Diese Begriffe werden heute in Politik, Kultur und Wissenschaft strapaziert. Im landläufigen Sprachgebrauch wird „Identität“ häufig als Resultat eines biologisch bzw. regional vorgegebenen, unveränderbaren „Erbes“ angesehen. Daneben war das Bedürfnis von Regionen nach Selbstdefinition über öffentlich verwendete „Einzigartigkeiten“ nie größer als heute.
„Identität“ ist und war niemals Summe eines solchen „Erbes“, sondern sie ist ein steter, wandlungsfähiger Prozess sinnstiftender Aneignung, Synthese und Integration. „Identität“ ist die Strukturierung und Formung eines jeweiligen, sozial, regional und zeitlich geschaffenen Selbstverständnisses.[151] Sie vermittelt Vertrautheit, Sicherheit und Beheimatung.
Kulturindikatoren und Identifikatoren sind Teile jener Strategien, mit denen sich Gruppen von Menschen Konzepte wie „Heimat“, „Tradition“, „Kultur“, „Authentizität“ und „Identität“ aneignen. Symbole und symbolhafte Handlungsweisen (Denkmale, Sachgüter, Sitten, Bräuche etc.) wurden und werden, nach den jeweiligen Bedürfnissen, zu einem konkreten Erfahrungsraum verwoben, der Zugehörigkeit vermittelt. Wieweit Bräuche und Rituale ausgehend von den täglichen Ritualisierungen für jeden von uns alltäglich notwendig sind, lesen Sie im Beitrag von Alexander G. Keul „Stiften Bräuche Identität?“
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird eine neue Salzburger Identität, die seit 1842 auf die Säulen Tourismus und Mozart gestellt ist, ausgebildet. Das endgültige Ende des Erzstiftes 1916 und die Zuordnung Salzburgs zum Kronland Oberösterreich der Habsburger Monarchie bedeutete nicht nur Abwanderung und wirtschaftliche Nöte, sondern auch Identitätsverlust. Die Protokolle des Salzburger Gemeinderates wie die Gründung der Mozartgemeinde zeigen diese Suche nach Identität deutlich.[152] Die Bewahrung der Salzburger Altstadt, der Landschaft und der Volkskultur wurde erstmalig beschlossen.
1911 wurde – im Zusammenhang mit der Heimatschutzbewegung, die Denkmalschutz, Brauchtumspflege und neomerkantile Förderung der Gewerbe zum Ziel hatte – ein Landesausschuss zur „Förderung und Hebung der Salzburger Eigenart in Tracht, Sitten und Gebräuchen“ gegründet: Unterscheidung (Differenzierung) und Abgrenzung (Distinktion) waren in dieser Entwicklung – sowie in allen weiteren – Grundlage der Identitätsbildung.
Nach der in der NS-Zeit durchgängig verordneten germanisch-deutschen Parteiidentität folgten nach 1945 mehrere Perioden der Reorganisation eines Österreichbewusstseins, u. a.: Trachtenpflege, Altstadterhaltung, Fremdenverkehrsparadies, Skiwelt Amadé etc. Heute operieren Marketing- und Tourismusprogramme mit idyllischen, nostalgischen Identitäten. „Das Leben in unserer Region ist geprägt von dynamischen Veränderungen. Die dörfliche Kultur lebt heute zwischen Tradition und immer aggressiverem Massentourismus. Als inszenierte Idylle soll das Leben unter wolkenlosem Himmel die Sehnsüchte nach kurzem Glück [...] befriedigen“, so Heiner Zametzer, der nach einem möglichen Weg zwischen Alpen-Mega-Sportpark und nostalgischer Rückbesinnung fragt.[153]
„Identitätsofferten bedürfen offenbar einer Differenz, die in der Moderne [...] auch [...] mit dem Merkmal der als historisch-ethnisch deklarierten Volkskultur formuliert werden kann. Insofern wäre der Regionalismus die andere Seite einer Münze, die wir Globalisierung nennen“,[154] stellt Konrad Köstlin fest. „Promoted differences“[155] werden im Alltag zur Selbststilisierung und Sinnstiftung eingesetzt. Sie dienen als Kulturtechnik und Ordnungssystem in einer sich globalisierenden Welt.[156] Das Identitätsmuster der „promoted differences“ ist zum Ordnungssystem und Handlungsrahmen[157] der postmodernen Gesellschaft geworden. Der Reflexions- und Relationsbegriff Identität[158] wird dadurch in sein Gegenteil verkehrt, er wird zur „banalité précise“,[159] zur schwammigen und im politischen Diskurs gefährlichen „Parole“ (im Sinne Pierre Bourdieus).[160]
Die Vorgabe instrumentalisierender, unausweichlicher Bedarfsidentitäten kann sogar zur Desintegration und zu Brüchen in der Persönlichkeit führen. Denn Identitäten eignen sich im Sinne von Bourdieus „Distinktion“[161] sowohl zur Schaffung von Nähe wie von Distanz, zur Ein-, Ab- und Ausgrenzung. Psychologisch gesehen ist Identität nicht dasselbe wie Individualität. Identität ist das zwischenzeitige Ergebnis weitreichender individueller Synthese-, Integrations- und Kommunikationsleistungen.[162] Eine Förderung der Identitätsbildung muss daher über Angebote zur Selbsthilfe erfolgen, über die Schaffung von Rahmenbedingungen zur Ausbildung multipler (vielfältiger), gegenwartsbezogener Identitäten für viele Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft: z. B. über die (Volks-)Kulturvereine am Lande, die Erwachsenenbildung oder die Salzburger Volkskultur. Die Aufgabe starrer, stilisierter und historisierender Landesidentitäten zugunsten einer kreativen Kulturarbeit steht dabei im Mittelpunkt.
Die Vielschichtigkeit gegenwärtigen Lebens, die Einbindung jedes Einzelnen in mehrere gesellschaftliche Subsysteme erfordert die gleichzeitige Ausbildung vielschichtiger Verhaltensweisen und Rollenbilder als persönliche, verschränkte und tragfähige Identität. Ohne vorgegebene, vorgefertigte, standesspezifische Identitäten ist die Ausbildung der persönlichen Identität daher zur geistigen und sozialen Leistung der Individuen geworden. Immer wieder sind Orientierungslosigkeit und Ängste das Resultat misslungener Identifikationsprozesse. Projiziert auf Unbekanntes, entstehen daraus Intoleranz und Fremdenhass.
Daher ist die Erfahrung von Nähe, Vertrautheit sowie konkreter Mitgestaltungsleistungen notwendig. Dazu bieten sich alle Formen regionaler und lokaler Vereinigungen an, die aktives Engagement ermöglichen. Vielfach sind dies Brauchtumsvereine, Musikkapellen und -ensembles, Theatergruppen und Kulturvereine mit über 33.000 Mitgliedern in Salzburg (1998). Für die Integration in komplexen Gesellschaften sind diese überschaubaren Einheiten besonders wichtig, da in ihnen aktive Produktions- und Reproduktionsgemeinschaften entstehen, in denen Übereinstimmung in Bezug auf den Sinn des Lebens möglich ist.[163] Dort entwickelt sich Kreativität als Ausdruck der kulturellen Bestimmtheit des Menschen.[164] Identifikatoren entstehen und führen zur Ausbildung tragfähiger Bedürfnis-Identitäten. Perchtentänzer und Vereinsobmann, Vater, Ehemann, Abteilungsdirektor, Hobby-Computerspezialist, Umweltschutz und katholische Gemeindearbeit lassen sich daher heute als Teilrollen eines Lebens in einer Persönlichkeit positiv vereinbaren.
Werden Bräuche einer Region – dasselbe gilt für alle Normen, Handlungen und Objekte von identifikatorischem Wert – nicht als statische, geschichtslose Phänomene ethnischer Ausprägung, sondern als jeweils genau definierte Schnittpunkte im Koordinatenkreuz der Kulturdimensionen (Zeit, Raum, soziale Gruppe – und aus heutiger Sicht: Individuum) betrachtet, so wird in ihnen die Verschränkung vielfältiger Einflüsse sichtbar. Oberflächlich betrachtet können gleiche und ähnliche Erscheinungen Symbole für unterschiedlichste Distinktionsansprüche sein.
In allen historischen Entwicklungsstufen lassen sich wechselnde Kulturkontakte wie bedürfnisgerechte Rezeptions- und Reproduktionsprozesse vor der Folie des Lebensumfeldes aufzeigen. Kultur und damit die Ausbildung kultureller Identitäten ist ein Prozess mit offenem Ausgang, der insofern der steten Stützung und Begleitung bedarf, als er in Gang bleiben muss. Kulturindikatoren absolut zu setzen, hieße, diesen Prozess zu unterbrechen, ihn für eine gewisse Zeit „einzufrieren“, solange, bis er abrupt abbricht. Die Förderung von Identitätsbildungsprozessen muss mit der gleichzeitigen Erziehung zu Respekt und selbstbewusster Toleranz gegenüber anderen Kulturmustern einhergehen. So wird „Identität als materielle und immaterielle Satisfaktion“ stets danach streben, „sich der Übereinstimmung zwischen dem Individuum und seiner sozialen und räumlichen Umwelt zu nähern“.[165]
[150] Diesem Beitrag liegen zugrunde: [Kammerhofer-Aggermann/Keul 2000a]. – Sowie die daraus entwickelte Einleitung zum Beitrag: [Kammerhofer-Aggermann 2000a]; in deutscher Sprache: [Kammerhofer-Aggermann 2001a].
[151] [Straub 1991]. – [Wodak 1998].
[152] [Kammerhofer-Aggermann 1993a]. – [Kammerhofer-Aggermann 1993b]. – [Kammerhofer-Aggermann 1996].
[153] Heiner Zametzer: Einladung zu den Oberndorfer Kulturgesprächen am 22.06.2001.
[154] [Köstlin 2000], hier S. 68.
[155] [Köstlin 1980]. – [Schulze 1995], S. 203. – Zusammenfassung über den unveröffentlichten Vortrag von Gerhard Schulze in: [BeckSt 1998].
[156] [Bendix 1998]. – [Welz 1998]. – Dort zit.: [Hannerz 1995]. – Vgl. [Gerndt 1996].
[157] [Goffman 1982], S. 273–276. – [Soeffner 1995], S. 166 ff.
[158] [Straub 1991].
[160] [Bourdieu 1993], S. 56 f.
[162] [Straub 1991].
[163] [Steward 1972], S. 168–171 und S. 40. Zit. nach [Greverus 1995c], hier S. 168–171 und [Greverus 1995b], hier S. 40.
[164] [Greverus 1995c], hier S. 168–171 und [Greverus 1995b], hier S. 40. – [Göttsch 1991]. – [Greverus 1978].