalsozialismus) und nur etwa 15 % auf den eigentlich kriegerischen Kampf, wozu wieder Lied-Texte der kämpferischen Opposition gegen das NS-Regime gehören.

Im repräsentativen „Wandervogels Singebuch” von 1915/18 (Auflage: 12 Tausend) finden sich kriegsbedingt 70 Soldaten- bzw. Kriegsgesänge von 500 Liedern insgesamt. Ein guter Teil von ihnen stammt aus der Zeit der Befreiungskriege und ist unter die Kategorie „Freiheitskampf” einzuordnen. Eine weitere Liedergruppe ließe sich unter „Soldatenklage” einreihen – eigentliche Antikriegslieder, zum Teil Deserteursklage, zu denen man noch die typischen Soldaten-Liebeslieder (eigentliche Abschiedslieder) zählen kann. Die Zurückhaltung der Wandervögel beim aktuellen hurra-patriotischen „teutschtümelnden” Männergesang fällt selbst in diesem völkisch tendierenden Liederbuch ins Auge.

Nach dem Ersten Weltkrieg war die bündische Jugend – in Deutschland mehr als in Österreich – durch Revolution und Konterrevolution mehr auf kämpferische Tatgesinnung ausgerichtet. Sie bevorzugt nun in ihren Liedern den Typ des nonkonformen Befreiungskämpfers, der gegen etablierte Machtstrukturen angeht: aufständische Bauern, Geusen [niederländische Freiheitskämpfer gegen Spanien], Freibeuter, aber auch der feudale Einzelkämpfer (Ritter) wurden im Lied gefeiert. Nicht zu vergessen sind Lieder der Arbeiterjugend, in deren Liederbuch von 1925 sechs Lied- Appelle zu „blutigem Kampf” des Sozialrevolutionärs von 1848, Georg Herwegh, verzeichnet sind, darunter z.B. „Der Freiheit eine Gasse”: „Wenn alle Welt den Mut verlor, die Fehde zu beginnen, / tritt du, mein Volk, den Völkern vor, lass du dein Herzblut rinnen!”

Das Rollen-Ideal des Wandervogels, der Vagant im bunten Kittel, wird von der bündischen Jugend in die Rolle des Tat-Menschen transformiert. Da bot sich als Mischform die Figur des Landsknechts an, der als bündischer „Kamerad” angeworben wurde, auch bei den christlichen und sozialistischen Bünden.

Die spielerische (agonale) Kampfform

„Der geordnete Kampf ist ein Spiel” (Johan Huizinga 1938). Der Ritterkult der „Neupfadfinderbewegung” (1922) rezipiert das Ritter-Spiel als mentale Matrix. Der Turnierkampf der burgundischen Ritterwelt wirkt von da an für die Lieder der Bündischen paradigmenbildend. Dabei hat die bündische Jugend das agonale (spielerische) Element deutlich vom bellizistischen (kriegerisch) getrennt.

Integraler Bestandteil eines solchen Kampfbegriffs ist seine Ästhetisierung. Landsknechte treten in „buntem Zeug” auf, nicht in grauen Uniformen, mit Hellebarden, die im Sonnenschein blinken: „Die Hellebarden blinken im schönsten Sonnenschein, / die Pauken und die Zinken, die tönen lustig drein ... / Hintan ein bunt Gewimmel, der Landsknecht frohe Zahl. / Sie sehn die ganze Erde von ihrem muntren Pferde ... ”. Zweifellos: Hier wird ein mörderisches Kriegshandwerk verharmlost, es fragt sich jedoch, warum. Den halbwüchsigen Jungmännern der 20er Jahre war für die Bewältigung ihrer „Krise” der Selbstdarsteller wichtig, der vom hohen Ross aus die ganze Erde überblicken kann.

Kampf als übermütiger Ausdruck vitaler Lebenslust äußert sich in einem Lied, das ebenfalls ein Szenario aus dem Dreißigjährigen Krieg benutzt: „Die Herren waren bei Laune, der Rotwein schmeckte wie nie, / ob auch der Schweden Kartaune knapp vors Gezelte spie”. Sicherlich pubertäres Imponiergehabe! Aber darüber hinaus manifestiert sich die Todesverachtung elitärer Kämpfer („Herren”). Dazu wird der agonale Kampf mit einer Prise darwinstischer Ironie gewürzt: „Es können nit (Pfiff) – zwei (Pfiff) – Hahne auf einem Miste sein”.

Aus der „Deutschen Freischar”, die den österreichischen „Neuländern” u.a. als Anregung diente, stammt ein Landsknechtslied (Nachdichtung 1929), in dem sich die frühere Vagantenmentalität des Wandervogels mit der neuen Militanz verbindet: „Wir Schelme sind ein feiner Hauf”. Freilich „schieren sich” diese Schelme „um keinen Pfaffen nit” und „es kommt kein Herrgott wider sie auf”. Nicht nur im deutschen NS- Staat sondern auch im österreichischen Ständestaat waren derartige Freibeuter-Töne suspekt geworden; die bündische Anarchie passte nicht mehr in das Ordnungsdenken der Staatsparteien.

Kampflieder der Arbeiterjugend

Obwohl die Arbeiter-Jugendbewegung von Beginn an (1904) auf das ernsthafte Ziel der Systemveränderung eingeschworen war, war der Geist der bürgerlichen Jugendbewegung doch eingedrungen und hat für einige spielerisch-kämpferische Liedtexte gesorgt: „Landsknechte müssen tanzen”: „Landsknechte müssen tanzen mit dem Spieß in der Hand, / auf dem Buckel den Ranzen, so tanzen sie durchs Land ... ” / „Landsknechte müssen tanzen mit zerrissenen Schuh'n, / sie werfen ihre Lanzen und dürfen nimmer ruh'n”.

Gegenüber dem forsch-fröhlichen Söldner der Bündischen ist der Landsknecht für die Arbeiterjugend allerdings ein armer Teufel. Wie im Spätmittelalter wird „tanzen” zur Metapher für zwanghaft-mechanische Bewegung (vgl. Totentanz). Als schlecht bezahlte Kriegsknechte müssen sich die Landser „mit zerrissenen Schuh'n” dem „König Franzen” unterwerfen, aber auch „Herren und Schranzen” und schließlich dem „Gevatter Hein”. Freilich hat sich der Verfasser dieses Liedes (Walter Gättke) in anderen seiner „zehn Landsknechtsweisen” an die bündische Mentalität angepasst: „Trommelgedröhn und Gebrumm. / Es schrillen die Flöten, das Kriegsvolk, es singt, / es flattern die Fahnen, es jauchzt und klingt”. Diese „Wallensteiner ziehn vorbei, heißa, juchhei, mit Spiel und Feldgeschrei”.

Sportlicher und alpinistischer Kampf

Die gesellschaftliche Aufwertung des sportlichen Wettkampfs (agon) im Zug der „neuen Sachlichkeit” sorgt in den 30er-Jahren dafür, dass das spielerische Kampfprinzip zu einer allgemein anerkannten Denk- und Lebensstruktur wird. In dem Lied „Brüder links und rechts zur Seite” zieht man „Arm in Arm und Herz an Herz froh hinaus zum Streite, auf den Lippen Lied und Scherz”. Das „grüne Siegerreis” lässt eine Interpretation in Richtung Sport-Wettkampf zu. Der „Pfadfinderkanon” lässt darwinistische Selektionspraktiken hören: „Pfadfinder sind wilde Kerle, reiten, kämpfen, jagen, / können ohne Wimperzucken Leid und Schmerz ertragen. / Ja, das sind die rechten Männer, die ihr Leben wagen”. Freilich konnte Hitler an solche Indianertugenden anknüpfen und sie militaristisch instrumentalisieren.

Sportliche Durchhalte-Mentalität mit darwinistischer Tendenz lässt das Schifahrerlied „Nun lasst uns mit Freuden fahren” gut erkennen: „Ski-Heil, ihr munteren Scharen ... / Mit Stürmen raufen und streiten hält Leib und Seele jung. / So wird uns Erobernden eigen, was die Spur unsrer Hölzer durchpflügt ... / Holt Kraft aus den Stunden, den hellen: für das Werk, das euch fordert und lenkt!”

Nietzsches „Gelobt sei, was hart macht” liegt mit seinem Vulgärdarwinismus so manchem Bergsteigerlied zu Grunde. Maskuline Aggressionen werden sportlich kultiviert und kompensiert. Der „Berg” wird als sportlicher Gegner zum allegorischen Spielkameraden ernannt, er „ruft zum Kampf” (vgl. Trenkers „Kampf ums Matterhorn”): „Wenn Bergsteiger singen, dann sagen unsre Lieder ... / vom Kampf auf luftiger Höh ..., von Freud und Leid und Glück, / von schweren Stunden in Eis und Schnee, vom stolzen Gipfelsieg”.

Agonaler Kampf bringt als Nebenprodukt ein Gemeinschaftserlebnis hervor („Gefährten in Freud und Not”). Die Liedertitel im Liederbuch der ÖAV-Jugend thematisieren immer wieder diesen lebensideologisch-sachlichen Zusammenhang: „Pulverschnee und Gipfelwind sind unsre Kameraden”, „Wer den Schritt zu Berge lenkt, [dem] schenken Berge ... ein starkes Herz”, „Stolze Zinnen zu gewinnen ..., feiger Mann, niemals kann ...”, „Wir kamen einher ... zu dem Kampf um die Berge der Welt” usw. Nicht zufällig begegnen immer die gleichen Reime: erringen – gelingen – zwingen – schwingen – singen. Sie vermitteln zusammen mit der „zackigen” Melodie einen klangmalerischen Mehrwert.

9.8.2.14.3. Der kriegerische Kampf

Der lebensideologische Aktionismus, wie er vor dem Ersten Weltkrieg aus dem literarischen Expressionismus entstanden ist sowie der Krieg und die Nachkriegsrevolutionen waren Mitursache für eine allgemein zunehmende Militarisierung, Desensibilisierung und Dehumanisierung, was auch an der Jugendbewegung nicht spurlos vorübergegangen ist. Besonders seit Mitte der 20er Jahre erfolgt dann ein verstärktes Interesse der Nachkriegsgeneration an Kriegsliteratur zusammen mit einer allgemeinen Maskulinisierung der Jugendbewegung.

Kriegserlebnis und "heroischer Realismus"

Jetzt wurde das „Kriegserlebnis” des Wandervogel-Leutnants Walter Flex zusammen mit dem Frühwerk Ernst Jüngers, der ebenfalls der Jugendbewegung angehörte, zu Bestsellern in Kreisen der bündischen Jugend. Das Kultlied aus der Novelle „Der Wanderer zwischen beiden Welten” (W. Flex) wurde erst jetzt (Ende der 20er Jahre) in mitreißendem Marschrhythmus vertont (vgl. Anhg. 18): „Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden. / Unstäte Fahrt, habt Acht, habt Acht! Die Welt ist voller Morden”.

Bereits diese ersten Zeilen des bekannten Liedes lassen deutlich werden, dass es sich bei Flex nicht um Kriegsverherrlichung handelt, schließlich ist im Titel der Novelle von zwei Welten die Rede, vom Heldentum und dem Preis dafür. Krieg wird „Morden” genannt, also „Tötung aus niedrigen Beweggründen”. Das Lied wird zur Inszenierung des „Amor-fati” (Schicksals-Liebe) eines Nietzsche: „Und fahrn wir ohne Wiederkehr, rauscht uns im Herbst ein Amen”. Krieg ist mit Tod verbunden. Er zerstört menschliche Bindungen – Leitthema bei Flex und später bei Luis Trenker („Berge in Flammen”). 1915 wird vorweggenommen, was um 1930 „heroischer Realismus” heißen wird, eine Spätfolge der Kriegsniederlage und ihrer Bewältigung. Nietzsches Forderung nach „gefährlichem Leben” fällt nun zusammen mit dem existentialistischen „Grenzerlebnis”, der Suche nach den Grenzen der eigenen Existenz.

Ebenfalls im Ersten Weltkrieg in Kreisen der Jugendbewegung entstanden (Elsa v. Wolzogen) ist ein Kriegsgedicht, das in den 20er Jahren vertont wurde: „Der Tod reit auf einem kohlschwarzen Rappen” (vgl. Anhang 8): „... Er trägt ein undurchsichtig Kappen. / Wenn Landsknecht durch das Feld marschieren, / Lässt er sein Ross daneben galoppieren ...”. Das Lied gehört zwar zur Spezies der beliebten Landsknechtslieder, jedoch ist die Nähe zum spätmittelalterlichen Totentanz unverkennbar. Dem Landsknecht/Frontsoldat wird ein heroisch-würdiges Sterben bereitet, das im bewussten Gegensatz zur unwürdigen Vernichtung menschlichen Lebens in der Materialschlacht stehen soll. Für die jungen Wandervogelsoldaten sollte der Schlachtentod ein tröstliches Ereignis sein. Daher auch die unaufrichtige Euphemisierung (Schönrednerei) des Todes. Das würdelose „Verheizt-werden” wird zum Einschlummern in Mutters Armen verklärt: „Der dritte Wirbel geht leis und lind, / als wiegt eine Mutter in Schlaf ihr Kind”.

Die Nationalsozialisten konnten solch heroischen Realismus als Vehikel der Kriegsbegeisterung nutzen, um Hitlerjungen zu todesbereiten Marschkolonnen zu instrumentalisieren – sicherlich gegen die Absicht der meisten bündisch Jugendbewegten. Vor allem dann, wenn sich ein ehemaliger jugendbewegter NS- Konvertit (katholischer Jugendbund Neudeutschland) als Texter betätigte (Hans Baumann – vgl. Anhang 37): „Nun lasst die Fahnen fliegen in das große Morgenrot, / das uns zu neuen Siegen leuchtet oder brennt zum Tod. / Deutschland, sieh uns an, wir weihen dir den Tod als kleinste (!) Tat. / Grüßt er einst unsere Reihen, werden wir die große Saat!”

Da fliegen die rauschenden Wildgänse eines Walter Flex schon weit in der Vergangenheit und sein Soldatentod, den er als „Mord” benannte, liegt 20 Jahre zurück.

Kampflieder der bündischen Opposition gegen das NS-System

Jeder Kampf bedarf eines Gegners. Zwischen bündischer Jugend und Hitlerjugend herrschte in der Regel ein oppositionelles Verhältnis, besonders zwischen illegalen Bünden und HJ. Illegale Arbeiterjugend, kirchliche Jugend und freie Jugendbewegung widersetzten sich dem NS-Zwangssystem auch und vor allem mit Hilfe von Liedern. Gegen diese Opposition reagierte das System mit einem „Gesetz gegen bündische Umtriebe”, was deren Effizienz bestätigt. Das männerbündische tat- und kampforientierte bündische Milieu wendete seine Energie nun gegen den seinerseits maskulinistischen Nationalsozialismus, ab 1938 auch in Österreich.

Offensive Liedtexte entstammten nicht selten der Freikorpstradition, besonders die Texte der jugendbewegten „Edelweißpiraten”: „Wenn die Fahrtenmesser blitzen und die Hitlerjungen flitzen / und die Navajos (Indianerstamm) hinterher, / Was kann das Leben Hitlers uns geben, wir wollen frei von Hitler sein!”

Der Text thematisiert unchiffriert den Kampf mit dem „Streifendienst” der Hitlerjugend, einer Nachwuchsorganisation der Gestapo. Als Vorlage der Kontrafaktur dient das Lied „In Texas Kneipe”. Dort wird die gesamte Szenerie dessen aufgeführt, was die Nationalsozialisten als „undeutsch” und „entartet” kritisierten: „Der Colt sitzt locker, und beim Gepoker verlor er schon ein Ohr ... / Nur siebzehn Leichen sind zu verzeichnen, heut ging's noch harmlos aus ... / Sam haut mit der Vase Tom auf die Nase, schon hat der ausgehaucht ...”. Es handelt sich hierbei natürlich um eine parodistische Übertreibung der in Mode gekommenen Western-Szene, aber die Freude am anarchischen Freiheitsraum ist unverkennbar. Dies zeigt der ernst gemeinte Refrain: „Ja, wenn die Klampfen klingen und die Burschen singen und die Mädel fallen ein: / was kann das Leben Schöneres geben, wir wollen glücklich sein”. In der Melodie treten gehäuft ‚jazzige' Synkopen auf, signifikant für den Ragtime(-style), welcher der Jugend auch als „syncopatet music” bekannt war und ein Kontrastprogramm zum preußisch-militärischen Marschrhythmus darstellte.

Ein Widerstandslied des „Deutschen Pfadfinderbundes” (40er Jahre) stellt die jeweils appellative Anklage gegen die Nationalsozialisten („ihr”) der eigenen Widerstandsreaktion im Kehrreim gegenüber: „Hoi, wir sind das wilde Heer und fürchten keine Wehr. / Und jagt ihr uns, vergast (!) ihr uns, wir lachen hinterher!” Diese jungen Leute wussten recht genau, wovon sie redeten („vergast”). Bemerkenswert ist der Galgenhumor der letzten Zeile: „wir lachen hinterher”. Dies hatte man aus der vielgeliebten Indianerwelt übernommen: Schmerzen, ja den Tod, lächelnd zu ertragen – eine jugendbewegte maskuline Form passiven Heldentums.

Eine Persiflage zu einem in Jugendbewegung und Hitlerjugend gleichermaßen beliebten Soldatenlied kommt aus den Kreisen des illegalen „Jungwandervogels” (vgl. Anhang 20/20a): „Wir trampen in die Weite und singen in den Wind. / Viel Tausend uns zur Seite, die auch verboten sind. / Wir sind der Bünde buntes Heer, uns lockt der Ferne Ruf. / Und um uns her ein dunkles Meer, das schwarze Hölle schuf”.

„Trampen” hieß damals noch nicht, per Autostop zu reisen; vielmehr hielt man sich dabei an den amerikanischen Tramp, ein Sozial-Vagabund: arbeitslos, brotlos, heimatlos und immer „auf Fahrt”. „Der Ferne Ruf lockt” die Bündischen heraus aus völkischer Kulturverarmung. „Das dunkle Meer” faschistisch uniformer Kultur-Monotonie wird in Gegensatz zu „der Bünde buntes Heer”, also zum bündischen Pluralismus gestellt.

Viele weitere Lieder der jugendbewegten Opposition hat es gegeben. Wegen ihres subversiven Charakters mangelt es jedoch an schriftlicher Überlieferung, es sei denn, sie waren entsprechend verschlüsselt, z.B.: „Einmal wieder Kameraden ... wird ein Morgen hell erwachen”, „Schließ Aug und Ohr für eine Weil vor dem Getös der Zeit!” oder „die stunde kommt, da man dich braucht, dann sei du ganz bereit! / und in das feuer, das verraucht, wirf dich als letztes scheit!” Sophie Scholl, von den Nationalsozialisten hingerichtet, soll dieses letztgenannte Lied sehr geschätzt und oft gesungen haben.

Der Widerstand der christlichen, meist kirchlich gebundenen Jugendbewegung weist bei aller konfessionellen Verschiedenheit signifikante Gemeinsamkeiten auf, die auf einen allgemeinen bündischen Konsens zurückgehen: Die Idee vom neuen Jugendreich. Dieser Chiliasmus konkurriert von Anfang an mit der NS-Vorstellung vom „Dritten Reich”. Überhaupt bildet die Konkurrenz des NS-Führerkults mit dem spirituellen Königtum Christi den zentralen Kontrapunkt des kirchlichen Jugend- Widerstands. Dieses umfangreiche kirchliche Widerstands-Szenario spiegelt sich in zahlreichen Kirchen-Kampfliedern wider. Sie sind wegen ihrer subversiven Verwendung als mehrdeutige „Hülsenlieder” konzipiert, gegen welche die Zensurbehörden nicht einschreiten konnten. Der Kampf mit den Mächten der Finsternis, mit dem Antichristen Hitler, wird oft thematisiert. Christkönigs-Gefolgschaft wird im Zusammenhang mit dem Banner-Symbol beschworen. Von den Kreuzrittern wird der Gedanke einer „Militia Christi” übernommen: „Lasst die Banner wehen über unsern Reihen! / Alle Welt soll sehen, dass wir neu uns weihen, / Kämpfer zu sein für Gott und sein Reich ... / Gott ist der Herr auch unserer Zeit!”

Die Situation der katholischen Jugendbewegung in Deutschland, nicht in Österreich, unterschied sich von der ihrer evangelischen Kameraden insofern, als jene unter dem Schutz des Reichskonkordats ihr bündisches Leben halblegal bis 1938 weiterführen konnten. Dabei bildete sich ein konspiratives Gruppenleben heraus, das zahlreiche Oppositionslieder hervorbrachte. Ab 1934 entstehen derartige Texte von Georg Thurmair mit „moderner” Vertonung durch Adolf Lohmann. Ab 1938 nach dem allgemeinen Verbot der katholischen Jugendarbeit übernehmen auch die kirchlichen nun illegalen Organisationen Österreichs (der so genannten „Ostmark”) diese Lieder (vgl. Anhang 21), z.B.: „Wir stehn im Kampfe und im Streit mit dieser bösen Weltenzeit, / die über uns ist kommen. Sankt Jürg, du treuer Reitersmann, / wir rufen deinen Namen an, weil unser Mut beklommen.”

Nicht alle Katholiken empfanden 1933 die Heraufkunft des Dritten Reichs als Unglück, die Jugendbewegung reagierte nach anfänglicher Zustimmung zunehmend skeptisch auf die „böse Weltenzeit”. Gegen sie zu opponieren, bedurfte des Muts, auch innerhalb des katholischen Verbandsmilieus. In der zweiten Strophe kommt der manipulative Propaganda-Apparat eines Goebbels zur Sprache: „Die Lüge ist gar frech und schreit und hat ein Maul so höllenweit, / die Wahrheit zu verschlingen ...”

Kritik am indifferenten Verhalten der Amtskirche dem Nationalsozialismus gegenüber wird in Strophe 3 vernehmbar: „Das Böse überkommt Gewalt, und keiner sagt dem Satan Halt ...”. St. Georg, der Pfadfinder-Patron und Drachentöter, soll „Urteil über Gut und schlecht schaffen”, „dass wir im Glauben siegen”. Gleichzeitig sorgt die moderat moderne Vertonung des Textes für Kontrast zur volkstümelnden Melodik des nationalsozialistischen Kulturbetriebs. Sie sucht Anklänge an Kompositionen von Kurt Weill oder Hanns Eisler. Auch wird mit Absicht eine Gegen-Musikkultur gegen die primitive tonale und rhythmische Struktur der HJ-Lieder geschaffen. In einem weiteren derartigen Lied von 1934 wird das christlich-jugendbewegte Führerbild in Szene gesetzt: „Christkönig, dein Jungvolk” will „treu sich weihen”; es tritt damit dem Jungvolk der HJ-Pimpfe entgegen.

Für die evangelischen Jugendbünde war die Lage nach 1933 unübersichtlicher, da große Teile des deutschen Protestantismus als „Deutsche Christen” mit dem Regime kooperierten und die evangelischen Bünde geschlossen in die Hitlerjugend überführten. Dennoch verweigerten viele der Bündischen diese Art von Gefolgschaft und gingen in die Illegalität. Sie schlossen sich der opponierenden „Bekennenden Kirche” an und nahmen an deren Widerstehen großen Anteil. Das in der Folge entstandene oppositionelle Liedgut weist zahlreiche Parallelen mit der katholischen Liedkultur auf: „Wir wollen treu dem Banner sein, Soldaten deiner Kriege ... / Sei du (Christus König) mit deinen Scharen / und lass dein junges Aufgebot die Treue ewig wahren!”

Das „Widerstehen” taucht wörtlich in manchen dieser Lieder auf, eine reformatorische „Tradition”: „Tobe Welt und springe – ich steh hier und singe!” Luthers „Hier-stehe-ich” des Wormser Reichstags wird gegen die neue Antireformation des Nationalsozialismus und dessen kirchliche Verbündete gewendet: „Er (Christus) wird uns ..., Christi Bruderschaft, / erlösen von der Feinde und falscher Brüder List und Macht ”. Dieser Zweifronten-Kampf gegen die NS-Reichskirche und gegen das NS-Regime machte das Widerstehen der evangelischen Jugend besonders schwierig.

9.8.2.15. Jugendbewegte Liedpraxis in der Nachkriegszeit

Nach dem so genannten „Nullpunktjahr” 1945 war die Fortführung der Jugendbewegungs-Tradition Sache der jüngeren Kriegsteilnehmer- und Flakhelfer- Generation. Sie hatte während der Zeit der Illegalität die Mentalität der Jugendbewegung bewahrt und gab sie nun an die nächste Generation weiter. Dies gilt auch für die Liedkultur – mit einer Ausnahme: Die kämpferische maskuline Tatgesinnung war durch die Kriegskatastrophe suspekt geworden („Nie wieder Krieg!”). Die Erben der alten Jugendbewegung, auch als „skeptische Generation” bezeichnet (H. Schelsky). Diese „Spät-Jugendbewegten” waren „skeptisch” gegen charismatische Führer ebenso wie gegen große Worte (Rhetorik) und uniformierten Kooperationszwang. Die „Reeducation” der Alliierten wirkte sich als Demokratisierung, aber auch Amerikanisierung aus. Die frühere typisch jugendliche Bewegungsdynamik geht allmählich verloren und wird durch eine Art Jugendpflege-Verhalten ersetzt. Der „Bund” hört auf, eine Lebens- und Bekenntnis-Gemeinschaft zu sein. Mehr und mehr wird er zur Freizeit- und Jugendbildungsorganisation transformiert. Dazu kommt ein auffälliges politisches Disengagement der neuen Generation („Ohne mich”).

Eine neue Dynamik macht sich allerdings in den 50er-Jahren bemerkbar: Die Öffnung der nationalen Grenzen nach Europa. Dieser Internationalismus verhilft der Pfadfinderbewegung, aber auch dem „Christlicher Verein Junger Männer” (CVJM) noch einmal zu einem Mitglieder-Boom, der sich auf alle Bünde auswirkt, denen die Völkerverständigung am Herzen liegt. Die Pflege internationaler Folklore wird wesentliche Mentalitätsäußerung auch und vor allem in der Liedkultur.

Die ersten Nachkriegsliederbücher sind aber noch ganz von der Kriegsgeneration, den alten Jugendbewegten, geprägt, die keine Berührungsängste vor kämpferischen und patriotischen Gesängen hatten. Auf diesem Weg gelangt das von der Waffen-SS okkupierte Volkslied „Wenn alle untreu werden” oder das „Heil dem deutschen Walde” (vgl. Anhang 17/10) in den Liederfundus. Oder man will „für Volksdienst das Leben weihen” oder gar „fällen, was sich uns entgegenstellt”. Der Prozess einer Vergangenheitsbewältigung musste sich erst noch entwickeln und setzte in Deutschland wie in Österreich erst im Gefolge der 68er-Bewegung ein. Im Lauf der 50er Jahre verschwinden die Lieder des kirchlichen Jugendwiderstands aus den Liedersammlungen, weil ihre Absicht von der jungen Generation nicht mehr verstanden wird.

Stattdessen tauchen immer häufiger internationale Folklore-Lieder auf. Darunter die Kosakenlieder der Vorkriegszeit, aber vor allem US-amerikanische Folklore: Spirituals, Worksongs und Westernballaden. Dazu kommen Lieder der skandinavischen Nordland- Folklore. Der früher verpönte Jazz hält in den Jugendgruppen Einzug, zur Wanderklampfe kommen Schlaggitarre und Banjo. Der Liederschatz eines weiblichen Salzburger Wandervogels um 1960, aber auch handgeschriebene Liederhefte lassen diese Situation repräsentativ erkennen. Das Inhaltsverzeichnis von „Der Turm” (1962) gibt die allgemeine Tendenz wieder: „Als zum Wald Petruschka ging” (russisches Volkslied), „An der Mauer von La Gola”, „Auf, auf, nach Finnland!”, „Auf dem Weg nach Temesvar”, „Auf der Straße nach Kasa”, „Durch die Pußta”, „Komme von der Auvergne”, „Nehm ich die Bandura”, „Trampt durch Länder”, „Vaggand i skogen”, „Wind der Ukraine”, „Zog ein Kosak”.

Im Vorwort weisen die Herausgeber darauf hin, dass dem „ausländischen Liedgut” große „Bedeutung zuerkannt” wird. „Auf vielmonatigen Spielfahrten durch Skandinavien wurde eine Fülle nordischer Volkslieder aufgezeichnet”. Damit begibt man sich in die Tradition der „Deutschen Jungenschaft” von 1930/33. Im Liederheft „Sattel und Kanu” (1960) kommt die amerikanische Folklore zu ihrem Recht: „Don't fence me in” (mit typisch jugendbewegter Intention), „Texas Cowboy” (Ich hatt nen Job in Texas), „Shantymans Tagwerk2 (Holzhauer-Worksong), „Good bye old Paint” (Abschieds-Song). Slawische Folklore wird sogar gelegentlich im Originaltext gesungen: „Na tu svaku Katarinsku, Katarinsku Nedjelu ...” (slowakisch) oder in holpriger Übersetzung.

In einem privaten Liederheft findet sich der Schlager „Die Geisterreiter”, dessen Text gut ins bündisch-maskuline Milieu passt: „Ja Kerle sind es hart und zäh, für die gilt Colt und Faust ...”. Aber auch die Sklaven-Songs „Far upon the swany river” oder „O freedom” machen die Runde, auf Englisch natürlich. Diese Liedertexte spiegeln zwar gelegentlich noch typisch jugendbewegte, lebensideologische Mentalität, als inhaltliche Quelle zur Ermittlung eines kollektiven Lebensstils kommen sie jedoch kaum noch in Frage.

Ab Mitte der 60er Jahre wird die jugendbewegte Mentalität von der nächstfolgenden Generation der 68er-Bewegung endgültig in die Geschichte verabschiedet. Noch wird an Lagerfeuern zur Gitarre gesungen, aber es sind nun Protestlieder der Bürgerrechtsbewegung (auch gegen den Vietnamkrieg), und Sängeridole wie Bob Dylan oder Joan Baez bestimmen nun die jugendliche Singerszene: „How many times must a canonball fly, / before it forever is banned? / The answer, my friend, is blowing in the wind ...”. Solchen Pazifismus hatte sich die Jugendbewegung niemals zu Eigen gem Kriegsgeneration, dass diese „Bewegung” dem Ende zugeht. Ein Herbstlied von damals wirkt wie ein Abgesang:

”Die Stimmen sind verstummt, die Lieder starben,
  der Herbstwind reißt am rauhen Fahnentuch ...

Wir wandern schweigend auf den alten Wegen,
  zu Häupten hängt der Himmel wolkenschwer.
  In unsre Träume trommelt nachts der Regen
  und wirbelt rauschend Kampf und Wiederkehr”.

Lange nach dem Ende der Jugendbewegung wird bis heute noch in bündischen Restgruppen der Geist von Wandervogel und Jungenschaft in neu geschaffenen Liedern beschworen, ohne dass davon eine größere Singerschaft berührt würde. Noch um 1990 erscheinen „Liederblätter Deutscher Jugend”, gemeinsam herausgegeben von immer noch existierenden Jugendbünden. In ihnen werden „junge Liedermacher aus den Bünden vorgestellt”. Sie texten ihre Erlebnisse auf Auslandsfahrten in aller Welt, besonders zu den Modezielen junger Menschen der 80er Jahre (Irland und Griechenland) und orientieren sich an Vorbildern der Vergangenheit: Stefan George und Hermann Hesse werden vernehmbar.

Andrerseits wird in diesen Gruppen auch bündisches Liedgut weitergegeben (1988) wie „Aus grauer Städte Mauern”, „Heia Safari”, „Immer marschieren”, „Kameraden, wir marschieren”, „Wir sind durch Deutschland gefahren”, „Trum trum terum, die Landsknecht ziehn ...”, „Wildgänse rauschen durch die Nacht”, „Der Wind weht über Felder”, „Es klappert der Huf am Stege”, „Wir ziehen über die Straße”, „Sprengten drei Knappen”. Wie viele Singer dieses Liedgut noch heute pflegen, welcher Generation sie angehören ... wer weiß es. Es ist Geschichte geworden – Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte.

Aber: Wie alle „Bewegungen” aus dem Zeitgeist der Lebensideologie, so ist auch die Jugendbewegung und ihre Mentalität nicht spurlos aus der Geschichte verschwunden. Sie hat sich in vielen heute selbstverständlichen lebensanschaulichen Elementen ins 21. Jahrhundert fortgesetzt, auch wenn die Jugendbewegung selbst als institutionelle gesellschaftliche Gestaltungsgröße schon lange nicht mehr existiert.

9.8.3. Anhang

9.8.3.1. 1.*

1.
Wir wollen zu Land ausfahren
über die Fluren weit,
aufwärts zu den klaren
Gipfeln der Einsamkeit.
Lauschen, woher der Sturmwind braust,
schauen, was hinter den Bergen haust
und wie die Welt so weit.

2.
Fremde Wasser dort springen,
sie sollen uns Weiser sein,
wo wir wandern und singen
Lieder ins Land hinein. 
Und brennt unser Feuer an gastlicher Statt,
so sind wir geborgen und schmausen uns satt,
und die Flammen leuchten darein.

3.
Und wandelt aus tiefem Tale
heimlich und still die Nacht
und sind im Mondenstrahle
Gnomen und Elfen erwacht,
dämpfet die Stimmen, die Schritte im Wald,
so hört ihr und seht ihr manch Zaubergestalt;
die wallt mit uns durch die Nacht.

4.
Es blühet im Walde tief drinnen
die Blaue Blume fein;
die Blume zu gewinnen,
zieh'n wir in die Welt hinein.
Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss,
und wer die Blaue Blume finden will, der muß
ein Wandervogel sein.

*Anmerkung: Im böhmischen Wandervogel nannte man dieses frühe „Neutönerlied“ (1911) aus dem „Jungwandervogel“ ein „romantisches Bekenntnislied“. Dessen Verfasser ersetzte seinen unromantisch-bürgerlichen Namen „Kutzleb“ durch „Horant“, den Sängerhelden des Gudrunliedes. Die mitreißende Vertonung stammt von Kurt v. Burkersroda (1912), auch er eine neuromantische Kultfigur des Wandervogels („wie aus Eichendorffs Liedern entsprungen“). Daher die romantischen Versatzstücke im Lied!

9.8.3.2. 2.*

1.
Es ist ein Schnitter, heißt der Tod,
hat Gwalt vom großen Gott.
Heut wetzt er das Messer,
es schneidt schon viel besser,
bald wird er drein schneiden,
wir müssen's nur leiden.
Hüt dich, schöns Blümelein!

3.
Viel hunderttausend ungezählt
da unter die Sichel hinfällt:
rot Rosen, weiß Lijen (Lilgen),
beid wird er austilgen; 
ihr Kaiserkronen,
man wird euch nicht schonen:
Hüt dich schöns Blümelein!

4.
Er macht so gar kein Unterschied,
geht alles in einem Schritt:
der stolz Rittersporn
und Blumen im Korn,
da liegens beisammen,
man weiß kaum den Namen.
Hüt dich, schöns Blümelein!

5.
Trutz, Tod! komm her, ich fürcht dich nit!
Trutz, komm und tu dein Schnitt!
Wenn er mich verletzet,
so werd ich versetzet,
ich will es erwarten
im himmlischen Garten.
Freu dich, schöns Blümelein!

*Anmerkung: Ähnlich beliebt waren die Volkslieder „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht“ und „ein Spielmann ist aus Franken kommen, den hat der Tod beim Schopf genommen“ wegen ihrer Todesnähe, die wegen der Mischung aus Neuromantik und Pubertät die Jugendlichen faszinierte.

9.8.3.3. 3.

(Volksliedfassung 15. Jahrhundert)

1.
Nach grüner Farb mein Herz verlangt
in dieser trüben Zeit.
Der grimmig Winter währt so lang,
der Weg ist mir verschneit.
Die süßen Vöglein, jung und alt,
die hört man lang nicht mehr;
das tut des argen Winters G'walt,
der treibt die Vöglein aus dem Wald
mit Reif und kaltem Schnee.

2.
Er macht die bunten Blümlein fahl
im Wald und auf der Heid.
Dem Laub und Gras allüberall,
dem hat er widerseit.
All Freud und Lust wird itzo feil,
die uns der Sommer bringt.
Gott geb dem Sommer Glück und Heil,
der zieht nach Mittentag am Seil,
dass er den Winter zwingt.

9.8.3.4. 3a

(Umdichtung durch Wandervogel Copalle)

1.
Nach grüner Farb' mein Herz verlangt
in dieser Winterszeit.
Kein Blättlein an den Bäumen prangt,
der Weg ist mir verschneit
So weit ich lass die Augen gehn
in Wies und Wald und Feld,
muß alles kahl und traurig stehn,
kein Spitzchen Grün mag ich erspähn;
der Schnee hat alls verstellt.

2.
Im Totenkleid das Jahr entschlief,
sein Bartuch ließ es hier.
Das neue schläft darunter tief,
kann nicht daraus herfür,
muß warten, bis der Frühlingswind
die starren Hülle bricht;
der ist des Frühlings frisches Kind,
kder stürmt voraus, da naht geschwind
er selber, hold und licht.

3.
O Frühling, du mein lieber Gsell,
mit dir ist wandern gut!
Dein Aug ist klar, dein Blick ist hell,
schlägt mir wie Feur ins Blut.
Du gehst gar einen leichten Schritt,
davon die Locken wehn,
du bringst die güldne Sonne mit,
kein andres Gold sonst mag dir mit
zum grünen Kleide stehn.

9.8.3.5. 4.

(Volksballade 17. Jahrhundert)

1.
Es liegt ein Schloss in Österreich,
das ist gar wohl erbauet
von Silber und von rotem Gold,
mit Marmelstein gemauert.

2.
Darinnen liegt ein junger Knab
auf seinen Hals gefangen
wohl vierzig Klafter unter der Erd
bei Nattern und bei Schlangen...usw.

9.8.3.6. 4a.

(Kontrafaktur der Arbeiterjugend Weberlied v. G. Hauptmann)

1.
Hier im Ort ist ein Gericht,
noch schlimmer als die Femen,
wo man nicht erst ein Urteil spricht,
das Leben schnell zu nehmen.

2.
Hier wird der Mensch langsam gequält,
hier ist die Folterkammer,
hier werden Seufzer viel gezählt
dals Zeugen von dem Jammer...usw.

9.8.3.7. 5.

(1913 vertont durch Wandervogel H. Engel)

1.
Ich reise übers grüne Land
der Winter ist vergangen.
Hab um den Hals ein gülden Band.
daran die Laute hangen.

2.
Der Morgen tut ein' roten Schein,
den recht mein Herze spüret
Da greif ich in die Saiten ein,
der liebe Gott mich führet.

3.
So silbern geht der Ströme Lauf,
fernüber schallt Geläute.
Die Seele ruft in sich: "Glück auf!"
Rings grüßen frohe Leute.

4.
Mein Herz ist recht von Diamant,
ein Blum von Edelsteinen:
die funkelt lustig übers Land
in tausend schönen Scheinen.

5.
Wie bist du schön! Hinaus, im Wald
gehen Wasser auf und unter.
Im grünen Wald sing, dass es schallt;
mein Herz, bleib frei und munter!

6.
Die Sonne uns im Dunkeln lässt,
im Meere sich zu spülen:
da ruh ich aus vom Tagesfest
fromm in der roten Kühlen.

7.
Hoch führet durch die stille Nacht
der Mond die goldnen Schafe;
den Kreis der Erden Gott bewacht,
wo ich tief unten schlafe.

8.
Wie liegt all falsche Pracht so weit!
Schlaf wohl auf stiller Erde!
Gott schütz dein Herz in Ewigkeit,
dass es nie traurig werde.

9.8.3.8. 6.*

1.
Heut noch sind wir hier zu Haus,
morgen geht's zum Tor hinaus,
und wir müssen wandern,
keiner weiß vom andern.

2.
Lange wandern wir umher
durch die Lande kreuz und quer,
wandern auf und nieder,
keiner sieht sich wieder.

3.
Und so wandr' ich immer zu,
fände gerne Rast und Ruh',
muß doch weiter gehen,
Kält und Hitz ausstehen.

4.
Manches Mägdlein lacht mich an.
Manches spricht: "Bleib guter Mann!"
Ach, ich bliebe gerne,
muß doch in die Ferne.

5.
Und die Ferne wird mir nah,
endlich ist die Heimat da.
Aber euch ihr Brüder
seh' ich niemals wieder.

*Anmerkung: Die tragische Seite des (Aus-) Wanderns wird hier durch den politischen Asylanten Hofmann v. Fallersleben (1848) poetisiert. Strophe 1 (1840) stammt nicht von ihm, so dass es sich um eine typische Zudichtung handelt.

9.8.3.9. 7.*

1.
Hoch auf dem gelben Wagen
sitz ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse traben,
lustig schmettert das Horn. 
Wiesen, Felder und Auen,
leuchtendes Ährengold.
Ich möchte gern ruhen und schauen,- 
aber der Wagen, der rollt.

2.
Flöten hör ich und Geigen,
lustiges Bassgebrumm;
junges Volk im Reigen
tanzt um die Linde herum.
Fliegen die Röcke im Winde,
jauchzt und lacht und tollt.
Bliebe so gern bei der Linde,
aber der Wagen, der rollt.

3.
Postillion in der Schänke
füttert die Rosse im Flug.
Schäumendes Gerstengetränke
reicht der Wirt uns im Krug.
Hinter den Fensterscheiben
lacht ein Gesicht so hold.
Möchte so gerne noch bleiben,
aber der Wagen, der rollt.

4.
Sitzt einmal ein Gerippe
hoch bei dem Schwager vorn,
hält statt der Peitsche die Hippe,
Stundenglas statt dem Horn,
sag ich: Ade nun ihr Lieben,
die ihr nicht mitfahren wollt;
ich wäre so gern noch geblieben,
aber der Wagen, der rollt.

*Anmerkung: Ein typisches Beispiel für ein „volkstümliches“ Lied, das dennoch Karriere in der (späteren) Jugendbewegung machte! Fast alle Liederbücher schreiben es „dem Wandervogel“ zu, obwohl der Text vom „Gesangsvereins-Poeten“ R. Baumbach stammt

9.8.3.10. 8.*

1.
Der Tod reit' auf einem kohlschwarzen Rappen,
er trägt ein undurchsichtig Kappen.
Wenn Landsknecht durch das Feld marschieren,
lässt er sein Ross daneben galoppieren.
Flandern in Not! In Flandern reitet der Tod.

2.
Der Tod reit' auf einem lichten Schimmel,
so schön wie ein Cherubim im Himmel.
Wenn Mädchen ihren Reigen schreiten,
will er mit ihnen im Tanze gleiten.
Falalala!

3.
Der Tod kann auch die Trommel rühren,
du kannst den Wirbel im Herzen spüren.
Er trommelt lang, er trommelt laut
er trommelt auf einer toten Haut.
Flandern in Not! In Flandern reitet der Tod.

4.
Und als er den ersten Wirbel geschlagen,
da hat's das Blut vom Herzen getragen.
Und als er den zweiten Wirbel schlug,
den Landsknecht man zu Grabe trug.
Flandern in Not! In Flandern reitet der Tod.

5.
Der dritte Wirbel ist so lang gegangen,
bis. d. Landsknecht v. Gott d. Segen empfangen.
Der dritte Wirbel geht leis und lind,
als wiegt eine Mutter in Schlaf ihr Kind.
Falalala!

6.
Der Tod kann Rapp und Schimmel reiten,
der Tod kann lächelnd im Tanze gleiten.
Er trommelt laut, er trommelt fein;
gestorben, gestorben, gestorben muß sein!
Flandern in Not! In Flandern reitet der Tod.

*Anmerkung: Elsa v. Wolzogen verfasste dieses Poem 1917 für die Zeitschrift „Feldwandervogel“. Es sollte wohl den würdelosen Tod in der Materialschlacht (Gas!) für die Wandervogelsoldaten euphemistisch verklären. Die Vertonung benutzt ein Nonnentanzlied des 15. Jahrhunderts.

9.8.3.11. 9.*

(Arbeiterjugend vor 1910 – Str. 7 Zudichtung 1944: Kath. Jugend)

1.
Wann wir schreiten Seit an Seit
und die alten Lieder singen,
und die Wälder widerklingen,
fühlen wir, es muß gelingen:
Mit uns zieht die neue Zeit.

2.
Einer Woche Hammerschlag,
einer Woche Häuserquadern
zittern noch in unsern Adern.
Aber keiner wagt zu hadern. 
Herrlich lacht der Sonnentag.

3.
Birkengrün und Saatengrün: 
Wie mit bittender Gebärde
hält die alte Mutter Erde,
dass der Mensch ihr eigen werde,
ihm die vollen Hände hin.

4.
Wort und Lied und Blick und Schritt.
Wie in uralt-ew'gen Tagen
wollen sie zusammenschlagen.
Ihre starken Arme tragen
unsre Seelen fröhlich mit.

5.
Mann und Weib und Weib und Mann
sind nicht Wasser mehr und Feuer,
um die Leiber legt ein neuer
Frieden sich, wir blicken freier,
Mann und Weib, uns freier an.

[7.]
Heil'gem Kampf sind wir geweiht.
Gott verbrennt in Zornesfeuern
eine Welt, sie zu erneuern,
wollen machtvoll wir beteuern.
Christus, Herr der neuen Zeit!

*Anmerkung: Der Text wurde von „Arbeiterjugend-Dichter“ Hermann Claudius um 1910 verfasst. Er konvertierte später zum Nationalsozialismus. Das Lied wurde erst nach 1918 zum Allgemeingut der Jugendbewegung, stets ohne Strophe 5, die nicht ins männerbündische Konzept passt (im Gegensatz zur koedukativen sozialistischen Jugendbewegung).

9.8.3.12. 10.*

1.
Aus grauer Städte Mauern
ziehn wir durch Wald und Feld.
Wer bleibt, der mag versauern,
wir fahren in die Welt.
Halli, hallo wir fahren in die Welt!

2.
Der Wald ist unsre Liebe,
der Himmel unser Zelt.
Ob heiter oder trübe,
wir fahren in die Welt.
Halli, hallo, wir fahren ...

3.
Ein Heil dem deutschen Walde,
zu dem wir uns gesellt!
Hell klingt's durch Berg und Halde:
Wir fahren in die Welt.
Halli, hallo, wir fahren ...

4.
Die Sommervögel ziehen
schon über Wald und Feld.
Da heißt es Abschied nehmen,
wir fahren in die Welt.
Halli, hallo, wir fahren ...

*Anmerkung: Das Liederbuch des Kath. Jugendwerks Österreichs (1948) ersetzt den „deutschen“ durch den „schönen“ Wald, im Gegensatz zum Liederbuch der österr. Alpenvereinsjugend und zu deutschen Liederbüchern. Der Gruß „Heil“ war in Turner-Kreisen schon vor der Jahrhundertwende üblich („Berg Heil2 – „Petri-Heil“ usw.), im völkischen Umfeld war er allerdings wegen seiner „germanischen“ Herkunft besonders populär, weshalb die sozialistischen „Naturfreunde“ sich den Gipfelgruß „Berg frei“ zuriefen.

9.8.3.13. 11.

1.
Frisch auf, Berggefährten, der Morgen ergraut
steigt hinauf in die sonnige Höh',
in die Welt, die so hoch über Wolken gebaut,
lasst im Tale Jammer und Weh!
In kurzer Wichs und Nagelschuh,
am grauen Berghut das Edelweiß.
Wir sind die Fürsten dieser Welt
und die Herren in Fels und Eis.
Juvivalleri, juvivallera ...

2.
Wo der Wände Flucht am steilsten niedersaust,
hei, da pack ich am liebsten sie an.
ob der Steinschlag auch gellt,
ob der Sturm mich umbraust,
ich erkämpfe mir mutig die Bahn.
Nach hartem Kampf der Gipfel fällt,
laut ertönt unser Hei-juchhe.
Wir sind die Fürsten ... usw.

3.
Ob in eisiger Kluft auch Gefahren uns droh' n,
ob die Sonne versengend auch glüht,
steigt hinauf,wo im Lichte d. Firne noch loh'n,
wo die Blume der Romantik noch blüht.
Der Pickel blitzt, die Wächte fällt,
wir aber jubeln laut und wild:
Wir sind die Fürsten dieser Welt usw.

4.
Wenn der Abend sich still auf die Berge senkt,
und die Gipfel im Abendrot glüh'n,
hab ich längst meine Schritte zu Tale gelenkt,
streck mich aus in dem schwellenden Grün.
Das Feuer loht, das warm uns hält,
ein frohes Lied zur Gitarr erschallt:
Wir sind die Fürsten dieser Welt,
unser Reich ist der rauschende Wald ... usw.

5.
Und hätt' ich einmal, wenn das Schicksal es will,
einen tiefen Sturz getan,
dann tret ich wie immer, gelassen und still,
meine letzte Bergfahrt an.
Ob es uns auch droben wohlgefällt,
ja, das schafft uns keine Pein:
Wir war'n die Fürsten dieser Welt
und wollen es droben auch sein...usw

9.8.3.14. 12.*

1.
Drunten im Unterland da ist's halt fein.
Schlehen im Oberland,
Trauben im Unterland!
Drunten im Unterland möchte i wohl sein.

3.
Kalt ist's im Oberland, drunten ist's warm,
Oben sind d'Leut so reich,
d' Herzen sind gar net weich,
sehnt mi net freundli na, werden net warm.

4.
Aber da unten rum, da sind d'Leut arm,
aber so froh und frei
und in der Liebe treu.
Drum sind im Unterland d'Herzen so warm.

*Anmerkung: Das ÖAV-Liederbuch (1950er) enthält ein „Gegenlied“: „Droben im Oberland“. Es ist kurz nach dem Unterländer-Lied (1835) in verschiedenen Varianten entstanden. „Heimaten“ konkurrieren um einen Schönheitspreis: „Ubi patria – ibi bene!"

9.8.3.15. 13.

1.
Kein schöner Land in dieser Zeit
als hier das unsre weit und breit,
wo wir uns finden
wohl unter Linden
zur Abendzeit.

2.
Da haben wir so manche Stund
gesessen da in froher Rund
und taten singen,
die Lieder klingen
im Eichengrund.

3.
Dass wir uns hier in diesem Tal
noch treffen soviel hundertmal,
Gott mag es schenken,
Gott mag es lenken,
Er hat die Gnad.

4.
Nun, Brüder eine gute Nacht!
der Herr im hohen Himmel wacht.
In seiner Güten
uns zu behüten,
ist er bedacht.

5.*
Ihr Brüder wisst, was uns vereint,
ein andre Sonne hell uns scheint;
in ihr wir leben,
zu ihr wir streben
als die Gemeind.

*Anmerkung: Strophe 5 ist nur im Liederheft „Mundorgel“ (1950er) der evang. Jugend (CVJM) enthalten. Es handelt sich um ein geistliches Volkslied aus protestantischem Milieu, das von der Jugendbewegung als „Heimatlied“ gebraucht wurde (auch in der NS-Zeit).

9.8.3.16. 15.

1.
Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde rauhes Gesicht.
Wir sind schon der Meere so viele gezogen,
und dennoch sank unsre Fahne nicht.
Heijo, heijo ... usw.

2.
Unser Schiff gleitet stolz durch d. schäumenden Wellen,
jetzt strafft der Wind unsre Segel mit Macht.
Seht ihr hoch droben die Fahne sich wenden,
die blutrote Fahne, ihr Seeleut habt acht!
Heijo, heijo ... usw.

3.
Wir treiben d. Beute mit fliegenden Segeln,
wir jagen sie weit auf das endlose Meer.
Wir stürzen aufs Deck und wir kämpfen wie Löwen
hei, unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr!
Heijo, heijo ... usw.

4.
Ja, wir sind Piraten und fahren zu Meere,
wir fürchten nicht Tod und Teufel dazu.
Wir lachen der Feinde u. aller Gefahren,
im Grunde des Meeres erst finden wir Ruh.
Heijo, heijo ... usw.

9.8.3.17. 16.*

1.
Die Steppe zittert, und es klopfen harte Hufe,
auf schnellen Pferden naht ein Reiterheer.
Es knallen Peitschen, und es gellen unsre Rufe
vom Kuban bis zum Schwarzen Meer.
Die harte Faust umspannt die kurze Lanze
zum Stoß bereit, denn zahlreich
sind der Feinde Scharen.
Abends ruft die Trommel uns zum Tanze.
Die Nacht ist traumlos, kurz und schwer.
Heijo ... Wir sind Kosaken vom Don – heij!

2.
Noch gestern jagten wir in scharfen Nahgefechten
den feigen Räubern unsre Herden ab;
doch unser Hetman fiel, es sank die tapfre Rechte,
die manchen schon geschickt ins Grab.
Doch unsre Säbel haben scharf geschnitten,
wie Hunde haben wir das
Diebespack erschlagen.
Dann sind wir die Nacht wie toll geritten,
uns führt ein toter Hetman an.
Heijo ... Wir sind Kosaken vom Don – heij!

3.
Durch unsre Dörfer heulen laut die Klageweiber,
die Trommel dröhnet dumpf zum Totentanz.
Und um den Scheiterhaufen liegen tote Leiber
von Feinden, die er selbst bezwang.
Die Flamme loht, der Haufen bricht zusammen,
zum Rachezug tönt das Kommando: "aufgesessen!"
Kameraden rottet euch zusammen,
Kosakenhorden reiten schnell.
Heijo ... usw.

*Anmerkung: Das Lied ist weitgehend mündlich überliefert, vermutlich als holprige Übersetzung aus dem Russischen. Es stammt aus den Kreisen der „deutschen jungenschaft 1.11.“ (um 1930). Nur im Liederheft der ÖAV-Jugend (1950er) findet sich eine allerdings verstümmelte Fassung der 1. Strophe. Dennoch war es außerordentlich beliebt und in handschriftlichen Aufzeichnungen verbreitet.

9.8.3.18. 17.

1.
Wenn alle untreu werden,
so bleiben wir doch treu,
dass immer noch auf Erden
für euch ein Fähnlein* sei.
Gefährten unsrer Jugend,
ihr Bilder bessrer Zeit,
die uns zu Männertugend
und Liebestod geweiht.

2.
Wollt nimmer von uns weichen,
uns immer nahe sein,
treu wie die deutschen Eichen,
wie Mond und Sonnenschein!
Einst wird es wieder helle
in aller Brüder Sinn,
sie kehren zu der Quelle
in Lieb und Treue hin.

3.
Es haben wohl gerungen
die Helden jener Frist,
und nun der Sieg gelungen,
übt Satan neue List.
Doch wie sich auch im Leben
gestalten mag die Zeit,
du sollst mir nicht veralten,
o Traum der Herrlichkeit!

4.
Ihr Sterne seid uns Zeugen,
die ruhig niederschaun,
wenn alle Brüder schweigen
und falschen Götzen traun.
Wir wolln das Wort nicht brechen,
nicht Buben* werden gleich,
wolln predigen und sprechen
vom Heilgen Deutschen Reich*

*Anmerkung: Dieses „Volkslied“ ist aus einer aktuellen historischen Situation entstanden: Max v. Schenkendorf hat es nach dem Ende der Befreiungskriege 1814 gedichtet. Besonders die in Str. 3 und 4 angesprochene Aktualität dürfte den Singern nach 100 Jahren nicht mehr bewusst gewesen sein, auch nicht die Sehnsucht nach dem „Heiligen Deutschen Reich“, das nicht mit dem „Dritten Reich“ des NS zu verwechseln ist. „Fähnlein“ ist eine Organisationsform der Landsknechte, „Buben“ bedeutet noch „Ehrlose“. Der prominente Wandervogel W. Hensel hat das Lied nach dem Ersten Weltkrieg vertont (Wilhelmuslied) und in die Jugendbewegung gebracht, wo es zum bündischen Treuebegriff passte.

9.8.3.19. 18.*

1.
Wildgänse rauschen durch die Nacht
mit schrillem Schrei nach Norden - 
Unstäte Fahrt! Habt acht, habt acht! 
Die Welt ist voller Morden.

2.
Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt,
graureisige Geschwader!
Fahlhelle zuckt, und Schlachtruf gellt,
Weit wallt und wogt der Hader.

3.
Rausch zu, fahr zu, du graues Heer!
Rauscht zu, fahrt zu nach Norden!
Fahrt ihr nach Süden übers Meer -
was ist aus uns geworden!

4.
Wir sind wie ihr ein graues Heer
und fahrn in Kaisers Namen,
und fahrn wir ohne Wiederkehr,
rauscht uns im Herbst ein Amen.

*Anmerkung: Dieses Lied des Wandervogelleutnants Walter Flex ist aus einer aktuellen Kriegssituation entstanden (1916). Es findet sich am Beginn seiner Kriegserzählung „Der Wanderer zwischen beiden Welten“: „... sang und pfiff es schneidend, schrill und klagend, und hoch über den feindlichen Heerhaufen, die sich lauernd im Dunkel gegenüberlagen, zogen mit messerscharfem Schrei wandernde Graugänse nach Norden“. Dieser Kontext eines bedrohlich unseligen Krieges war vielen Jugendbewegten bekannt, als das Gedicht um 1930 vertont wurde.

9.8.3.20. 19.

Wenn die Fahrtenmesser blitzen
und die Hitlerjungen flitzen,
die Navajos* hinterher ...
Was kann das Leben
Hitlers uns geben?
Wir wollen frei vom Hitler sein.

*Anmerkung: „Navajos“ nannte sich nach einem Indianerstamm eine bündische Widerstandsgruppe.

9.8.3.21. 20.

1.
Wir trampen in die Weite
und singen in den Wind.
Viel Tausend uns zur Seite,
die auch verboten sind. 
Wir sind der Bünde buntes Heer,
uns lockt der Ferne Ruf,
und um uns her ein dunkles Meer,
das schwarze Hölle schuf.

2.
Wir sind nicht nur die Reste,
von denen Baldur* sprach,
wir wären nicht die Letzten,
so sagt man uns wohl nach.
Nicht dreimal 100.000,
sehr viele sind es doch!
Es klingt ein Ruf, ein Brausen:
Die bünd'sche Jugend lebt noch!

*Anmerkung: Gemeint ist „Reichsjugendführer“ Baldur v. Schirach.

9.8.3.22. 20a.

Wir traben in die Weite,
das Fähnlein weht im Wind.
Viel Tausend mir zur Seite,
die ausgezogen sind,
ins Feindesland zu reiten,
hurra, Viktoria!
Fürs Vaterland zu streiten,
hurra, Viktoria!

9.8.3.23. 21.

(Katholische Jugendbewegung 1934)

1.
Wir stehn im Kampfe und im Streit
mit dieser bösen Weltenzeit,
die über uns ist kommen.
Sankt Jürg, du treuer Gottesmann,
wir rufen deinen Namen an,
weil unser Mut beklommen.

2.
Das Böse überkommt Gewalt,
und keiner sagt dem Satan Halt!
Wir sind in argen Nöten.
Sankt Jürg, du bist allzeit gerecht,
schaff Urteil über Gut und Schlecht,
du kannst den Drachen töten!

3.
Die Lüge ist gar frech und schreit
und hat ein Maul so höllenweit,
die Wahrheit zu verschlingen.
Sankt Jürg, bewahre diesen Hort,
bewahr die Sprache und das Wort
du kannst die Lüge zwingen.

4.
Die böse List zerbrach den Bann
und fiel so manchen Menschen an
und hat den Mut zerschlagen.
Sankt Jürg, du bist der Heldenmut,
der Ritter stolz, der Adel gut,
du kannst den Trug verjagen.

5.
Erhebe dich, besteig dein Pferd
nimm Lanzenschaft und Schild und Schwert,
dann hilf uns tapfer kriegen!
Sankt Jürg, du unser Schutzpatron,
befreie uns und brich die Fron,
dass wir im Glauben siegen!

9.8.3.24. 22.

(Wandervogel-Bundeslied mit den Bundesfarben Grün, Rot, Gold)

1.
Wenn früh der erste Sonnenstrahl
wohl küsset unsre Erde,
erheben wir uns allzumal
voll Lust und ohn Beschwerde.
Zum Ränzel greifen wir dann schnell,
stelln uns in Reih und Glieder
und singen nun,die Augen hell, 
die schönsten Heimatlieder.

2.
Die "Wandervögel sind wir ja,
bekannt in deutschen Landen;
wir schlagen froh mit Hussassa
wohl alle Not in Banden.
Wir streifen durch die grüne Au,
und auf die Berg wir steigen,
dass überall das Auge schau,
was Gott uns gab zu eigen.

3.
O Deutschland, unser Vaterland
dich rühmet unsre Kehle;
wir grüßen dich mit Aug und Hand,
und weihn dir Herz und Seele.
Zum Zeichen, dass wir ehren dich,
schmückt uns dein Grün der Wälder,
dass wir dich lieben inniglich,
das Saatgrün deiner Felder.

4.
Und Rot und Gold, sie deuten an,
dass brüderlich wir handeln
und dass wir alle, Mann für Mann,
stets lauter wollen wandeln.
Ja, Lauterkeit in Ernst und Scherz
soll unsre Schritte lenken,
und stetig uns ein frohes Herz
und deutschen Sinn uns schenken.

9.8.3.25. 23.

1.
Sprung auf und in das Leben,
ihr jungen Kameraden! 
Wir wollen wie die Reben 
im Sonnenlicht uns baden.
Tralalero, tirallalalero ... usw.

2.
Des Morgenrotes Strahlen
erfüllen uns mit Freude.
Zerbrecht des Dunkels Schalen,
schafft mit am Lichtgebäude!
Tralalero ... usw.

3.
Zerreißt des Bürgers Ruhe
mit gellenden Fanfaren!
Er schnarcht auf seiner Truhe,
ihr stürmt in hellen Scharen!
Tralalero ... usw.

9.8.3.26. 24.*

(aus den Befreiungskriegen 1814)

1.
Flamme empor! 
Steige mit loderndem Scheine
von den Gebirgen am Rheine
glühend empor.

2.
Siehe, wir stehn
treu im geweiheten Kreise,
dich zu des Vaterlands Preise
brennen zu sehn!

3.
Heilige Glut,
rufe die Jugend zusammen Brüder,
dass bei den lodernden Flammen
wachse der Mut!

4.
Auf allen Höhn
leuchte du flammendes Zeichen,
dass alle Feinde erbleichen, 
wenn sie dich sehn!

5.
Finstere Nacht
lag auf Germaniens Gauen; 
da ließ der Herrgott sich schauen,
der uns bewacht.

6.
„Licht brich herein!“,
sprach er, da glühten die Flammen,
schlugen in Gluten zusammen
über den Rhein.

7.
Und er ist frei!
Flammen umbrausen die Höhen,
die um den Herrlichen stehen;
jauchzt: Er ist frei!

8.
Stehet vereint,
und lasst uns mit Blitzen
unsre Gebirge beschützen
gegen den Feind!

9.
Leuchtender Schein,
siehe, wir singenden Paare
schwören am Flammenaltare,
Deutsche zu sein!

10.
Höre das Wort!
Vater, auf Leben und Sterben
hilf uns, die Freiheit erwerben!
Sei unser Hort!

*Anmerkung: Dieses Lied wurde kaum je mit allen Strophen gesungen, weil die enge historische und geographische Bindung nicht für den Gebrauch in allen Gruppen relevant war. Von Auslassung betroffen waren vor allem die Strophen 4–8. Arbeiterbewegung und Siedlungsbewegung (Schlüchternlied) schufen sich ihre eigenen Kontrafakturen und emanzipierten sich so von der engen historischen Bindung. Z.B.: „lodre aus Leiden und Schmerzen ... Freiheit hervor!“ (Arbeiterjugend – Max Barth).

9.8.3.27. 25.*

(Hans Baumann vor 1933)

1.
Es zittern die morschen Knochen
der Welt vor dem roten Krieg,
wir haben den Schrecken gebrochen,
für uns wars ein großer Sieg.
Wir werden weitermarschieren,
wenn alles in Scherben fällt -
denn heute gehört (hört)* uns Deutschland
und morgen die ganze Welt.

2.
Und liegt vom Kampfe in Trümmern
die ganze Welt zuhauf,
das soll uns den Teufel kümmern,
wir bauen sie wieder auf.
Wir werden weitermarschieren ...

3.
Und mögen die Alten auch schelten,
so lasst sie nur toben uns schrein,
und stemmen sich gegen uns Welten,
wir werden doch Sieger sein.
Wir werden weitermarschieren ...

4.
Sie wollen das Lied nicht begreifen,
sie denken an Knechtschaft und Krieg -
derweil unsre Äcker reifen.
Du Fahne der Freiheit, flieg!
Wir werden weitermarschieren ...

*Anmerkung: Das Lied hat eine bewegte Textgeschichte hinter sich. Verfasser Baumann war zur Zeit der Entstehung vor 1933 Mitglied des kath. Schülerbundes „Neudeutschland“. Dennoch wurde es in der Jugendbewegung nicht rezipiert. Nach Baumanns Beitritt zur Hitlerjugend wurde es zum bekanntesten HJ-Lied. Im Lauf der 30er Jahre erfuhr es etliche Zu- und Umdichtungen. Die Strophen 3 und 4 wurden von Baumann selbst hinzugefügt. Der Austausch von „gehört“ zu „hört“ erfolgte 1936, als zur Zeit der Olympiade Friedensbeteuerungen Hitlers aktuell waren (vgl. Lied Nr.35 und 37).

9.8.3.28. 16.*

(Ballade von Börries v. Münchhausen)

1.
Die Glocken stürmten v. Bernwardsturm,
der Regen durchrauschte die Straßen,
und durch die Glocken und durch den Sturm
erschallte des Urhorns Blasen.

2.
Das Büffelhorn, das so lang geruht,
Veit Stoßberg nahm's aus der Lade.
Das alte Horn es schreit nach Blut
und wimmert: "Gott Genade!"

3.
Ja, gnade dir Gott, du Ritterschaft,
der Bauer stund auf im Lande,
und tausendjährige Bauernkraft
macht Schilde und Schärpe zu Schande.

4.
Die Klingsburg hoch am Berge lag,
sie zogen hinauf in Waffen.
Auframmte der Schmied mit einem Schlag
das Tor, das er fronend geschaffen.

5.
Dem Ritter fuhr ein Schlag ins Gesicht,
ein Spaten zwischen die Rippen.
Er brachte das Schwert aus der Scheide nicht
und nicht den Fluch von den Lippen.

6.
Aufrauschte die Flamme mit aller Kraft,
brach Balken und Bogen und Bande.
Ja, gnade dir Gott, du Ritterschaft,
der Bauer stund auf im Lande!

*Anmerkung: Bereits die Wandervögel pflegten die Volksballade. Aber erst die bündische „Jungenschaft“ übernahm und vertonte Münchhausens Text, weil in ihm der Idealtyp des heldisch kämpferischen Renegaten verkörpert wurde.

9.8.3.29. 27.*

1.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt,
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Tal und Strom und Feld.

2.
Die Trägen, die zu Hause liegen,
erquicket nicht das Morgenrot,
sie wissen nur von Kinderwiegen,
von Sorgen, Rast und Not um Brot.

3.
Die Bächlein von den Bergen springen,
die Lerchen jubeln hoch vor Lust;
wie sollt ich nicht mit ihnen singen
aus voller Kehl und frischer Brust.

4.
Den lieben Gott lass ich nur walten;
der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd und Himmel will erhalten,
hat auch mein Sach aufs best bestellt.

*Anmerkung: Das Lied entstammt Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Es hatte für die Wandervögel paradigmatische Bedeutung: Die Vaganten-Freizeitwanderung wird über die bürgerliche Arbeitswelt gestellt.

9.8.3.30. 28.*

1.
Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,
wer lange sitzt muß rosten.
Den allersonnigsten Sonnenschein 
lässt uns der Himmel kosten.
Jetzt reicht mir Stab und Ordenskleid
der fahrenden Scholaren,
ich will zu guter Sommerzeit
ins Land der Franken fahren.

2.
Der Wald steht grün, die Jagd geht gut,
schwer ist das Korn geraten. 
Sie können auf des Maines Flut
die Schiffe kaum verladen.
Bald hebt sich auch das Herbsten an,
die Kelter harrt des Weines.
Der Winzer Schutzherr Kilian
beschert uns etwas Feines.

5.
Einsiedelmann ist nicht zu Haus,
die weil es Zeit zu mähen;
ich seh ihn an der Halde drauß
bei einer Schnittrin stehen.
Verfahrner Schüler Stoßgebet
heißt: "Herr, gib uns zu trinken!"
Doch wer bei schöner Schnittrin steht,
dem mag man lange winken.

6.
Einsiedel, das war missgetan,
dass du dich hubst von hinnen!
Es liegt, ich sehs dem Keller an,
ein guter Jahrgang drinnen.
Hoiho! Die Pforten brech ich ein
und trinke, was ich finde!
Du heil'ger Veit von Staffelstein,
verzeih mir Durst und Sünde!

*Anmerkung: Nicht in allen Liedersammlungen der Jugendbewegung findet dieses Lied Viktor v. Scheffels seinen Platz - aus gutem Grund: Einmal huldigt es dem Alkohol (Wein), zum anderen weist es antiklerikale Ironisierungen auf (bes. Strophen 3 und 4, die hier nicht aufgeführt sind). Das weinselige Vagantenleben war für viele Wandervögel der ersten Stunde jedoch eine idealisierte Lebensform, wie übrigens auch für die von ihnen abgelehnten Studentenkorporationen.

9.8.3.31. 29.*

1.
Ein Heller und ein Batzen,
die waren beide mein,
der Heller ward zu Wasser,
der Batzen ward zu Wein.

2.
Die Wirtsleut und die Mädel,
die rufen beid: "O weh!",
die Wirtsleut, wenn ich komme, 
die Mädel, wenn ich geh.

3.
Mein' Stiefel sind zerrissen,
mein Schuh, die sind entzwei,
und draußen auf der Heiden,
da singt ein Vogel frei.

4.
Und gäbs kein Landstraß nirgends,
da säß ich still zu Haus,
und gäbs kein Loch im Fasse,
da tränk ich gar nicht draus.

5.
War das nicht eine Freude,
als mich der Herrgott schuf;
nen Kerl wie Samt und Seide,
nur schade, dass er suff!

*Anmerkung: Das Sauflied von 1830 wurde nicht von allen Liederbüchern der Jugendbewegung übernommen; es findet sich jedoch in „Wandervogels Singebuch“ (1918) und im Liederbuch der österreichischen AV-Jugend (ca. 1960). Es handelt sich um ein typisches Studenten-Trinklied, das Wandervögel und bündische Jugend wegen seiner „Bacchanten“-Mentalität rezipierten. Vor allem spielte dabei wohl die schneidige Melodie eine Rolle – so recht geeignet für pubertäres „Chorgebrüll“ (Refrain: „Heidiheido-hahaha“)

9.8.3.32. 30.*

(Hans Baumann ca. 1935)

1.
Und die Morgenfrühe, das ist unsre Zeit,
wenn die Winde um die Berge singen.
Die Sonne macht dann die Täler weit,
und das Leben, das wird sie uns bringen.

2.
Alle kleinen Sorgen sind nun ausgemacht,
in die Hütten ist der Schein gedrungen.
Nun ist gefallen das Tor der Nacht,
vor der Freude, da ist es zersprungen.

3.
In der hellen Morgenfrühe sind wir da,
einer wird uns hier den Weg vertreten.
Die Städte weit und die Felder nah,
und die Lerchen, die hören wir beten.

4.
Wie ein blanker Acker ist die Erde jetzt.
Her zu uns, dass wir die Saat beginnen!
Ein Hunger ist in die Augen gesetzt:
Neue Lande wolln wir uns gewinnen.

*Anmerkung: Nach seiner Konversion zum Nationalsozialismus stieg Baumann zum Leiter der gesamten HJ-Feierkultur auf. Dennoch ist der Verfasser des Lieds von den „morschen Knochen“ (vgl. Nr. 25) auch nach 1945 mit seinen Liedern in vielen jugendbewegten Liedersammlungen Deutschlands und Österreichs vertreten. Lebensideologische „Blubo“- und Eroberungs-Mentalität scheint z.B. auch in Strophe 4 des vorliegenden „Morgenlieds“ auf, wie sie auch in jugendbewegten „Siedlungs“-Kreisen (z.B. Artamanen) vertreten wurde.

9.8.3.33. 31.*

1.
Wenn die bunten Fahnen wehen,
geht die Fahrt wohl übers Meer.
Wolln wir ferne Lande sehen,
fällt der Abschied uns nicht schwer.
Leuchtet die Sonne, ziehen die Wolken,
klingen die Lieder weit übers Meer.

2.
Sonnenschein ist unsre Wonne,
wie er lacht am lichten Tag. 
Doch es geht auch ohne Sonne,
wenn sie mal nicht scheinen mag.
Blasen die Stürme, brausen die Wellen,
singen wir mit dem Sturm unser Lied.

3.
Hei, die wilden Wandervögel
ziehen wieder durch die Nacht,
schmettern ihre alten Lieder,
dass die Welt vom Schlaf erwacht.
Kommt dann d. Morgen, sind sie schon weiter
über die Berge, wer weiß, wohin.

4.
Wo die blauen Gipfel ragen,
lockt so mancher steile Pfad.
Immer vorwärts ohne Zagen,
bald sind wir dem Ziel genaht.
Schneefelder blinken,schimmern v. ferne her,
Lande versinken im Wolkenmeer.

*Anmerkung: Dieses ungemein populäre Lied der Jugendbewegung stammt aus Kreisen der „Jungenschaft“ um 1930. Es weist wichtige Mentalitäts-Elemente dieses „männerbündischen“ Milieus auf (vgl. die Hervorhebungen).

9.8.3.34. 32.*

1.
Wir sind durch Deutschland* gefahren
vom Meer bis zum Alpenschnee.
Wir haben noch Wind in den Haaren,
den Wind von den Bergen und Seen.

2.
Den Kamerad uns zur Seite,
so zogen wir durch das Land.
Wir zogen die Länge und die Breite
durch Regen und Sonnenbrand.

3.
In den Augen das Leuchten der Sterne,
das Flimmern der Heidsonnen Glut
und tief in der Seele das Ferne,
das Sehnen, das nimmermehr ruht.

4.
In den Ohren das Rauschen der Ströme*,
der Wälder raunenden Klang*,
das Geläut von den Glocken der Dome,
der Felder Lerchengesang.

5.
Wir sind zur Freude geboren
und nicht zum Trauern hier,
in Traurigkeit gehen wir verloren,
in Freude siegen wir.

6.
So sind wir durch Deutschland gefahren
vom Meer bis zum Alpenschnee.
Wir werden noch weiter fahren,
um deutsche Lande zu sehn.

*Anmerkung: Die Editionsgeschichte dieses populären Liedes verliert sich im Ungewissen. Folge der meist mündlichen Überlieferung sind zahlreiche auch sinnverändernde Textvarianten: Statt „Deutschland“ (Str. 1) lässt der ÖAV um 1960 seine Jugendlichen „Welt“ singen, „Brausen der Stürme“ statt „Rauschen der Ströme“ in einem sehr späten Liederheft (1988), „raunender Klang“ statt „Sang“ usw. Strophe 5 taucht nur in der „Mundorgel“ (um 1960) auf und fällt auch thematisch aus dem Rahmen – vielleicht eine Zudichtung, die mit gleichem Text auch anderen Liedern beigefügt wurde (von wem? warum?). Das Lied stammt vermutlich von Arbeiter-Texter W. Gättke um 1930 im Günther Wolff-Vlg. Es erscheint jedoch in keiner Liedersammlung der NS-Zeit, dafür um so häufiger nach 1945. Es ist deutlich geprägt vom Geist der bündischen Jugend.

9.8.3.35. 33.*

1.
Drei wilde Knaben hielten Wacht
im Wald am Lagerfeuer,
und über ihnen stand die Nacht
so schwarz und ungeheuer.

2.
Und einer sang, und einer schwieg
und schaute zu, versunken,
wie sprühend in die Schwärze stieg
ein irres Heer von Funken.

3.
Der Dritte unterhielt die Glut,
der hatte helle Haare,
und der, der sang, der schuf den Mut
und war erst vierzehn Jahre.

4.
Und der, der schwieg, der schuf den Bund,
dem waren viel verfallen,
die Jungen draußen in der Rund
als Freunde und Vasallen.

*Anmerkung: Verfasser dieses nicht sehr verbreiteten, aber signifikanten Liedes dürfte Eberhardt Köbel, genannt „Tusk“, sein. Er war Gründer und Kultfigur der Jungenschaftsbewegung um 1930. Stefan Georges „... bleibe der Flamme Trabant“ ist in den „Vasallen“ des Bundes wiederzuerkennen. Zentrale Feuersymbolik der bündischen Jugend bestimmt den Text.

9.8.3.36. 34.*

1.
Ich habe Lust, im weiten Feld
zu streiten mit dem Feind
wohl als ein tapfrer Kriegesheld,
der's treu und ehrlich meint.
Wohlan, die Fahne weht,
wohl dem, der zu ihr steht!
Die Trommeln schallen weit und breit:
frisch auf, frisch auf zum Streit!

2.
Willst du nun mit, so sage "ja"
und setze dich zu Pferd!
Das Sattelzeug, es ist schon da,
das dir zu Diensten werd.
Die Hochzeit (Feier)ist bestellt,
die Kirche ist das Zelt,
die Erde ist das Bettelein,
drin schläft man hübsch und fein.

3.
Ihr Musikanten, spielet wohl,
Dukaten sind hier zwei,
und wer da hat ein Säcklein voll,
leg flugs noch welche bei!
Und nun in Fröhlichkeit,
frisch auf, ich bin bereit!
Es helfe uns der liebe Gott
zum Sieg aus aller Not!

*Anmerkung: Beim Jugendtreffen 1913 auf dem Hohen Meißner war dieses Landsknechtslied als eine Art „Lager-Schlager“ in aller Munde. Trotz der „Streitlust“ in Str. 1 handelt es sich nicht um einen bellizistischen Kriegsgesang, sondern um eine antibürgerliche Manifestation des mit dem Expressionismus neu entstehenden Aktivismus („frisch auf ...“).

9.8.3.37. 35.*

1.
Wir sind jung, die Welt ist offen,
o, du schöne weite Welt!
Unsre Sehnsucht, unser Hoffen
zieht hinaus in Wald und Feld.
Bruder lass den Kopf nicht hängen,
kannst ja nicht die Sterne sehn!
Aufwärts blicken, vorwärts drängen!
Wir sind jung, und das ist schön.

2.
Liegt dort hinter jenem Walde
nicht ein fernes, fremdes Land?
Blüht auf grüner Bergeshalde
nicht ein Blümlein 'Unbekannt'?
Lasst uns schweifen ins Gelände,
über Täler, über Höhn,
wo sich auch der Weg hinwende!
Wir sind jung, und das ist schön.

3.
Auf denn, und die Sonne zeige
uns den Weg durch Feld und Hain!
Geht der Tag darauf zur Neige,
leuchtet uns der Sterne Schein.
Bruder, schnall den Rucksack über,
heute soll's ins Weite gehen!
Regen, Wind, wir lachen drüber,
wir sind jung, und das ist schön.

*Anmerkung: Dieses für das Selbstwertgefühl der „jungen Generation“ (um 1930) typische Lied stammt aus der Arbgeiterjugend (vor 1928). Wegen seiner signifikanten jugendbewegten Mentalität wurde es jedoch von vielen Bünden übernommen (z.B. Kath. Jungmännerverband, CVJM, ÖAVJ usw.). Das internationalistische Ziel des „fernen, fremden Landes“ war damals nicht nur typisch für die Arbeiterjugend, sondern allgemeine Tendenz der Jugendlichkeit.

9.8.3.38. 36.*

1.
Junge wach auf, das Leben gebeut!
Hell werben die wirbelnden Trommeln.
Wach auf und wirke dein Werk noch heut,
eh dich dein Tatenversäumen reut!
Einst hilft dir kein Fragen noch Trommeln.
Junge wach auf!

2.
Junge zieh mit, die reisige Schar
ruft froh dich in ihre Reihen,
zu streiten, zu stürmen durch Not und Gefahr,
zu siegen, zu schaffen durchs pfadlose Jahr,
dein Volk aus der Not zu befreien.
Junge, zieh mit!

3.
Junge, fahr mit uns trutzigem Heer
kraftstrotzender lichter Gestalten!
Fahr mit uns durch Wald über Berge u. Meer,
dem Finstern zum Trutz u. dem Lichte zur Ehr
das Banner der Treu zu entfalten!
Junge fahr mit!

4.
Junge, komm mit ans Ende der Welt,
komm mit uns, es ruft dich die Ferne!
Nicht Eisen, noch Feuer, noch Sturm uns hält,
wir fällen, was sich uns entgegenstellt.
Und über uns leuchten die Sterne.
Junge, komm mit!

*Anmerkung: Dieses Lied aus dem Geist der „deutschen jungenschaft“ (um 1930) findet sich nur in jungenschaftlich orientierten Liederbüchern. Anderen war es zu männerbündisch-kämpferisch, auch den Nationalsozialisten. Es enthält den typisch jungenschaftlichen Geist, der sich in Strophe 3 auch politisch äußert. Die bündische Idee ist im „Banner der Treu“ repräsentiert.

9.8.3.39. 37.*

1.
Nun lasst die Fahnen fliegen
in das große Morgenrot,
das uns zu neuen Siegen
leuchtet oder brennt zum Tod!

2.
Denn mögen wir auch fallen - 
wie ein Dom steht unser Staat.
Ein Volk hat hundert Ernten
und geht hundertmal zur Saat.

3.
Deutschland, sieh uns, wir weihen
dir den Tod als kleinste Tat.
Grüßt er einst unsre Reihen,
werden wir die große Saat.

4.
Drum lasst die Fahnen fliegen
in das große Morgenrot,
das uns zu neuen Siegen
leuchtet oder brennt zum Tod.

*Anmerkung: Diese NS-Fahnenhymne belastet ihren Verfasser Hans Baumann mehr als sein Lied von den „morschen Knochen“. Er hat bündische Versatzstücke zu einer Hymne der Jugendverführung kompiliert. Bündische Tatgesinnung wird instrumentalisiert, den „Tod als kleinste Tat“ von jungen Menschen zu fordern, leider nicht ohne Erfolg. Der gleiche Autor war nach dem Krieg als Kinderbuch-Autor erfolgreich.

9.8.3.40. 38.*

1.
Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht,
Fürsten in Lumpen und Loden,
zieh'n wir dahin, bis das Herze uns steht,
ehrlos bis unter den Boden.
Fiedelgewandt in farbiger Pracht,
trefft keinen Zeisig ihr bunter,
ob uns auch Speier und Spötter verlacht,
uns geht die Sonne nicht unter.

2.
Aber da draußen am Wegesrand,
dort bei dem König der Dornen,
klingen die Fiedeln im weiten Gebreit,
singen dem Herrn unser Carmen.
Und der Gekrönte sendet im Tau
tröstende Tränen herunter.
Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau, –
uns geht die Sonne nicht unter.

*Anmerkung: Das Lied ist deshalb so signifikant, weil es die Verbindung zwischen der Mentalität der „Jungenschaft“ und dem Geist der christlichen „Bündischen“ herstellt.



[2470] [GeigerTh 1932], S. 78.

[2471] Bürger, Gottfried August: Programmschriften 1776.

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