Das Bild der heilen Familie ist ein Mythos unserer Gesellschaft. Die Realität ist, dass Familien mit vielen Problemen zu kämpfen haben, dass es mehr seelisches Leid gibt, als man wahrhaben möchte oder zugibt. Wenn sich eine Familie dazu durchringt, einen Psychologen zu Rate zu ziehen, will sie meist Folgendes wissen: Warum geht es uns schlecht? Wo kommen unsere Probleme her? Was müssen wir ändern, damit es uns wieder besser geht?
Die psychologische Erfahrung zeigt, dass seelische Probleme auf seelische Verletzungen zurückzuführen sind, die eine Familie oft über Generationen belasten, und meist mit Gewalt oder gewaltähnlichen Ereignissen verknüpft sind. Die Zeit um die beiden Weltkriege war dabei für viele Salzburger Familien eine sehr prägende. Historische Ereignisse führten zu Erfahrungen, welche die Salzburger noch heute bewusst oder unbewusst beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit diesen belastenden Ereignissen führt zur Lösung der Familienprobleme.
Die hier dargelegte Theorie basiert auf meinem Buch „Die Kinder des Tantalus“. Weitere Informationen dazu finden Sie unter www.opelt.com
Die nachfolgenden Thesen wurden anhand der Erforschung von zirka 3.000 Familien aus dem Bundesland Salzburg erstellt. Auch wenn die Schlussfolgerungen für Mitteleuropa verallgemeinert werden können, sind sie auf jeden Fall für Salzburg zutreffend. Man kann sich seelische Traumatisierungen ähnlich vorstellen wie eine körperliche Verletzung durch einen Unfall. So wie unser Körper Schädigungen seines Gewebes nur bis zu einem gewissen Maß aushält, so nimmt auch die Seele Schaden, wenn sie extremen Bedingungen ausgesetzt wird. Gerade Kriege mit toten Vätern, ausgebombten Müttern, verlorenen Kindern, sexueller Gewalt, Vertreibung, Folter und Verfolgung verlangen den Menschen das Äußerste ab und oft ist es ein Wunder, wie Menschen Kriege überleben, ohne seelisch krank zu werden. Tatsächlich finden wir die Spuren der Gewaltereignisse jedoch in den Ängsten der heute lebenden Menschen wieder.
In meiner langjährigen Tätigkeit an der Salzburger Kinderpsychiatrie wurde deutlich, dass Kinder von Gewalt am stärksten betroffen sind, da sie sich am wenigsten dagegen wehren können. Und je kleiner das Kind ist, desto massiver wirkt sich die Gewalt in seinem Erleben aus. Durch die Bindungsforschung seit John Bowlby wissen wir, dass das Menschenkind ein angeborenes Bedürfnis nach einer sicheren und stabilen Bindung zu einer fixen Bezugsperson hat. Dieses Bedürfnis wird zunächst von der Mutter erfüllt, die das Kind austrägt und trägt, und erweitert sich dann auf Vater, Großeltern, Ersatzbezugspersonen und Verwandte. Ein Vogel, der aus dem Nest fällt, stirbt in kurzer Zeit. Ein Kind, das aus dem Nest der Geborgenheit fällt, überlebt meist, entwickelt aber eine Vielzahl seelischer Probleme. Die Traumaforschung hat nachgewiesen, dass das Zerbrechen des Bindungsverhaltens zwischen Mutter und Kind zur seelischen Erkrankung des Kindes führt. Besonders traumatisierend wirkt sich die Trennung von Mutter und Kind bzw. der frühe Tod der Mutter aus. Eine Mutter, deren Bindungsverhalten gestört ist, hat in der Regel als Kind selbst solche Trennungs- und Verlusterlebnisse gehabt und ist dadurch traumatisiert worden.
Wer von einem Gewaltereignis direkt betroffen ist, kann oft nur durch Verdrängung überleben, weil man sonst der Gefahrensituation überhaupt nicht gewachsen wäre. Ein Soldat, der vor Angst durchdreht, kommt im Kugelhagel um – wie das ja auch das Schicksal der meisten Soldaten der deutschen Wehrmacht gewesen ist: Von vielen Einheiten haben nur wenige überlebt. Und wenn es auch vielleicht ein Ergebnis des Zufalls ist, wer dabei überlebt hat – sehr wahrscheinlich ist, dass darunter viele Menschen mit guten Abwehrmechanismen gewesen sind. Menschen, die ihre Angst verdrängen und einen kühlen Kopf bewahren können, haben im Geschützfeuer eine bessere Überlebenschance.
Ähnlich ergeht es Säuglingen, die in schlechten oder fehlenden Bindungssituationen hineingeboren werden: Viele von ihnen sind einfach gestorben, jedenfalls bis vor kurzer Zeit, als die Säuglingssterblichkeit noch sehr hoch war. Die Menschen, die schlechte Startbedingungen bei der Geburt überlebt haben, konnten und mussten daher ihre seelischen Ängste verdrängen.
Die Gewalterfahrung wird zu einem festen Erlebnismuster, das künftige Erfahrungen filtert und prägt. Geschlagene Kinder ziehen ein Leben lang den Kopf ein, weil sie sich instinktiv vor weiteren Schlägen fürchten. Abgewertete Kinder fürchten sich ein Leben lang vor neuer Abwertung. Geschlagene Frauen geraten immer wieder an brutale Männer. Von den vielen Möglichkeiten, die die Zukunft bietet, erwarten wir meist jene, die wir schon kennen.
Kinder übernehmen die Erlebnismuster der Erwachsenen besonders leicht; Daniel Stern hat das bereits bei Säuglingen nachgewiesen. Kinder entwickeln ihr Denken und Fühlen im Austausch mit den Vorbildern der Erwachsenen. Das tun sie, indem sie möglichst viele Verhaltensweisen der Vorbilder imitieren – darunter leider auch die negativen. Sie verhalten sich wie Computer-Kids, die die leeren Speicher ihres neuen Computers mit allen Programmen aufladen, die sie nur kriegen können. So übernehmen sie die Stärken ihrer Vorfahren, müssen sich aber auch mit ungelösten Programmfehlern herumschlagen. In einer von Gewalt geprägten Welt übernehmen die Kinder daher die Gewalterfahrungen der Vorfahren mit allen Aspekten und entwickeln auch Vorstellungen und Gefühle zu Ereignissen, die sie selbst nicht erlebt haben.
In den letzten Jahrzehnten nahmen in Salzburg die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen, vor allem auch so genannte Pubertätskonflikte, zu. Diese sind ein Zeichen dafür, dass die Verdrängung zu bröckeln beginnt und die faulen Altlasten langsam an die Oberfläche kommen. Bestes Beispiel dafür ist die 68er-Generation, die in der Kindheit unter den Folgen des Weltkrieges zu leiden hatte und dann im Jugendalter die Verdrängung der Nachkriegszeit mit lautem Protest zertrümmert und sich vehement gegen die Fortführung von Kriegen gestellt hat.
Auch hinter den schönen Salzburger Fassaden versteckt sich manch dunkles Kapitel und menschliches Leid, wie der Salzburger Psychiatrieprimar Prof. Gastager in seinem Buch „Die Fassadenfamilie“ aufgezeigt hat. Dieses Leid kann nur bewältigt werden, wenn wir der Sache auf den Grund gehen. Das geschieht heute in Psychotherapien, in Selbsterfahrungsgruppen und in Persönlichkeitsseminaren. Dabei stellt sich Folgendes heraus: Die psychischen Probleme der heutigen Menschen gehen auf Grundmuster des Erlebens zurück, die sie in der Kindheit erlernt haben. Oft finden wir dann traumatische Erfahrungen von Gewalt, Tod, Trennung, Deprivation, Krankheit oder Ablehnung in der Kindheit des Betroffenen. Viele Beschwerden lösen sich mit dem Durcharbeiten der Kindheitsgeschichte auf. Meist klagen die Patienten dabei über die Schwächen und Fehler ihrer Eltern. Wir untersuchen dann den Werdegang der Eltern und analysieren deren Kindheit und Lebensgeschichte. Oft kommt es da noch dicker, und wir erkennen, dass die Kindheit der Eltern durch noch größere Defiziterlebnisse geprägt gewesen ist – und der Patient kann dann die Fehler der Eltern verstehen und sich vielleicht mit ihnen innerlich versöhnen. Durch die Analyse der Kindheit der Eltern landen wir bei den Großeltern und Urgroßeltern und gelangen so zu den Schlüsselstellen, den so genannten Familiengeheimnissen. Familiengeheimnisse sind meist die schwierigsten und tabuisiertesten Erfahrungen, die jemals von Familienmitgliedern gemacht worden sind. Sie liegen oft Generationen zurück, haben aber wegen ihrer Destruktivität die Erlebnismatrix der nächsten Generationen geprägt.
Das Urtrauma der Familie hat meist mit Gewalt, Vertreibung, Tod, Missbrauch, Unterdrückung und Zerstörung zu tun und ist in der Mehrzahl der Fälle ein historisch fassbares Ereignis. Damit ist die Familiengeschichte mit der Sozialgeschichte verzahnt. Die Erlebnisstrukturen werden durch geschichtliche Ereignisse geprägt, und diese geschichtlichen Gewaltereignisse führen zu seelischen Schäden in den nachfolgenden Generationen. So ist etwa das Deutschland der Nachkriegszeit durch eine vaterlose Generation geprägt gewesen – die Väter sind großteils auf den Schlachtfeldern erschossen worden. Die 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges haben also direkt zu einem Abreißen jener Vater-Sohn-Bindung geführt, die für das Selbstbewusstsein des Mannes so entscheidend ist. Dieses Faktum hat aber auch zum Abreißen der Vater-Tochter-Bindung geführt, die das Partnerverhalten der Frau entscheidend prägt. Eine Generation später haben wir dann eine verunsicherte Männergeneration und eine verunsicherte Frauengeneration vor uns, mörderische Scheidungskriege und jede Menge Scheidungswaisen.
Die Geschichte des Homo sapiens ist eine Erfolgsstory, die jeweils mit schrecklichen Opfern einhergegangen ist. Gleich ob es sich um Urmensch, Indogermanen, Bantu, Mongolen oder neuzeitliche Europäer handelte – wo immer eine menschliche Kultur eine überlegene Kriegstechnik besaß, dezimierte sie die unterlegene Kultur. Je weiter sich die Waffentechnik entwickelte, desto größer wurden die Opferzahlen. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in den Kriegen des 20. Jahrhunderts mit Millionen Toten.
Auch wenn Salzburg sich als Bistum aus vielen Kriegen heraushalten konnte, so haben die Salzburger doch die gewaltsamen Vertreibungen der Gegenreformation hinter sich und waren spätestens seit den Napoleonischen Kriegen und dem Anschluss an Österreich in alle folgenden Auseinandersetzungen Österreichs, besonders aber in die beiden Weltkriege verstrickt. Auch hier gab es die begeisterten Illegalen, den Jubel über den Anschluss, die Schrecken von Gestapo, Euthanasie und Fronteinsatz sowie die Enttäuschung über den Zusammenbruch 1945. Die Reste der deutschen Wehrmacht flüchteten ins Salzachtal und wurden hier bei Kriegsende entwaffnet. Viele Flüchtlinge aus dem Osten ließen sich in Salzburg und im angrenzenden Oberösterreich nieder.
So wie Österreich und Mitteleuropa hat die Mehrzahl der Länder dieser Welt in der jüngeren Vergangenheit Krieg und Gewalttätigkeit erlebt. Die Muster der Gewalt mögen je nach kulturellem Hintergrund verschieden sein – und doch ist in allen Völkern das Grundproblem dasselbe: Gewalt führt zur Zerstörung von sozialen Strukturen und zur Belastung von Familien, wodurch wieder die psychische Entwicklung der Kinder behindert wird. Die Folgen dieser unbewältigten Destruktivität sind dann die Symptome seelischen Leids.
Die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Gewalterlebnisse ist in der Wissenschaft erst in den letzten Jahren entdeckt worden und hat zu dem neuen Forschungsgebiet der Psychotraumatologie geführt. Aber immer noch ist es verpönt, die logische Verbindung zwischen drei Tatsachen zu ziehen: Auf der einen Seite gibt es Millionen und Abermillionen Menschen, die als Opfer und als Täter durch Gewalterlebnisse geprägt sind und deren Verstrickung in die Gewaltmuster auch deren Kindern und Kindeskindern schadet. Auf der anderen Seite gibt es Millionen von psychisch Kranken, die an ungeklärten Angst- und Panikzuständen leiden, sich verfolgt fühlen, oft vor Angst wahnsinnig werden. Und drittens zeigt der statistische Vergleich, dass die Zahl der Menschen mit Gewalterfahrung und die Zahl der psychisch Kranken annähernd gleich groß ist.
Mit verdrängten Ängsten können wir uns nicht auseinander setzen – sie werden diffus und generalisiert. Am diffusesten sind jene Ängste, die wir von unseren Eltern übernehmen, ohne zu wissen, woher sie überhaupt stammen. Das geschieht gerade bei kleinen Kindern sehr leicht, denn sie übernehmen ihre Stimmungen direkt von den Bezugspersonen. Das Kind einer depressiven Mutter wird leicht ein ängstliches, depressives Lebensgefühl entwickeln, ohne die Ursache dieses Gefühls zu kennen. Und weil es den Grund der Angst nicht kennt, kann es sich nicht damit auseinander setzen und wird diese Angst nicht als Reaktion auf ein schlimmes Erlebnis, sondern als persönliche Eigenschaft erleben.
Im Zweiten Weltkrieg starben Millionen auf den Schlachtfeldern, durch Bomben und Erschießungen. Diese Ereignisse haben Millionen von Halb- oder Vollwaisen hinterlassen. Wenn ein Waisenkind statistisch gesehen meist ein Nicht-Waisenkind heiratet, dann gibt es doppelt so viele Kinder von Waisenkindern und viermal so viele Enkel von Waisenkindern als es Waisenkinder gibt. Daraus folgt, dass eine sehr große Anzahl von Familien von Waisenkinderfahrungen betroffen ist.
Ein wahrscheinliches Szenario für einen männlichen Salzburger der Jahrgänge 1916 bis 1924 könnte wie folgt beschrieben werden: Mit 17 oder 18 Jahren, meist vor Abschluss der Berufsausbildung, wird er zum Kriegsdienst eingezogen. Er heiratet noch schnell seine Jugendliebe oder versucht, auf den spärlichen Fronturlauben ein Kind zu zeugen. Nach durchschnittlich drei Jahren fällt er „in Erfüllung seiner vaterländischen Pflicht“. Meist bleibt eine Witwe mit einem Kleinkind zurück, die vielleicht später einen der wenigen Überlebenden heiratet.
Die Familien in Salzburg, die nach Ende des Krieges kein totes männliches Mitglied zu beklagen haben, sind in der Minderheit. In Deutschland und Österreich, aber auch in Osteuropa wächst eine vaterlose Generation heran. Entweder gibt es gar keinen Vater und die Witwe zieht ihre Kinder alleine groß. Oder aber es gibt einen überlebenden Vater, der leibliche eigene Kinder hat oder auch einen Stiefsohn, dessen Vater in Russland gefallen ist. Überlebende Väter landen in Gefangenenlagern und sind für ihre Kinder Fremde, wenn sie nach Jahren heimkehren. Alle sind froh, dem Grauen des Krieges entkommen zu sein. Die Autorität der wenigen Väter ist ihrer natürlichen Kraft beraubt, weil „Führerschaft“ ein Schimpfwort geworden ist. Ins Unbewusste fressen sich Sätze wie: „Ich hatte nie einen Vater“ – „Die guten, aufrechten und ehrlichen Männer sind in Russland gefallen“ – „Die Väter sind schuldig“.
Was bedeutet nun das Modell des toten oder entwerteten Vaters für die Kinder und Enkelkinder? Die Wirkung ist für männliche und weibliche Nachkommen verschieden, in beiden Fällen aber schädlich. Den Buben fehlt das männliche Vorbild. Buben können schlecht erwachsen werden, wenn ihnen nicht der Vater oder ein Ersatzvater den Weg hinaus ins Leben zeigt. Zur Entwicklung der männlichen Identität ist der Vater als Modell und auch als Reibebaum für die beginnende Kritikfähigkeit notwendig. Wenn diese Vatersehnsucht nicht erfüllt wird, dann fehlt der Mut, das Kindsein hinter sich zu lassen und männliche Stärke zu entwickeln. In anderen Fällen muss das Modell der Männlichkeit sozusagen im luftleeren Raum entwickelt werden und das führt zu Überzeichnung und Starre. Hinter dem Geltungsdrang vieler Männer steckt eine tiefe Unsicherheit, die daraus entstanden ist, dass das Selbstbewusstsein nicht über die Bestätigung durch den eigenen Vater erlernt werden konnte.
Ein Beispiel: Ein Mann mittleren Alters kommt in die Praxis, er hat Selbstwertprobleme, Ängste und depressive Stimmungen. Im Privatleben ist er unglücklich und seine Liebesbeziehungen sind meist nicht von langer Dauer. Nach einigen Stunden erzählt er, dass er ohne Vater allein mit der Mutter aufgewachsen ist. Sein Vater habe sich nie um ihn gekümmert und habe es nie lange bei einer Frau ausgehalten. Der Vater seinerseits hatte schon als kleines Kind seinen Vater auf den Schlachtfeldern Russlands verloren und so ebenfalls kein väterliches Vorbild gehabt. Aus psychologischer Perspektive zeigt sich Folgendes: Seit zwei Generationen machen Frauen die Erfahrung, dass die Männer sterben oder sonst wie verschwinden, lernen Söhne, ohne Vater aufzuwachsen. Unbewusst hat sich die Kriegserfahrung überliefert, dass auf Verliebtheit und Hochzeit sehr schnell Tod und Verlust folgen. Der Mann in unserem Beispiel hat, ohne zu wissen warum, aber gewissermaßen konsequenterweise, eine tiefe Scheu vor Liebe und Bindung – aus Angst, nicht mehr lange zu leben zu haben, wenn er sich auf eine Hochzeit einlässt.
Auf Töchter hat das Fehlen des Vaters ebenfalls eine negative Auswirkung. Eine Tochter lernt am Beispiel des Vaters, sich mit Liebe und Vertrauen auf männliche Partner einzulassen. Wenn der Vater früh verstirbt, so kann sich bei der Tochter unbewusst die Angst festsetzten, dass auch zukünftige Partner sterben oder sie verlassen werden. Unbewusst begeben sich Frauen mit einem solchen Verlustmodell immer wieder in Partnerschaften, die mit Verlusten enden und ihre Verlustangst bestätigen. Weil es andererseits genügend Männer mit Bindungsängsten gibt – die dieselbe Ursache haben wie die Verlustangst der vaterlosen Frauen –, ist das nicht besonders schwierig.
Ein Beispiel: Eine sehr attraktive Frau wächst als Waisenkind auf. Ihr Vater fällt im Krieg kurz nach ihrem dritten Geburtstag, die Mutter stirbt in den 50er-Jahren bei einem Verkehrsunfall. Die Frau hat verschiedene Partnerschaften, die meist auf unerklärliche oder auch dramatische Weise beendet werden. Sie hat zwei Söhne von verschiedenen Vätern, die sie verlassen, als die Kinder drei bzw. vier Jahre alt sind. Schließlich beschließt die Frau, ihre Kinder allein großzuziehen und keinen Mann mehr in ihr Leben zu lassen. Daraufhin entwickeln beide Kinder aggressive Verhaltensstörungen, weil sie den Verlust ihrer Väter nicht verkraften. Wegen ihrer Kinder sucht die Mutter eine Therapie auf und erkennt erst hier das Muster des Vaterverlustes im dritten Lebensjahr, das ihr und ihren Kindern gemeinsam ist.
Viele der überlebenden Salzburger Soldaten des Zweiten Weltkriegs waren verletzt oder verstümmelt, oft ist diese Kriegsversehrtheit mit einem bereits angeknacksten Selbstwertgefühl zusammengegangen – und es war für die Söhne dieser Väter nicht leicht, mit den Folgen dieses negativen männlichen Selbstbildes aufzuwachsen: Folgen, die sich nicht selten in Abwertung, Kritik, Negativismus und Destruktivität äußerten. „Dem Vater kann ich sowieso nichts recht machen, der findet alles nur schlecht“, war ein verbreitetes Empfinden der Kinder der Nachkriegszeit.
Viele der Überlebenden waren innerlich gebrochen und seelisch zerstört. Sie hatten in Krieg und Gefangenschaft so viele Schrecken erlebt, dass sie innerlich wie tot waren. In einer depressiven, apathischen Stimmung funktionierten sie zwar äußerlich, waren aber unfähig, ihre Gefühle zuzulassen und zu Frau und Kindern in eine lebendige Beziehung zu treten. Sie fielen als Väter aus, die Kinder durften sie nicht fordern, nicht mit ihnen spielen, mussten ständig Rücksicht nehmen auf die Depression des Vaters. Viele Kinder lernten dabei, dass Lebendigkeit und Spontaneität nicht lebbar sind und übernahmen diese apathische Grundhaltung oder auch das negative Selbstbild.
Oft ist der seelische Schmerz dieser Überlebenden erst nach Jahren oder Jahrzehnten hervorgebrochen, manchmal in körperlichem Zusammenbruch, psychosomatischen Krankheiten, Krebs, Herzinfarkt oder frühem Tod. Wir wissen, dass der zu frühe Tod eines Elternteils an sich ein großes Trauma für die Kinder darstellt und über Generationen ein Muster von Tod und Verlust prägen kann. Dieser Tod bricht wie ein Schicksalsschlag über die Familie herein, und die Schuldfrage ist dabei meist obsolet. Nun sehen wir aber gerade bei der Kriegsgeneration, dass der frühe Tod oft die logische Folge der seelischen Verstümmelung durch die Gewalterlebnisse des Krieges ist. Wir können also vermuten, dass der Zusammenhang zwischen Gewalterleben und frühem Tod vielleicht sehr viel größer ist, als bis jetzt empirisch nachgewiesen werden konnte. Nachstehend zwei Beispiele zur Illustration:
Ein Pensionist wird mit der Diagnose paranoide Schizophrenie in die Nervenklinik zwangseingewiesen, da er sich plötzlich von Feinden umgeben fühlt und konsequenterweise seine alten Armeewaffen vom Dachboden holt, um seine Familie zu beschützen. Dieser Mann hatte den Krieg als Partisan überlebt. Die erlebte Verfolgung und die damit verbundenen Todesängste kommen ihm erst wieder hoch, als die wirtschaftliche Existenz seiner Familie durch Konkurs bedroht ist. Da er die Firma aber bereits übergeben hat, ist er nun dieser Bedrohung genauso ohnmächtig ausgeliefert wie den Gefahren im Krieg, und er wird plötzlich mit alten Erinnerungen von Bedrohung und Verfolgung überflutet, die wohlgemerkt Erinnerungen an reale Ereignisse sind. Seine Söhne leiden darunter, einen offensichtlich verrückten Vater zu haben und haben Angst, sie könnten ebenfalls verrückt werden, da sich Schizophrenie laut Lehrmeinung leicht vererben könne.
Ein kleiner Junge tritt zu Kriegsende auf eine Landmine. Bei der Explosion verliert er ein Bein, welches unter dem Knie amputiert werden muss. Er ist daraufhin ein Leben lang von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt und mit sich selbst unzufrieden. Niemand kann ihm etwas recht machen. Als Vater verhält er sich gegenüber seinen Kindern sehr diktatorisch. Nach der Heirat seiner Tochter, als sein Enkelkind einige Jahre alt ist, begeht er Selbstmord. Das negative Vaterbild der Tochter überträgt sich auf den Ehemann und es beginnt zwischen beiden ein sehr schwieriger Scheidungskrieg. Am Ende bleibt ein unglückliches Scheidungskind zurück.
Kriege hinterlassen hunderttausende Waisenkinder, die mutterseelenallein aufwachsen. Der Bombenhagel auf die deutschen Städte hat große zivile Opfer gefordert, und weil die Männer im wehrfähigen Alter an der Font waren, waren die Opfer oft Frauen, darunter viele Mütter von Kindern. Die Kinder waren aufs Land verschickt worden, wo es sicherer war – zurück blieben also jede Menge mutterloser Kinder (die oft auch Vollwaisen wurden, wenn der Vater nicht von der Front zurückkam).
Diese Tatsachen stachen besonders im Salzburg der Nachkriegszeit ins Auge: Das erste Kinderdorf weltweit wurde durch die „Pro Juventute Österreich“ mit Sitz in Salzburg wegen der großen Zahl an Kriegswaisen, die es nach 1945 gegeben hat, gegründet. Wenn ein Waisenkind in eines der neuen Kinderdörfer kam, dann hatte es noch Glück, denn es erhielt eine liebevolle Ersatzmutter in einem familienähnlichen Verband; Trauer und Schmerz über den schrecklichen Verlust konnten dann einigermaßen heilen. Auch ein Kind, das nach dem Tod der Mutter von einer Tante oder Großmutter aufgenommen wurde, konnte das Leid seines Schicksals vielleicht einigermaßen ertragen. Bei vielen Kindern aber riss der Tod der Mutter eine Lücke, die durch nichts ersetzt wurde. Viele kamen in Kinderheime oder auf Pflegeplätze, wo sie nicht geliebt waren, sondern vielleicht sogar ausgebeutet wurden.
Ein Beispiel: Ein Junge ist bei Kriegsende Vollwaise. Anfangs sorgen seine älteren Geschwister für ihn, bald kommt er aber auf einen Bauernhof „in Pflege“. Dort wird er vor allem als Arbeitskraft eingesetzt und ausgebeutet. Er lernt, all seinen Schmerz durch Arbeit zu verdrängen und wird arbeitssüchtig, kennt bis zu seinem 50. Lebensjahr außer Arbeit keinen Lebensinhalt. Dann macht sein 11-jähriger Sohn einen dramatischen Selbstmordversuch, der auf den ersten Blick völlig unbegründet erscheint. Erst der drohende Verlust des Kindes weckt die Erinnerung an den Verlust der Eltern und der inzwischen erwachsene Mann beginnt, seine Kindheit therapeutisch aufzuarbeiten. Sein Sohn wird daraufhin gesund und entwickelt sich normal.
Die Salzburger Soldaten, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges gefallen sind, waren sehr jung – achtzehn, neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Ihre Eltern haben sie überlebt – und der Schmerz um ein totes Kind gehört zum Schwersten und Unerträglichsten. Den geliebten Sohn zu verlieren, war in dieser von Männern dominierten Zeit zudem doppelt schwer: In einer Zeit, in der Söhne mehr als Töchter gegolten haben, hat ihr Tod deutliche Spuren in den Seelen der Hinterbliebenen hinterlassen. Und die Tatsache, dass damals fast jede Familie ihre Toten zu beklagen hatte, bedeutet weder, dass alle Eltern gleich gut darüber hinweggekommen sind, noch, dass es den überlebenden Geschwistern leicht gefallen ist, mit dem Tod ihrer Brüder zurechtzukommen. Nicht selten wurden die Toten ja heroisiert und als Helden gesehen – und für die Überlebenden war es dann besonders schwer, wenn sie mit den Toten verglichen wurden, wie das nachstehende Beispiel zeigt:
Ein junges Mädchen steht seine ganze Kindheit lang im Schatten ihres großen Bruders, der das Lieblingskind der Eltern ist und als Sohn in dieser sehr patriarchalischen Familie mehr wert ist als seine Schwester. Der Sohn soll einmal den Hof übernehmen und ist die Hoffnung der Familie, und als er im Krieg fällt, ist der Schmerz schier unerträglich. Die Tochter und später deren Ehemann müssen nun in die Fußstapfen des toten Bruders treten. Die Tochter bekommt aber immer wieder unausgesprochen oder auch direkt formuliert Folgendes zu hören: „Wärst doch du gestorben anstelle des Bruders und hätte der Bruder überlebt – dann ginge es uns heute viel besser.“ Sie hatte also ein Leben lang das Gefühl, als Frau wertlos zu sein. Schließlich bekommt sie selbst eine Tochter, die im Jugendalter eine schwere Magersucht entwickelt und solcherart die Wertlosigkeit des weiblichen Körpers symbolisch ausdrückt. Sie entgeht nur knapp dem Tod – und bringt die Angst und die Trauer um den toten Onkel wieder ins Bewusstsein.
Wenn Salzburger Väter in die Verbrechen der Nazi-Zeit verstrickt waren, haben deren heute lebenden Nachkommen in jedem Fall ein Problem. Leid und Schuld beschäftigen die Kinder und Enkel, sei es nun in bewusster Auseinandersetzung oder durch unbewusste Inszenierungen und Wiederholungen der schuldhaften Muster. In Familienaufstellungen zeigt sich, dass die Nachkommen manchmal die ungelöste Schuld übernehmen und die negativen Gefühle spüren, die von ihren Vätern verdrängt und geleugnet werden. Wenn die Väter verurteilt oder medial gebrandmarkt sind, dann ist es schwierig, dazu zu stehen, dass man von diesen abstammt. Die Kinder der Täter haben daher im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Sie können den Vater verurteilen und sich von diesem distanzieren, um den Preis, dass sie dann praktisch keinen Vater haben. Oder sie können ihren Vater behalten und müssen dann dessen Fehler oder Verbrechen leugnen. Das Unbewusste sorgt aber oft dafür, dass das geleugnete Leid wieder an die Oberfläche kommt und die Familie in Form von seelischen Krankheiten beschäftigt, dazu nachstehend ein Beispiel:
In einer Familie geht es allen schlecht, sprich, es gibt viele Depressionen und Ängste, Selbstmordversuche, alles geht schief. Über Jahrzehnte kann kein Arzt erklären, warum diese Häufung von negativen Gefühlen auftritt. Im psychologischen Gespräch kommt schließlich zu Tage, dass ein Großvater der heutigen Problemkinder ein Kriegsverbrecher war, der Partisanendörfer „ausräucherte“, sprich Frauen, Alte und Kinder auf grausame Weise niedermetzeln ließ. Die Familie beginnt zu begreifen, dass die Mütter und Kinder heute sich unbewusst in Angst und Panik der damaligen Opfer einfühlen und es gelingt ihnen langsam daran zu glauben, dass sie sich auch freuen dürfen und dass die Schuld der Vergangenheit begraben werden darf.
Die nicht geringe Zahl von Nachkommen von Priestern und kirchlichen Würdenträgern stellt speziell im Fürsterzbistum Salzburg ein spezielles Problem der Vermischung von Macht, Sexualität und Verleugnung dar. Jeder Tourist bekommt zu hören, dass das Schloss Mirabell für die Geliebte eines Erzbischofs erbaut wurde, und dies ist durchaus kein einzigartiger Fall – auch heute nicht. Dass die Kirche anstandslos Alimente für Priesterkinder bezahlt, lässt befürchten, dass es hier seit Jahrhunderten Abhängigkeiten gibt, die den Nachkommen eine schwer lösbare Hypothek mit auf den Weg gibt, wie es Nathaniel Hawthorne in seinem Roman „The Scarlet Letter“ (1850) beschreibt. Die Auseinandersetzung mit dem väterlichen Vorbild kann nicht stattfinden oder ist durch viele Doppelbödigkeiten und Verleugnung gekennzeichnet.
Die Abspaltung des Lustempfindens, die durch das Christentum betrieben wurde, wirkt besonders makaber, wenn man weiß, dass es unter anderem die Kirchenfürsten in Mittelalter und Renaissance gewesen sind, die die sexuelle Ausbeutung in massiver Form betrieben haben. So war die Prostituiertendichte im Rom der Renaissance weltweit am größten, weil allgemein bekannt war, dass der Bedarf der Bischöfe und Kirchenfürsten einen enormen Umsatz garantierte.
Die Verquickung von Sexualität, Macht und Gewalt – dazu ein Beispiel: Ein Dienstmädchen verliebt sich in einen kirchlichen Würdenträger und erwartet von ihm ein Kind. Als ihr Vater davon erfährt, erhängt er sich, da er die Schande nicht ertragen kann. Auch der Priester distanziert sich von der Frau, da ja niemand etwas erfahren soll. Aus Schuld und Einsamkeit wird die Frau depressiv und es ist ihr nicht möglich, sich ihrem Kind liebevoll zuzuwenden. Dieses Kind fühlt sich später bei ihren eigenen Kindern als schlechte Mutter. In Konflikten in ihrer Ehe scheint ihr Selbstmord als Lösung und sie droht oft damit. Auch die nächste Generation ist mit den Themen Selbstmord und Lieblosigkeit beschäftigt, bis in der Therapie der Zusammenhang zwischen Tod und Schande des Großvaters erkannt und bearbeitet wird.
„Versteckt die Frauen, die Russen kommen“, so hallte es bei Kriegsende durch Ostösterreich. Die Vergewaltigung von Frauen zählt seit Jahrhunderten zum „Recht“ der Sieger und wurde nicht erst in den 1990er-Jahren vom serbischen Regime als systematisches Mittel der Kriegsführung entdeckt. Auch unter den Diktaturen Lateinamerikas waren inhaftierte Frauen Opfer der Folterknechte. Wo immer durch extreme Machtverhältnisse Frauen von Männern abhängig waren, waren sie sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert. Und im „jus primae noctis“ des Mittelalters – also dem Recht des Lehensherren, die Hochzeitsnacht mit all seinen untergebenen Frauen zu teilen –, ist diese sexuelle Unterdrückung sogar in eine legale Form gebracht worden.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Tagelöhnerinnen auf den Bauernhöfen und die Dienstmädchen in den Herrschaftshäusern über weite Strecken Freiwild für die Übergriffe der Männer. Wenn dann aus solchen Seitensprüngen eine Schwangerschaft resultierte, wurde oft eine Ehe zwischen den Dienstboten arrangiert oder erzwungen und das ledige Kind einem vom Dienstherrn abhängigen Angestellten untergeschoben. Wie destruktiv solche Dreiecke ausgehen konnten, hat Henrik Ibsen in seinem Drama „Die Wildente“ dargelegt: Ein reicher Mann verkuppelt seine Geliebte, als diese schwanger wird, mit einem jungen Untergebenen, der glauben soll, das Kind sei von ihm. Als die Tochter ein junges Mädchen ist, fliegt der ganze Schwindel auf und der Ziehvater stößt sein Kind von sich. Als ein Freund der Tochter rät, die Opferung ihres geliebten Haustieres, der Wildente, könnte den Vater versöhnlich stimmen, erschießt sich die Tochter lieber selbst.
Die Rechtlosigkeit der Frauen in patriarchalischen Systemen über Jahrhunderte, ja Jahrtausende, lässt vermuten, dass diese Formen sexueller Gewalt nur die Spitze eines Eisbergs darstellen. Daraus folgt aber auch, dass über Jahrhunderte Sexualität nicht als Lust, sondern als Gewalt erlebt worden ist. Es scheint daher folgerichtig, die sexuellen Probleme, die heute zwischen Paaren so weit verbreitet sind, daraufhin zu untersuchen, ob sie nicht Folgen von seit Generationen überlieferten sexuellen Gewaltmustern sind. Auch die Tatsache, dass heute noch Millionen Frauen in Afrika der äußerst schmerzhaften und lebensgefährlichen weiblichen Kastration, der Entfernung der Klitoris und der Schamlippen, unterworfen werden, zeigt, dass die Belastung der Sexualität durch Gewaltmuster weiter besteht. Wie ja auch die über Jahrhunderte übliche Kastration von Männern belegt, dass die sexuelle Potenz ein beliebtes Angriffsziel von Gewalt darstellt. In den unbewussten Familienmustern jedenfalls lebt diese Verquickung von Sexualität und Gewalt fort und wird von Generation zu Generation weitergegeben.
Dass das Thema des sexuellen Missbrauches in den letzten Jahrzehnten quasi aus heiterem Himmel zum Diskussionspunkt in unserer Kultur geworden ist, überrascht vor diesem Hintergrund nur auf den ersten Blick. Es verwundert nicht, wenn sich die Missbrauchstäter gewissermaßen in einer guten Tradition sehen und damit im Recht fühlen. Der Stärkere darf Sexualität erzwingen: Wenn das über Jahrhunderte üblich gewesen ist, so ist es nicht verwunderlich, wenn Täter, die als Kind selbst Opfer von sexuellen Übergriffen waren, auf die Idee kommen, sich dieses Recht nun selbst zu nehmen und die Abhängigkeit von ihnen anvertrauten Kindern auszunützen.
Das Ideal der romantischen Liebe, die Sexualität nur als heiliges Sakrament zulassen will, bringt Menschen mit sexuellen Problemen in umso größeren Zwiespalt. Wie sollen sie die Gefühle von Ekel und Abscheu thematisieren, wo sie offiziell doch nur geliebt werden. Betrachten wir jedoch die Praxis der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern in der Dritten Welt, Prostitution und Kinderstrich in Thailand, den Philippinen, Brasilien usw., dann sehen wir, dass sexuelle Ausbeutung gang und gäbe ist und eher zu- als abnimmt.
„Der Mann musste sich von seiner Frau trennen, weil sie Jüdin war. Vor die Alternative gestellt, mit der Frau gemeinsam vertrieben zu werden und alles zu opfern oder sich eine deutsche Frau zu suchen, tat er letzteres und heiratete ein zweites Mal.“ Solche nüchternen Tatsachen kann man in Berichten von Zeitzeugen immer wieder lesen, sie waren gängige Praxis, etwa im Fall des Filmschauspielers Heinz Rühmann. Was stecken aber für Gefühle hinter solchen Fakten? Ein Mensch entschließt sich, seinen Partner zu verstoßen, sich von ihm loszusagen, obwohl er ihn vielleicht sehr geliebt hat oder noch immer liebt. Welche Spuren hinterlässt so eine Geschichte in den Seelen der Menschen und ihrer Nachkommen?
Wenn die Liebe zwischen Mann und Frau aber so wenig wert ist, darf man sich nicht wundern, dass das Vertrauen in sie so leicht erschüttert werden kann. Viele Generationen von Liebespaaren haben die Erfahrung gemacht, dass die Macht der Liebe sehr begrenzt ist, wenn man zwischen die Fronten von Hass und Gewalt gerät. Bis zur Generation unserer Eltern hat es völlig ausgereicht, zur protestantischen bzw. zur katholischen Konfession zu gehören, um eine Heirat unmöglich zu machen. Bei den jahrhundertlangen Kriegen zwischen Katholiken und Protestanten und der Vertreibung der meisten Protestanten speziell aus Salzburg im Zuge der Gegenreformation hatte sich so viel Hass zwischen den Konfessionen aufgestaut, dass es für ein junges Paar nicht leicht war, diesen Hass zu überwinden. Würden die Eltern des Protestanten zustimmen, dass das Enkelkind katholisch getauft wird? Damals war es wahrscheinlicher, dass die Eltern auf beiden Seiten alles tun würden, um das Liebesglück des Paares zu hintertreiben und diese unerwünschte Liebe zu entwerten. Wie in vielen anderen Fällen würde die Liebe verraten werden. Das wäre bald vergessen, wenn man mit einem anderen Partner glücklich würde. Manchmal aber hinterlässt der Verrat an der Liebe eine giftige Wunde im Herzen der Getrennten: Der erste Geliebte, den man nicht haben durfte, weil er eine verbotene Liebe war, wäre ja vielleicht doch der einzig Richtige gewesen. Und der spätere Partner, den man dann heiratet, hat nie eine Chance gegen diese Idealisierung des geheimen, verbotenen Geliebten.
Ähnliche Frontlinien verlaufen in Bosnien heute noch zwischen katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und islamischen Muslimen. Interkonfessionelle Heiraten sind, wenn nicht tabu, so doch zumindest schwierig. Wenn sie aber stattfanden, fanden sich die Ehepaare im Bosnienkrieg der 1990er-Jahre zwischen den Fronten. Nun bringt es die Dynamik des Krieges aber mit sich, dass sich die Volksgruppen sehr wohl vermischen und aufeinander treffen – sei es als Besatzer und Besetzte, als Verbündete oder Feinde. Die Liebe zwischen Mann und Frau ist so ohne Grenzen, dass immer wieder Verliebtheit passiert, wo es nicht erwünscht ist, Verliebtheit, die dann sehr oft zur Liebe wird, deren Realisierung nicht möglich scheint. Nicht umsonst ist das berühmteste Stück von William Shakespeare die Geschichte von Romeo und Julia, die Geschichte einer Liebe zwischen den Fronten zweier verfeindeter Familien. Diese Geschichte endet mit dem Tod der Liebenden, doch nicht selten enden ähnliche Romanzen mit dem Tod der Liebe. Die Botschaft, die viele Liebenden in solchen Situationen verinnerlichen, könnte man so umschreiben: „Scheidung muss sein, Trennung ist die einzige Lösung. Verrate deine Familie nicht, bleib bei uns und verlass deinen Partner.“
Während des Zweiten Weltkriegs und besonders zu Kriegsende wurden Millionen Europäer aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Allein zwölf Millionen Deutsche mussten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten flüchten, um zum Beispiel den Polen Platz zu machen, die ihrerseits wieder von Stalin aus den polnischen Ostgebieten vertrieben worden waren. Die Vertreibung aus den Sudetengebieten – aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen – ging sehr gewaltsam vor sich, weil sich die von den Deutschen unterdrückten Völker nun für das von den Nazis erlittene Unrecht rächten. Viele der Überlebenden dieser Vertreibungen fanden ihren Weg nach Salzburg und in den angrenzenden oberösterreichischen Raum. Eine Straße in Salzburg weist noch heute auf die deutschen Flüchtlinge aus Bessarabien im heutigen Moldawien hin.
Und weil die Vertriebenen oft Einheimische geheiratet und inzwischen Kinder und Enkelkinder bekommen haben, ist die Zahl der Menschen, die dem Thema Vertreibung als Familienmuster folgen, etwa dreimal so groß wie die ursprüngliche Zahl der Vertriebenen. Es verwundert daher nicht, wenn das Muster der Vertreibung und des Heimatverlustes sehr oft in den psychotherapeutischen Praxen auftaucht – aus der hier wieder einige Beispiele gebracht werden sollen.
Eine Familie mit acht Kindern wird auf Grund der Absprachen zwischen Hitler und Mussolini gezwungen, Südtirol zu verlassen und lässt sich in Salzburg nieder. Die Kinder dieser Familie kommen scheinbar gut mit dieser Übersiedlung zurecht. Dennoch lässt sich bei vielen Familienmitgliedern eine depressive Grundstimmung feststellen, obwohl sie äußerlich gut funktionieren. Einige bleiben kinder- und partnerlos. Eine Enkelin macht einen Selbstmordversuch, eine andere bricht immer wieder ihre Ausbildungen ab, ein Enkel wird psychosomatisch krank. Die Heimatlosigkeit bleibt im Unterbewusstsein dieser Familie ein ständiger Schmerz. Die Problematik der Vertreibung der Südtiroler hat die Regisseurin Karin Brandauer in ihrer Südtirol-Saga sehr anschaulich beschrieben.
Ein anderes Beispiel: Mutter und Sohn können aus Ostpreußen flüchten, die anderen Familienmitglieder kommen bei Kriegsende um. Der Sohn studiert und arbeitet sehr hart, um sich und seiner Familie eine neue Existenz aufzubauen. Er fühlt sich auch für seine alte Mutter verantwortlich, die er nach seiner Hochzeit zu sich in die Wohnung holt. Er nimmt auf seine Gesundheit keine Rücksicht und stirbt sehr früh. Seine Kinder leiden unter diesem frühen Vaterverlust und müssen sich außerdem mit der schwierigen Großmutter auseinander setzen, die außer der Verbitterung über ihre Verluste keine Gesprächsthemen kennt. In der dritten Generation kommt es zu vielen Lebensbrüchen wie beruflichem Scheitern, Scheidungen und Übersiedlungen und damit wiederholt sich das Thema der Vertreibung symbolisch in den verschiedensten Lebensbereichen.
Die Macht des türkischen Sultans, vor der jahrhundertelang ganz Europa erzitterte, beruhte auf der Kampfkraft der Elitetruppe der Janitscharen. Diese waren Christenkinder, die in jungen Jahren ihren Eltern geraubt und zum Dienst in der türkischen Armee erzogen wurden. Die Janitscharen zeichneten sich durch besondere Grausamkeit und Brutalität aus. Sie hatten den Schmerz ihres Elternverlustes und die gewaltsame Trennung von ihren Familien durch die Identifikation mit dem Aggressor, also der türkischen Armee, verdrängt. Sie wurden genauso gewalttätig wie diejenigen, die ihnen die Gewalt der Trennung von ihren Familien angetan hatten.
Seit Jahrtausenden haben Mächtige versucht, ihre Macht zu zementieren, indem sie den Unterlegenen ihre Kinder gestohlen haben. Das letzte Beispiel dafür war Nicolae Ceausescu in Rumänien, mit seinen riesigen Waisenhäusern, aus denen er die Schergen seiner Securitate rekrutiert hat. Auch Hitler hat versucht, sich in der Aktion Lebensborn ein arisches, genetisch reines Janitscharenheer heranzuzüchten, wobei die jungen Mütter durch die Propaganda dazu gebracht wurden, auf ihre Kinder zu verzichten und sie dem Führer zum Geschenk zu machen – seelische Waisenkinder, die Hitlers Wahnsinn mit dem persönlichen Unglück fehlender Geborgenheit bezahlt haben. Und die Kindersoldaten in Afrika sind ein aktuelles Beispiel für Kindesraub: Dörfer werden überfallen, die Erwachsenen massakriert, die Kinder mitgenommen und zu willenlosen Kriegsmaschinen erzogen.
Kinder werden auch oft ihren Eltern unter dem hehren Motiv geraubt, etwa dem, sie einem höheren kulturellen Niveau zuzuführen. Aktuelles Beispiel dafür sind die Kinder der australischen Aborigines, die im 20. Jahrhundert systematisch ihren Eltern weggenommen und weißen Eltern zur Adoption gegeben worden sind. Offiziell wurde dies damit begründet, dass sie eine Chance bekommen sollten, in der höherwertigen Kultur der Weißen aufzuwachsen, weil die Kultur der Aborigines ohnehin als dem Untergang geweiht galt. Unausgesprochen stand freilich die Absicht dahinter, die Kultur der Aborigines auszurotten und gewaltsam zu assimilieren. Erst in den letzten Jahren haben diese mittlerweile herangewachsenen Adoptivkinder entdeckt, dass sie ihren Eltern geraubt worden waren, und es begann für alle Beteiligten ein schmerzhafter Aufarbeitungsprozess. Ähnlich ist es den Kindern von Indianern ergangen, die in Missionsschulen gesteckt und von ihren Eltern getrennt wurden: Auch dabei handelte es sich um Kindesraub unter dem Vorwand, den Kindern in der höherwertigen weißen Kultur eine Bildungschance zu geben. Dass dabei Eltern ihrer Kinder beraubt und Kinder von ihren Eltern getrennt wurden, wird von der überlegenen weißen Kultur weitgehend verdrängt. Man wundert sich nur, dass bei Indianern psychische Krankheiten, Alkoholismus und Depression viel häufiger sind als bei Weißen, wertet dies aber als Ausdruck der genetischen Unterlegenheit dieser Rasse.
Manchmal ist der Kindesraub zugleich eine Kindesweglegung, wobei dann die finanzielle Not als Erklärung herhalten muss. Arme Familien waren oft gezwungen, Kinder zu verkaufen, um ihr materielles Überleben zu sichern und um dem Kind eine Überlebenschance zu sichern: Ein indianisches Dienstmädchen bei einer reichen weißen Familie gibt ihren Sohn dem Dienstherren mit, als dessen Familie in ein anderes Land übersiedelt. Die Frau denkt, dass das Kind als Adoptivkind der Weißen mehr Bildungschancen hat als bei der Mutter in den Slums. Der Sohn wächst bei der weißen Familie heran, erhält eine gute Ausbildung und heiratet in eine weiße Familie. In sich trägt er aber ständig den Schmerz des Mutterverlustes – und erst als die Tochter dieses inzwischen erwachsenen Mannes eine psychosomatische Krankheit entwickelt, kommt die ganze Trauer, die mit dieser Mutter-Kind-Trennung verbunden war, ans Tageslicht und kann verarbeitet werden.
Der Raub der Kinder durch die Mächtigen oder durch die Vertreter einer überlegenen Kultur ist seit Jahrhunderten ein beliebtes Machtmittel. Durch nichts kann man Erwachsene mehr schwächen und gefügig machen als durch das Leid ihrer Kinder. Kindesraub schwächt die unterlegene Kultur und erleichtert deren Unterdrückung. Umgekehrt ist er ein sehr wirksames Mittel, um der überlegenen Kultur rasche Ausbreitung zu sichern. Hitlers Idee der Verbreitung arischer Gene durch Arisierung von geeigneten Untermenschen gilt heute als die Idee eines Verrückten. Ähnliches aber hat bei der Europäisierung des amerikanischen Kontinents durchaus stattgefunden. Und wenn man sich fragt, wohin die Khoisanstämme Ostafrikas, die drawidische Urbevölkerung Indiens und die Neandertaler Europas entschwunden sind, so scheint es untersuchenswert, ob nicht auch in fernerer Vergangenheit ähnliche Mechanismen wirksam gewesen sind.
Die Thematik des Kindesraubs kommt oft an die Oberfläche, wenn Kinder aus verwahrlosten Familien ins Heim eingewiesen werden. Trotz bester Absichten von Jugendämtern und Familienrichter, trotz der Tatsache, dass Leben und Wohl des Kindes bei seinen Eltern manchmal tatsächlich gefährdet und die Eltern erziehungsunfähig sind, reagieren Mütter, denen die Kinder durch Zwangsmaßnahmen weggenommen werden, mit Empörung: das Amt will ihnen die Kinder rauben. Obwohl sie sich vielleicht jahrelang wenig um ihre Kinder gekümmert haben, setzen sie nun, weil das Kind in einem Heim oder auf einem Pflegeplatz untergebracht ist, Himmel und Hölle in Bewegung, um es zurückzubekommen. Die Zeitung wird eingeschaltet, andere Ämter werden mobilisiert, Volksanwälte und Politiker sollen intervenieren. Nicht selten gelingt es auch, die amtliche Maßnahme der Fremdunterbringung rückgängig zu machen oder zumindest so zu boykottieren, dass schließlich auch die Pflegeeltern aufgeben und das Kind von Pflegeplatz zu Pflegeplatz wandert – und dabei immer schwieriger wird und schließlich als nicht vermittelbar gilt. Schaut man genauer hin, so ist dieser häufige Misserfolg von Unterbringungsmaßnahmen nicht weiter verwunderlich. Denn wie kommt es dazu, dass eine Mutter unfähig ist, sich um ihr Kind zu kümmern und es verwahrlosen lässt?
Die Mütter und Väter dieser Kinder waren meist selbst entwurzelte Kinder, sind in Heimen aufgewachsen, stammten aus Flüchtlingsfamilien, wurden oft selbst gewaltsam von ihren Eltern getrennt und konnten so nie lernen, wie man sich als Eltern um seine Kinder kümmert. Das Muster des Kindesraubs oder der Kindesweglegung ist oft der Ursprung der Verwahrlosung, die sich dann von Generation zu Generation fortpflanzt – und manche sozial schwache Familien sind den Jugendämtern denn auch seit Generationen bekannt. Weil die Fremdunterbringung von verwahrlosten Kindern oft nur eine Wiederholung des ursprünglichen Trennungstraumas ist, ist der Erfolg der Heimunterbringung in der Vergangenheit äußerst begrenzt gewesen. Heute sind die Jugendämter deshalb viel vorsichtiger mit solchen Trennungsmaßnahmen und versuchen eher, die Eltern in ihrer Elternrolle zu unterstützen, so weit dies möglich ist.
Wäre es nicht schön, unsere Ängste und Depressionen ein für alle Mal über Bord zu werfen und das Leben genießen zu können? Hunderttausende sind auf der Suche nach seelischer Gesundheit – und verzweifeln an ihrer Fähigkeit, das Leben zu meistern. Wenn sie dann noch wie zu besten NS-Zeiten hören, dass ihre Schwäche genetisch verursacht ist, dann geben sie innerlich auf und akzeptieren die chemische Betäubung ihres Gehirns als einzige Möglichkeit, endlich vergessen zu können. Dabei ist die Lösung ganz einfach, auch wenn wir uns dafür genügend Zeit nehmen müssen: Wir können erlöst werden, wenn wir der Wahrheit ins Auge schauen, uns mit dem Grauen in unserer Seele auseinander setzen, das Leid der Traumatisierten nachfühlen, die Opfer rehabilitieren und um Verzeihung bitten.
Wenn wir in ein Gewaltmuster verstrickt sind, so können wir aus diesem Muster auch wieder aussteigen. Jede Familie versucht dies und wenn sie es schafft, trägt jede Generation dazu bei, Schritt für Schritt die Schrecken der Gewaltwelt hinter sich zu lassen. Und nicht selten werden in den Psychotherapien die Heilungsschritte genau in der Reihenfolge durchlaufen, in welcher unsere Ahnen ihre Verletzungen erlebt haben. In unseren seelischen Krisen werden wir mit den Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern konfrontiert, vor allem mit denen, die diese nicht verarbeiten konnten.
Wenn ein Mensch unter der Last seiner Ängste zusammenbricht, beginnt ein Weg der Selbsterfahrung, auf dem er sich mit den Schreckgestalten seiner verletzten Eltern und Großeltern konfrontiert. Indem er eine nach der anderen in ihrem Leid versteht und erlöst, entdeckt er zugleich die Lösungen. Wenn die Familienverstrickung entschlüsselt ist, lernen wir, Respekt und Toleranz zu geben und zu fordern, und begründen damit in unserem Innern die Sicherheit des Friedens. Erst wenn die Schatten der Vergangenheit beachtet und versöhnt sind, beginnt die Seele an eine friedliche und freundliche Welt zu glauben. Dann aber wird positives Denken tatsächlich zur Realität. Wer sich so von der bewältigten Vergangenheit löst, der meistert sein Schicksal.
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