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5.19. Das Stille-Nacht-Lied im deutschen Luthertum – „Christ der Retter ist da!“ (Wolfgang Herbst)

5.19.1. Kurztext

5.19.1.1. Stille Nacht – Darbietung der Geschwister Strasser aus Tirol

In seinem Buch über die Geschichte des Stille-Nacht-Liedes berichtet Karl Weinmann[1696], in der Christmette der katholischen Gemeinde zu Leipzig hätten am Heiligen Abend, den 24. Dezember 1831, in der Königlichen Hofkapelle der Pleißenburg die Geschwister Strasser aus Laimach im Zillertal das Lied „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ gesungen.

Die Gesangsdarbietung der Tiroler Händler in Leipzig 1831/32 eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte des Stille-Nacht-Liedes, denn wahrscheinlich erklang das Lied bei seiner Aufführung im Königreich Sachsen zum ersten Mal in einem Land, dessen Bevölkerung zu etwa 90 % evangelisch-lutherisch war. Die Wirkung der Darbietung war jedenfalls enorm, denn der daraufhin erfolgte Erstdruck des Liedes „Stille Nacht!“ durch A. R. Friese öffnete dem Lied alle Türen, vor allem in den Ländern Sachsen und Preußen, aber auch in Hamburg, Kopenhagen und in Übersee.

Ein Auftritt im Jahr 1832 fand nicht mehr in der Hofkapelle statt, sondern im Ballsaal des Hôtel de Pologne. Damit trat das Lied auch räumlich aus dem kirchlichen Umfeld heraus.

5.19.1.2. Das Stille-Nacht-Lied in Liederbüchern

1836 fand das Stille-Nacht-Lied im lutherischen Königreich Sachsen erstmals Eingang in ein Schulliederbuch, 1843 wird es im „Musikalischen Hausschatz der Deutschen“ veröffentlicht. Offensichtlich haben die sächsischen Lutheraner an diesem aus dem österreichischen Katholizismus stammenden Lied nichts auszusetzen gehabt. Die Sachsen waren es ja seit ihrer ambivalenten Haltung zu Habsburg im 16. und 17. Jahrhundert gewohnt, bestimmte Teile der katholischen Frömmigkeit zu dulden und gleichzeitig die katholische Theologie scharf abzulehnen.

Das von Johann Hinrich Wichern – Gründer und Vorsteher des „Rauhen Hauses“ – erstmals 1844 für seine Heimkinder herausgegebene Liederbüchlein enthält auch das Lied „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Wichern passt das Lied an den lutherischen Sprachgebrauch an, dem das Wort „Christkind“ näherliegt als das Wort „Jesuskind“. Er gibt dem Lied die Überschrift „Freude am Christkind“, und am Schluss der Strophe zwei heißt es bei ihm erstmalig anstatt „Jesus, der Retter ist da!“ „Christ, der Retter ist da!“. Dementsprechend ließ Wichern in der dritten Strophe die Kinder singen „Christ in deiner Geburt!“ statt „Jesus in deiner Geburt!“. Auch die Melodie hat durch Wichern zum ersten Mal die heute übliche, von später hinzugefügten Verzierungen und Sentimentalisierungen gereinigte Gestalt bekommen. Johann Hinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, wurde zum Urheber genau der Fassung des Stille-Nacht-Liedes, die seit 1993 als Nummer 46 im Evangelischen Gesangbuch (EG) steht.

5.19.2. Langtext[1697]

In seinem Buch über die Geschichte des Stille-Nacht-Liedes berichtet Karl Weinmann,[1698] in der Christmette der katholischen Gemeinde zu Leipzig am Heiligen Abend, den 24. Dezember 1831 in der Königlichen Hofkapelle der Pleißenburg hätten die Geschwister Strasser aus Laimach im Zillertal das Lied „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ gesungen. Wenn Weinmanns Bericht stimmt, dann wäre das Auftreten in der Christmette 1831 eine willkommene Gelegenheit für die Tiroler Handelsleute gewesen, ihr musikalisches Können zu zeigen, denn sie waren ja wegen der bereits am 27. Dezember 1831 beginnenden Neujahrsmesse[1699] ohnedies über die Feiertage in der Stadt, und in einem Inserat zwischen Weihnachten und Neujahr 1831 preisen sie im Leipziger Tageblatt ihre vielfältigen Waren an und weisen auf ihren Messestand hin. Solche Geschäftsreisen dienten nicht nur dem Warenkauf und -verkauf, sondern trugen zugleich deutlich die Züge des damals international beliebten Tiroler Folklore-Tourismus. Ein Jahr darauf kam die singende Tiroler Familie in der Vorweihnachtszeit erneut nach Leipzig. Dies könnte bereits eine reine Konzertreise gewesen sein, wofür der frühe Termin spricht (15. Dezember) und die dreimalige Presse-Mitteilung, dass die Heimreise der Strassers bereits kurz bevorstünde. Sie mussten möglicherweise auf den Termin der Neujahrsmesse keine Rücksicht mehr nehmen.

Die Gesangsdarbietung der Tiroler Händler in Leipzig 1831/32 eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte des Stille-Nacht-Liedes, denn wahrscheinlich erklang das Lied bei seiner Aufführung im Königreich Sachsen zum ersten Mal in einem Land, dessen Bevölkerung zu etwa 90 % evangelisch-lutherisch war. Dazu kommt noch etwas anderes: Dieser Auftritt am Sonnabend, den 15. Dezember 1832, fand nicht mehr in der Hofkapelle statt, sondern im Ballsaal des „Hôtel de Pologne“. Damit trat das Lied auch räumlich aus dem kirchlichen Umfeld heraus. Von Anfang an hatte ja unser Lied nur eine geringe Bindung an Liturgie und Gottesdienst. Das geht aus seinem Stil ebenso hervor wie aus seiner ursprünglichen Begleitung mit Gitarre, einem Instrument, das damals dem privaten Bereich und dem Wirtshaus zugeordnet wurde, nicht aber der Kirche. Es ist deshalb kein Zufall, dass „Stille Nacht!“ im 19. Jahrhundert nur selten in kirchlichen Gesangbüchern zu finden ist, dagegen häufig in Liederbüchern für Gesangsvereine oder Schulen.

Die Strassers boten 1832 ein bunt gemischtes Musikprogramm dar. Der gesamte Auftritt einschließlich der Werbung war professionell organisiert. Selbst die Konzertkleidung des Gesangsquartetts war wohlüberlegt, denn auf dem wenig später erschienenen Noten-Druck des jungen, politisch links engagierten Dresdner Verlagsbuchhändlers August Robert Friese (1805–1848)[1700] wird die Gruppe in ihrer heimatlichen Tiroler Tracht abgebildet. Die Geschwister hatten sorgfältige Öffentlichkeitsarbeit geleistet, denn das Konzert war in der Presse durch mehrfache Anzeigen und Hinweise und durch eine detaillierte Programmvorschau bestens vorbereitet worden. Laut Anzeige im Leipziger Tageblatt vom 14. Dezember 1832 boten sie u. a. folgende Lieder dar: „Der Schnee“, „Der Kuhreigen“, „Das hertzige Schatzel mit dem Strauß“, „Ein lustiges Nationallied mit dem Tuxthaler Jodler“, „Der Hans mit den blauen Augen“ und „Rückkehr in die Heimat“.

Das Stille-Nacht-Lied war gar nicht vorgesehen und wurde erst auf besonderen Wunsch, der in einem anonymen Leserbrief am Konzerttag im Leipziger Tageblatt veröffentlicht worden war, eingefügt. So heißt es wenige Tage später in der Pressekritik: „Auch hatten die Sänger dem in diesem Blatte ausgesprochenen Wunsche, das schöne Weihnachtslied: ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ vorzutragen, freundlich entsprochen“.[1701] Man könnte fast auf die Idee kommen, die Strassers hätten den Leserbrief im Rahmen ihrer einfallsreichen Werbung selbst veranlasst. Die Wirkung des Auftritts war jedenfalls enorm, denn der daraufhin erfolgte Erstdruck des Liedes „Stille Nacht!“ durch Friese öffnete dem Lied alle Türen, vor allem in den Ländern Sachsen und Preußen, aber auch in Hamburg, Kopenhagen und in Übersee.

Die textlichen und musikalischen Veränderungen, mit denen das Zillertaler Quartett das Lied vortrug, sind schon häufig dargestellt worden.[1702] Wichtiger in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass das Stille-Nacht-Lied im lutherischen Königreich Sachsen 1836 erstmals Eingang in ein Schulliederbuch fand. Der Kantor und dritte Lehrer an der Knabenschule zu Grimma, C. A. Abmeyer, veröffentlichte das Lied in der Fassung des Erstdruckes von Friese in seiner „Sammlung zwei- und dreistimmiger Gesänge für Volksschulen“.[1703] Es ist kaum denkbar, dass eine solche Veröffentlichung damals ohne die Billigung der Schulaufsichtsbehörde stattgefunden hat, und diese war dem Herausgeber sehr nahe, denn sie befand sich am Ort. Im Königreich Sachsen lag die Aufsicht über das Schulwesen nämlich seit Sommer 1835 nicht mehr beim Konsistorium in Leipzig oder beim Oberkonsistorium in Dresden, sondern war dezentralisiert worden und delegiert an die Kirchen- und Schuldeputation des jeweiligen Kreisdirektoriums oder an den Gemeinderat unter Vorsitz des Ortspfarrers, in diesem Falle des Grimmaischen Superintendenten August Gottfried Hanke.

Offensichtlich haben die sächsischen Lutheraner an diesem aus dem österreichischen Katholizismus stammenden Lied nichts auszusetzen gehabt. Die Sachsen waren es ja seit ihrer ambivalenten Haltung zu Habsburg im 16. und 17. Jahrhundert gewohnt, bestimmte Teile der katholischen Frömmigkeit zu dulden und gleichzeitig die katholische Theologie scharf abzulehnen. Unser Lied ist 1838 in das Katholische Gesangbuch Sachsens aufgenommen worden,[1704] allerdings in behäbigem 3/2-Takt notiert und damit den kirchlichen Gesangsgewohnheiten der Zeit angepasst. Dabei scheint man auf lutherischer Seite keinen Anstoß an der Formulierung der Zillertaler Sänger genommen zu haben, die das Elternpaar Jesu als „trautes hochheiliges Paar“ bezeichnen, während der Dichter Joseph Mohr die bescheidenere Formulierung „trautes heiliges Paar“ gewählt hatte.

Zwischen der Fassung Leipzig 1838 und der handschriftlichen Fassung Joseph Tremmls (Musikalienarchiv der Erzabtei St. Peter/Salzburg, Signatur Gru 20.4) besteht mit Sicherheit eine literarische Abhängigkeit, es fragt sich nur, in welcher Richtung. Es ist der gleiche Satz in C-Dur mit Notierung im 3/2-Takt. Beide Fassungen haben die Stimmkreuzung zwischen Sopran und Alt in den letzten beiden Noten. Tremml bringt zwar alle sechs Strophen, aber in Strophe 1 die spätere Form mit dem „hochheiligen Paar“ (in einer der beiden Altstimmen steht noch „trautes heiliges Paar“). Leipzig 1838 bietet nur die spätere Kurzfassung (Strophe 1, 6, und 2), dafür aber das ursprüngliche „traute heilige Paar“. Kleinere Abweichungen erklären sich aus dem unterschiedlichen Verwendungszweck als Chorsatz (Tremml) und als Orgelbegleitsatz (Leipzig 1838).

Eine weitere Veröffentlichung unseres Liedes zwischen 1833 und 1844 in Sachsen bietet der „Musikalische Hausschatz der Deutschen“, den Gottfried Wilhelm Fink 1843 in Leipzig herausgegeben hat. Auch diese Ausgabe hielt sich an Frieses Druck, fügte der Melodie aber weitere Sentimentalisierungen hinzu. Die Zillertaler Sänger scheinen bei den Worten „alles schläft“ die Terz und bei „einsam wacht“ die Quarte heruntergeschleift zu haben. In Finks „Hausschatz“ wird diese Praxis übernommen, aber es werden nun zusätzlich die hohen Töne durch kleine Vorschlagsnoten von unten angeschleift. Das hat insofern Bedeutung, als genau diese sentimentalisierenden Verzierungen in der nächsten Stufe der lutherischen Rezeption des Stille-Nacht-Liedes entschlossen zurückgenommen werden.

Ein Jahr nach dem Fink’schen „Hausschatz“ finden wir nämlich unser Lied in einem Liederheft in Hamburg. Der Gründer und Vorsteher des „Rauhen Hauses“ in Horn bei Hamburg, Johann Hinrich Wichern, hatte 1844 für seine Heimkinder ein Liederbüchlein, bestehend aus einem Noten- und einem Textheft „für unseren nächsten Hausbedarf“ zusammengestellt.[1705] In diesem Liederbüchlein steht auch das Lied „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Dass Wichern, der Wegbereiter kirchlicher Sozialarbeit und eine der wichtigsten Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert, die Lieder dieses Heftes persönlich bearbeitet und herausgegeben hat, teilt er in seiner Schrift „Rettungsanstalten als Erziehungshäuser“ mit.[1706] Ein charakteristisches Merkmal des ursprünglichen Weihnachtsgedichtes „Stille Nacht! Heil’ge Nacht!“ aus dem Jahre 1816, das durch die 1995 gefundene Handschrift Joseph Mohrs[1707] bestätigt wird, war ja, dass der Name Jesus darin acht Mal vorkommt, der Hoheitstitel Christus dagegen kein einziges Mal. Dies hat einerseits direkten Bezug zur Jesus-Frömmigkeit der Salzburger Gnadenbilder, Wallfahrtsorte und Weihnachtskrippen, ist aber zugleich ein Bekenntnis des Dichters Joseph Mohr zum Mensch- und Brudersein Jesu, das in seinem Lied mehrfach zum Ausdruck kommt.

Johann Hinrich Wichern passt nun unser Lied an den lutherischen Sprachgebrauch an, dem das Wort „Christkind“ näher liegt als das Wort „Jesuskind“. Er gibt dem Lied die Überschrift „Freude am Christkind“, und am Schluss der Strophe zwei heißt es bei ihm erstmalig anstatt „Jesus, der Retter ist da!“ „Christ, der Retter ist da!“. Dementsprechend ließ Wichern in der dritten Strophe die Kinder singen „Christ in deiner Geburt!“ statt „Jesus in deiner Geburt“. Die Jesusfrömmigkeit des Liedes wird hier sozusagen dogmatisch korrekt gefasst und in Christusfrömmigkeit verwandelt. Auf der gleichen Linie liegt es, dass Wichern die von ihm regelmäßig veranstalteten Weihnachtsfeiern für arme Leute auch „Christfeiern“ nennt, bei denen „Christlieder“ gesungen werden.[1708] Er greift damit ein Thema auf, das die evangelische Theologie im 19. Jahrhundert mehrfach beschäftigt hat.

Im Zuge der aufkommenden Leben-Jesu-Forschung wurde der Jesus der Geschichte oft als Gegensatz zu dem Christus der Glaubenslehre empfunden. Der Jesusname galt bei manchen evangelischen Theologen als „nur historisch“ und theologisch weniger gefüllt als der heilsgeschichtlich bedeutsame Christustitel. Wichern war heilsgeschichtlich orientiert. Ihm kam es weniger auf den historischen Ursprung des Glaubens an als auf die Früchte, die er bringt, auf die „Rettung“ von Menschen. Dazu kommt noch, dass Wichern hier wohl auch seinem theologischen Lehrer Friedrich Schleiermacher gefolgt ist, dem er ansonsten durchaus kritisch gegenüberstand. Schleiermacher sprach fast nur von Christus, weil er nicht den historischen Jesus, sondern den Heiland und Erlöser meinte. Die englische Übersetzung des Stille-Nacht-Liedes von Reverend John Freeman Young (Mitte 19. Jahrhundert) vereinigt beide Traditionen. Sie lässt die Strophe 2 enden mit „Christ, the Savior is born!“, nimmt aber in Strophe 3 die ursprüngliche Fassung wieder auf: „Jesus, Lord at your birth“.[1709]

Wicherns Sammlung „Unsere Lieder“ ist in vier Auflagen erschienen: 1844, 1853, 1861 und 1869/70. Das Heft verbreitete sich rasch, allein die zweite und dritte Auflage bestand aus jeweils etwa 5.000 Exemplaren, und von Liedern allein „für unseren nächsten Hausbedarf“ konnte angesichts des riesigen Freundes- und Interessentenkreises des „Rauhen Hauses“ von Anfang an keine Rede sein. Wichern war ein musikalisch hochgebildeter und versierter Mann und ein bemerkenswerter Sänger und Pianist.[1710] Seine 120 Heimkinder genossen einen umfassenden musischen Unterricht und sangen in einem von Wichern selbst geleiteten Chor erstaunlich anspruchsvolle Chorliteratur. Darüber informiert er im Vorwort zur 2. Auflage von „Unsere Lieder“.[1711] Dort heißt es: „Der hiesige volle Chor umfaßt außer den Sopran- und Altstimmen zusammen zwischen 50 und 60 Tenöre und Bässe; derselbe singt Fugen aus Händels Messias und Motetten von Haydn, Michael Bach und anderen Meistern.“

Wichern hat nicht nur das Stille-Nacht-Lied, sondern auch andere Weihnachtslieder bearbeitet, z. B. „O du fröhliche“, das er auf fünf Strophen erweiterte. Etliche Lieder sind ganz neu von ihm gedichtet worden.[1712] Übrigens hat Wichern seinem Chor Erstaunliches zugemutet: Die einstündigen Proben fanden einmal in der Woche statt, wenn die Glocke zur „Stunde“ geläutet hatte, und das war morgens sechs Uhr vor dem Frühstück.[1713] Bei alledem hatte Wichern ganz bestimmte programmatische Vorstellungen. Im Vorwort zur vierten Auflage von „Unsere Lieder“ beschreibt er sein Anliegen, volkstümliches und kirchliches Liedgut zusammenzuführen und die Trennung beider Bereiche aufzuheben: „Abgesehen von anderem, liegt mir daran, die so wesentliche Durchdringung des Volkstümlichen und des spezifisch Christlichen sowie die Berechtigung der Zusammengehörigkeit dieser beiden Elemente in dieser Sammlung zur Darstellung zu bringen.“ So wurde Johann Hinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, zum Urheber genau der Fassung des Stille-Nacht-Liedes, die seit 1993 als Nr. 46 im „Evangelischen Gesangbuch“ (EG) steht.

Auch die Melodie hat durch Wichern zum ersten Mal die heute übliche, von später hinzugefügten Verzierungen und Sentimentalisierungen gereinigte Gestalt bekommen. Es stellt sich natürlich die Frage, woher Wichern das Lied kannte oder welche Veröffentlichung ihm als Vorlage gedient haben könnte. Eine der sächsischen Veröffentlichungen muss Wichern vorgelegen haben, denn er verwendet das Wort vom „hochheiligen Paar“, das aus der Zillertaler Tradition stammt und das im Anschluss an den Druck von Friese in allen sächsischen Veröffentlichungen (außer Leipzig 1838) wiederkehrt. Wichern selbst gibt im Vorwort den Hinweis, er habe als Quelle auch den „Abela“ benutzt.[1714] Das Buch stammte aus dem Bereich der Diakonie, die auch Wicherns Lebensthema war, denn es galt „zunächst für die Schulen in Francke’s Stiftungen“ in Halle/Saale. Wir finden in dieser Sammlung das Stille-Nacht-Lied unter dem Titel „Weihnachtslied“. Ohne Zweifel hatte Wichern hier seine Vorlage, wenngleich er die Überschrift änderte in „Freude am Christkind“. Alle anderen von ihm im Vorwort genannten Quellen enthalten das Lied nicht. Wichern hat die Melodievorlage Abelas nur in Takt 3-4 verändert, indem er die Portamento-Schleifer beseitigte.

Allerdings gibt es bei der Rezeption des Liedtextes durch Johann Hinrich Wichern eine Kuriosität: In dem Notenheft von 1844 lesen wir nämlich unter den Noten die Textfassung mit dem „trauten hochheiligen Paar“, wie sie in seiner Vorlage geschrieben stand. Beim Erstellen des Textheftes muss Wichern jedoch theologische Skrupel bekommen haben. Er mochte das Elternpaar Jesu nicht mehr „hochheilig“ nennen, denn solcher Heiligenkult war für ihn als lutherischen Pastor nicht akzeptabel. Außerdem wird ja an Weihnachten allenfalls die Nacht der Geburt als hochheilig bezeichnet, jedoch kein Mensch, nicht einmal das Jesuskind. In der Oratio der ersten Weihnachtsmesse heißt diese Nacht „sacratissima nox“, und von Christoph von Schmid kennen wir aus dem Lied „Ihr Kinderlein, kommet“ die Verse „... und seht, was in dieser hochheiligen Nacht der Vater im Himmel für Freude uns macht“. So dichtete Wichern unser Lied um und setzte das Elternpaar des Christkindes in der geistlichen Rangordnung um eine Stufe herab. Die erste Strophe in der Fassung des dazugehörigen Textheftes enthält im Gegensatz zum Melodieheft auf einmal die Worte „nur das traute so selige Paar“. Bei dieser Textfassung ist Wichern in allen späteren Auflagen von „Unsere Lieder“ geblieben. Trotzdem hat sich dieses Detail seiner Korrektur nicht durchgesetzt.

Eine andere typisch evangelische Umdichtung ist um 1950 anlässlich der Herausgabe des „Evangelischen Kirchengesangbuchs“ (EKG) beliebt geworden. Das Lied war ja im Zuge seiner prinzipiellen Ablehnung durch die Singbewegung und die kirchenmusikalische Erneuerung nicht in den gemeinsamen Stammteil aufgenommen worden. Mehrere deutsche Landeskirchen fügten es aber in ihren regionalen Anhang ein. Die folgende Umdichtung (z. B. im EKG-Baden 1951, Nr. 406) nimmt dem Elternpaar das Attribut „hochheilig“ und verschweigt zugleich das als peinlich empfundene Lockenhaar des Jesuskindes. Dadurch lautet der Text jetzt: „... alles schläft, einsam wacht nur das heilige Elternpaar, das im Stalle zu Bethlehem war, bei dem himmlischen Kind“. Diese ziemlich nichtssagende Variante finden wir bereits 1888 in einem Liederbuch fürs christliche Haus[1715] und 1894 in den Liederperlen, einem lutherischen Auslandsgesangbuch („Sammlung von Liedern geistlichen und gemischten Inhalts, theils in deutscher, theils in englischer Sprache, nebst einer Anzahl Spiellieder, ein- zwei- und dreistimmig gesetzt für unsere Schulen. St. Louis, Mo. Concordia Publishing House“).[1716] In das neue „Evangelische Gesangbuch“ aus dem Jahre 1993 hat diese Fassung keinen Eingang mehr gefunden.

So sind die Melodie mit dem Text der Strophe 1 aus Wicherns Melodienheft 1844 und die Texte der Strophen 2 und 3 aus seinem Textheft zur deutschen Standardfassung geworden, die sich seit 1849 vor allem durch die Veröffentlichungen des Berliner Volksliedforschers Ludwig Erk in vielen Liederbüchern durchgesetzt hat. Ludwig Erk hatte sich Jahrzehnte lang mit dem Stille-Nacht-Lied beschäftigt. Die folgenden seiner Ausgaben zeigen dabei den sich wandelnden Kenntnisstand Ludwig Erks (in Klammern seine jeweiligen Herkunftsangaben für das Lied): „Singvöglein“, 4. Heft, 1849 („Neueres Volkslied aus dem Zillerthale“); „Weihnachtslieder aus alter und neuerer Zeit“, 1860 („Angeblich von Michael Haydn“); „Erk’s Jugendalbum“, 1871 („Nicht von Michael Haydn. ? Joh. Kaspar Aiblinger“); „Weihnachtslieder aus älterer und neuester Zeit“, 1874 („Franz Gruber 1818. Joseph Mohr 1818“). Neben die letztere Autorenangabe setzte Erk den Vermerk „L. E. 1847“. Das könnte ein Hinweis auf das Jahr sein, in dem er seinen dreistimmigen Satz angefertigt hat.

In katholischen Gesangbüchern findet sich gelegentlich noch heute – mehr oder weniger genau wiedergegeben – die Textfassung des Erstdruckes von Friese[1717] oder eine Fassung, die dem Autograf von Joseph Mohr[1718] weitgehend entspricht, z. B. in: „Gotteslob, Katholisches Gebet- und Gesangbuch“ (1975), Nr. 145. – Ob die letztere Fassung in der Praxis der deutschen katholischen Kirchengemeinden auch wirklich gesungen wird, ist eine andere Frage.



[1696] [Weinmann 1918], S. 49–50.

[1697] Erstveröffentlichung: [Herbst 2001].

[1698] [Weinmann 1918], S. 49–50.

[1700] [Friese Tyroler-Lieder], Faksimile in: [Hintermaier 1987], S. 46. – Über Friese: [Neuer Nekrolog der Deutschen] Jg. 26 (1848), S. 699 f.

[1701] [Leipziger Tageblatt] (1832-12-27), S. 1927–1928.

[1703] [Abmeyer 1836], Abt. 2, S. 30 (Deutsches Volksliedarchiv Freiburg im Breisgau, Sign. V 5,13).

[1704] [Katholisches Gesang- und Gebetbuch 1838]: Das Gesangbuch selbst ohne seinen musikalischen Teil ist in mehreren Bibliotheken vorhanden. Das Melodienbuch ([Melodienbuch 1791]) findet sich in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln (Signatur: Bäumker 1791).

[1705] [Wichern 1844], Bd. I, Nr. 111 und Textbd., Nr. 111 (Deutsches Volksliedarchiv Freiburg im Breisgau, Signatur: V 3, 3460, 1–2).

[1706] [Wichern 1961], Bd. 7, S. 477.

[1707] [Ebeling-Winkler 1995], mit Faksimile des Autografs.

[1708] [Wichern 1961], Bd. 2, S. 207.

[1711] Die Vorworte der einzelnen Ausgaben sind abgedruckt in: [Wichern 1961], Bd. 5, S. 356–361.

[1712] [Wichern 1961], Bd. 5, S. 361 ff.

[1713] [Schmid 1859], Bd. 6, S. 612.

[1714] [Abela 1842], [Abela 1843] und [Abela 1845] (Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale, Signatur: S/FS.4:420).

[1716] [Bronner 1994], hier S. 239.

[1718] [Ebeling-Winkler 1995], mit Faksimile des Autografs.

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