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2.5. Gegenwart zwischen Religion und Kommerz (Hans Paarhammer)

2.5.1. Kurztext

2.5.1.1. Religion – eine „säkularisierte Privatsache“?

Religion und Rituale gehören seit Menschengedenken zum Menschsein und zur Deutung des menschlichen Daseins. Religion und das „Heilige“ (Rudolf Otto) gehören zusammen. Heilige Orte und Zeiten, Gegenstände und Personen, Symbole und Zeichen, Worte und Schriften nehmen den Menschen in die religiöse Sphäre hinein. Etymologisch wird der Begriff „religio“ verschieden gedeutet: Der antike römische Philosoph und Schriftsteller Cicero geht vom Verbum „relegere“ aus, was so viel bedeutet wie „sorgsam beachten“, „sorgfältig wahrnehmen“. Der christliche Schriftsteller Lactantius leitet das Wort Religion vom lateinischen Verbum „religare“ ab, das für „verbinden, zurückbinden“ steht. Thomas von Aquin erklärt den Begriff Religion als die „Bestimmung, die Hinordnung des Menschen zu Gott zu tragen“.

Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch einen religiösen Pluralismus und eine zunehmende Säkularisierung aller Lebensbereiche. Die Kommerzialisierung bedroht nicht nur die Religion und die im Glauben eingewurzelte Lebensgestaltung des Menschen, sie gefährdet das Lebensgefühl und die Orientierung des Einzelmenschen wie der menschlichen Gesellschaft. Glaubenskrise und Säkularisierung stellen eine gewaltige Herausforderung für die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Gegenwart dar. Dazu kommt die starke Tendenz zur Privatisierung des Religiösen. Religion hat aber immer „Öffentlichkeitsanspruch“ . Das Christentum ist von der Bibel her auf die gesamte Schöpfung und damit in die Öffentlichkeit der Welt und aller Völker orientiert.

2.5.2. Langtext

2.5.2.1. Allgemeines zum Begriff „Religion“

Seit Menschengedenken gehört zum Menschsein und damit zur Deutung des menschlichen Lebens die Religion. „Überall und zu allen Zeiten haben sich Menschen suchend, fragend und bittend an ihre Gottheit, an ihre Götter gewandt, um damit auch indirekt oder direkt die Sinnfrage ihres Lebens zu beantworten, eine Orientierung des Lebens zu finden.“[189]

Das Wort „Religion“ kommt aus der lateinischen Sprache und wird allgemein als „Gottesfurcht“ interpretiert. Etymologisch[190] wird der Begriff „religio“ verschieden gedeutet. Cicero leitet Religion vom Verbum „relegere“ ab, was so viel bedeutet wie „sorgsam beachten“, „sorgfältig wahrnehmen“. Er erklärt Religion deshalb als „die sorgfältige Beachtung all dessen, was zum Kult der Götter gehört“. Eine andere Deutung des Wortes „Religion“ gibt der antike christliche Schriftsteller Lactantius. Er leitet Religion vom lateinischen Wort „religare“ (= verbinden, zurückbinden) ab.

Diese Deutung vertritt auch Augustinus, für den die wahre Religion diejenige ist, „durch die sich die Seele mit dem einen Gott, von dem sie sich gewissermaßen losgerissen hat, in der Versöhnung wieder verbindet“. Die lateinischen Christen benutzten das Wort „Religion“ zur Weitergabe verschiedener griechischer Begriffe wie z. B. „threskeia“ (= heiliger Brauch, Gottesdienst), „eulabeia“ (= Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht), „eusebeia“ (= Frömmigkeit, Ehrfurcht vor Gott), „latreia“ (= Gottesdienst, heiliger Dienst, Kult). Bei den lateinischen Kirchenvätern wurde „religio“ schließlich zu einem zentralen theologischen Begriff, mit dem man das Verhältnis Gottes zum Menschen und die Beziehung des Menschen zu Gott bezeichnete. Religion ist eine spezifische Funktion des Menschseins. Religiöse Phänomene begegnen uns auf Schritt und Tritt in der Gesellschaft und im Lebenslauf. Die Funktion der Religion für Individuum und Gemeinschaft ist von vielschichtiger Bedeutung.[191] Formal lässt sich Religion als ein Glaubenssystem beschreiben, das in Lehre, Praxis und Gemeinschaftsformen Antworten auf die drei Grundfragen des Menschseins gibt: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Woran können wir uns halten? Es geht also um Antworten und Erklärungen der Sinnfrage.

Die Antworten auf diese existenziellen Fragen des menschlichen Daseins werden in den verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten in je anderer Form geboten. Vereinfacht lassen sich von der Religionsgeschichte her zwei Grundlinien unterscheiden: „In Kulturen, die vor allem von der Natur her orientiert sind und in denen der Mensch sich und sein Leben primär als Teil des Naturgeschehens begreift, steht die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Naturwelt oder der Ordnung des Kosmos im Vordergrund.“[192] Demgegenüber begegnen in den insbesondere an der Geschichte und am menschlichen Handeln orientierten Kulturen die monotheistischen Religionen mit ihren Heilsvorstellungen und Heilserwartungen (Judentum, Christentum, Islam). Es handelt sich hierbei um Offenbarungsreligionen, in denen Gott sich „offenbart“, d. h., zu den Menschen spricht und zu den Menschen kommt. Am deutlichsten ausgeprägt ist dies im Christentum durch die Menschwerdung des Gottessohnes. Im Hebräerbrief wird das mit dem Satz auf den Punkt gebracht: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten, in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens.“ (Hebr 1,1–3).

Thomas von Aquin erklärte den Begriff Religion vor dem Hintergrund der in der Bibel grundgelegten Schöpfungs- und Erlösungsordnung als „die Bestimmung, die Hinordnung des Menschen zu Gott zu tragen“; er „konnte somit folgern, daß alle, die nach dem letzten Grund und Ziel von Welt fragen, damit den Namen Gott verbinden, also religiös sind.“[193] Das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) spricht in Nr. 2 der „Erklärung über die Religionsfreiheit“ davon, dass alle Menschen als Personen von ihrem eigenen Wesen her fähig sind und sogar gedrängt werden, „die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, die die Religion betrifft“.

2.5.2.1.1. Hinordnung auf die Transzendenz

Die transzendentale Perspektive auf Gott hin weist den Menschen über die Einschränkungen von Raum und Zeit hinaus in die Ewigkeit, hin zu dem, „was kein Auge geschaut, kein Ohr gehört und keines Menschen Sinn jemals vernommen hat, das Große, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ (1 Kor 2,9). Die Bibel spricht davon in farbenprächtigen und sehr anschaulichen Bildern und Begriffen: Reich Gottes, Leben in Fülle, himmlisches Hochzeitsmahl usw.

2.5.2.1.2. Der Mensch und das „Heilige“

Religion hat es mit dem zu tun, was man „heilig“ nennt. In der deutschen Religionswissenschaft hat man in Anlehnung an Rudolf Otto das Heilige als grundlegende religionsphänomenologische Kategorie bezeichnet. „Im Heiligen manifestiert sich das durch die Religion zugesagte oder erfahrbare Heil. So kann jeder Gegenstand, jede Geste, jede Handlung, aber auch jede Denkfigur ‚heilig‘ oder ‚geheiligt‘ und dadurch vom ‚Profanen‘ abgegrenzt sein. Das ‚Heilige‘ begegnet im ‚heiligen Raum‘ (Orte in der Natur, Gebäude), in der ‚heiligen Zeit‘ (gegliedert unter anderem durch Feste, die durch den Kreislauf der Natur oder durch die Erinnerung an mythologische oder historische Ereignisse bestimmt sind; häufig verbunden mit der Vorstellung von ‚heiligen Zahlen‘), in ‚heiligen Gegenständen‘ (Kultobjekte) und Symbolen sowie im ‚heiligen Wort‘ (Gebet, Bekenntnis, Orakel, Zauberspruch) und in ‚heiligen Schriften‘, durch die in den sogenannten Offenbarungsreligionen Bekenntnis, Kult und Gemeinschaft bestimmt werden. Das ‚heilige Wort‘ (Kultsprache) dient zur Kommunikation sowohl zwischen Mensch und Gottheit als auch innerhalb der sich als Bekenntnis-, Kult- und Heilsgemeinschaft verstehenden ‚heiligen Gemeinschaft‘. Zu ‚heiligen Menschen‘ gehören Ahnen, Stammesführer, Könige, Märtyrer und Mystiker, aber auch ‚religiöse Spezialisten‘ wie Religionsstifter, Mysten und Mystagogen, Priester, Heiler, Propheten, Lehrer. Zur ‚heiligen Handlung‘ in Kult und Ritus kann jede menschliche Geste und Verhaltensweise werden. Sie dient nicht nur der manipulativen Kontaktaufnahme mit der jeweiligen ‚Unverfügbarkeit‘, sondern diese wird im kultischen Geschehen als präsent vorgestellt.“

2.5.2.2. Säkularisierung und Religionskrise der Gegenwart

Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch einen religiösen Pluralismus und eine zunehmende Säkularisierung aller Lebensbereiche.[194] Ein besonderes Problem stellt dabei die einseitige Akzentuierung des Ökonomischen dar. Die Kommerzialisierung bedroht nicht nur die Religion und die im Glauben eingewurzelte Lebensgestaltung, sie gefährdet das Lebensgefühl und die Orientierung des Einzelmenschen wie der menschlichen Gemeinschaft.

„In unserem vom Christentum durch Generationen geprägten Europa stellt sich heute die Frage, ob Religion noch Zukunft habe oder wie weit der Gottesglaube – der heute zu einer Gottesfrage geworden ist – das Welt- und Menschenbild von morgen noch bestimmen werde.“[195] Glaubenskrise und Säkularisierung sind Phänomene der Gegenwart und stellen eine gewaltige Herausforderung für die Kirchen und Religionsgemeinschaften dar. Der Mensch mit seiner Frage nach dem Sinn seines Lebens steht damit vor vielen Fragezeichen.

„Angesichts unserer säkularisierten, religiös indifferenten Umwelt hat man allerdings oft übersehen, dass Religion vor allem mit dem Menschen und der menschlichen Gemeinschaft zu tun hat; man hat Religion zu ausschließlich als ein wissenschaftliches Gedankengebäude verstanden. Der religiöse Glaube aber braucht zwar ein religiöses Wissen, das sich in vielen Büchern finden lässt; das allein aber genügt nicht, denn Religion wurzelt im Menschen selber und ist so vor allem eine existentielle Frage.“[196] Zum persönlichen Glauben gehört die persönliche Erfahrung in der eigenen Religion. „Erst in Verbindung mit persönlicher Erfahrung, mit persönlicher Religiosität im Sinne christlichen Glaubens und eines persönlichen Gebetes kann religiöses Wissen zu einer großen Bereicherung und Orientierung des Lebens werden.“[197]

2.5.2.2.1. Religion im Spannungsfeld von privat und öffentlich

In der Gegenwart zeigt sich neben der Säkularisierung auch die Tendenz zur Privatisierung des Religiösen. Die christliche Botschaft aber ist „Evangelium“ – Frohe Botschaft nicht nur für den einzelnen Menschen in seiner Privatsphäre, sondern für die Öffentlichkeit der Welt und der menschlichen Gesellschaft. Religion ist daher immer schon prägend für das Miteinander und Füreinander der Menschen gewesen: in der Familie, in der Gemeinde, im Staat und in der Völkergemeinschaft dieser Welt. Die Kirche steht unter dem Postulat und Auftrag des Herrn selbst: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15).

2.5.2.3. „Menschenzeit in Gotteszeit“ – Wege durch das Kirchenjahr

Unter diesem Titel hat der Grazer Bischof Egon Kapellari ein Buch veröffentlicht, in dem er den Festkreisen und Festtagen des Kirchenjahres auf den Grund geht und ihren Sinn deutet.[198] Darin schreibt er im Vorwort: „Zeit wird im Laufe eines einzelnen Lebens, aber auch im Wechsel der Epochen sehr unterschiedlich erlebt. Kurzweiligkeit und Langeweile, Freude und Schmerz wechseln einander im Fluss der Zeit ab. Dichter, die tiefer erfühlen und sagen können, was eine Epoche besonders prägt, haben das Charakteristische an ihrer Zeit manchmal mit einem einzigen Wort ausgedrückt. So hat Friedrich Hölderlin von einer ‚dürftigen Zeit‘ und auch von einer ‚bleiernen Zeit‘ gesprochen. Marie Luise Kaschnitz nannte die von wachsender Beschleunigung bestimmten Jahrzehnte seit dem II. Weltkrieg eine ‚reißende Zeit‘. Von einer ‚erfüllten Zeit‘ spricht der Apostel Paulus im Brief an die Galater: ‚Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau‘ (Gal 4,4). Gott ist in Christus in einer neuen Weise in die Menschenwelt eingetreten. Die Begegnung mit ihm kann die Zeit der Welt verwandeln in eine ‚hochwillkommene Zeit‘, wie ebenfalls Paulus gesagt hat.“

2.5.2.4. „Das Kirchenjahr“, ein „Kunstwerk des Glaubens“

Im Laufe von Jahrhunderten ist das liturgische Jahr entstanden und mehr und mehr ausgebaut und bereichert worden. „Es ist eine Einladung an die Christen, die Distanz von 2000 Jahren aufzuheben, die seit der Geburt Jesu Christi vergangen sind. Eine Einladung ‚gleichzeitig‘ zu werden mit dem, was damals geschehen ist – zu Weihnachten in Bethlehem und zu Ostern und Pfingsten in Jerusalem.

Das Kirchenjahr als Zeitmaß der Kirche und das Kalenderjahr als Zeitmaß der Zivilgesellschaft stimmen in ihrem Ablauf nicht überein. Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Ostern und Pfingsten sind aber auch heute über den Kreis der tief im Glauben verwurzelten Christen hinaus prägend, auch wenn ihre Prägekraft sehr unterschiedlich ist. Die Redensart ‚Ich habe keine Zeit‘ ist eines der Stigmata unserer Epoche. [...] Wer Gott in seinem Leben Raum gibt, der gewinnt Zeit, erfüllte Zeit.“[199] Unter Kirchenjahr versteht man „das feiernde Gedächtnis der Heilstaten Gottes in Jesus Christus im Ablauf des Jahreskreises“. „Die Kirche feiert im Jahreskreis das ganze Mysterium Christi: Von der Menschwerdung bis Pfingsten und bis zur Erwartung der Wiederkunft des Herrn.“[200]

Im Kirchenjahr steckt eine wunderschöne und höchst weise Pädagogik: Der einzelne Mensch mit seiner sozialen Verflochtenheit in Familie, Gemeinde, Hausgemeinschaft, Verein usw. wird durch das Leben Jesu geführt, aber auch durch die bedeutsamen Etappen der Heilsgeschichte und erfährt dabei, wie er selbst hineingenommen ist in die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und zugleich des pilgernden Gottesvolkes auf Erden. Kirche als „Weggemeinschaft des Glaubens“[201] wird so für den Einzelnen zur Heimat. Vertieftes Achten auf das Kirchenjahr bereichert das menschliche Leben. Der religiöse Mensch weiß um den tiefen Sinn des Wortes, das der Priester bei der Segnung der Osterkerze in der Osternacht spricht: „Sein ist die Zeit und die Ewigkeit.“

2.5.2.4.1. Christliche Festkultur als „heilige Zeit“

Christliche Festkultur ist dankendes Gedenken der Heilstaten Jesu Christi; als solche muss sie sich immer wiederholen, „um ihrer Funktion als Verkündigung und Vergegenwärtigung des Heiles gerecht zu werden.“[202] Die Feier des liturgischen Jahres ist nicht ein exklusives Rückwärtsschauen auf angebotenes und geschenktes Heil, vielmehr muss der glaubende und in der Taufe schon erlöste Mensch sich um das gefährdete Heil bemühen. Zugleich muss er sich durch die Mitfeier der Mysterien als Zeuge und Wegbereiter des allen Menschen verheißenen Heiles bemühen. Dies ist sicherlich eine den Einzelmenschen sehr fordernde Angelegenheit. Das Kirchenjahr ist demnach als „die Summe aller liturgischen Feiern, die im Jahreszyklus einen festen Platz gefunden haben, zu verstehen. Wo aber Liturgie gefeiert wird, verbindet sich Jesus Christus als der Hohepriester des Neuen Bundes mit der feiernden Gemeinde zu einer Aktionsgemeinschaft, die das Heil der Gläubigen und die Verherrlichung des Vaters im Himmel zum Ziel hat. So realisiert und konkretisiert sich christlicher Glaube im liturgischen Jahr; es wird zu einer umfassenden Selbstdarstellung der Kirche und zur Grundlegung und zum Aufbau christlicher Existenz.“[203]

Eine dringliche Aufgabe der Kirche als Religionsgemeinschaft ist daher die Sorge und das Bemühen, dass die Gläubigen vertraut werden mit dem Sinn und Vollzug des Kirchenjahres. „In einer Zeit fortschreitender Säkularisierung und weitverbreiteter Ignoranz christlicher Glaubensinhalte und Lebenswerte kann dies kaum überschätzt werden. Wer das Kirchenjahr verstehend und gläubig mitfeiert, erfährt Jahr für Jahr eine ‚Summa‘ christlicher Heilsbotschaft und eine sich immer wiederholende Begegnung mit dem unser Heil suchenden und wirkenden Herrn. Predigt und Katechese einschließlich des Religionsunterrichts müssten es stärker, als es weithin geschieht, zum Gegenstand der Information und Interpretation machen. So könnten sie wirksam mithelfen, dass sich die Gläubigen in der Kirche beheimatet und geborgen fühlen.“[204]

2.5.2.5. Kirchenjahr und Bräuche

Neben der Liturgie kommt begreiflicherweise deshalb der Pflege der Bräuche in Verbindung mit dem Kirchenjahr eine besondere Bedeutung zu. „Viele Jahrhunderte hindurch gab das Kirchenjahr den Rhythmus an. Der Ablauf der kirchlichen Feste prägte das Lebensgefühl der Menschen. Das Kirchenjahr war wie ein Haus, das für alle Wechselfälle des Lebens Zimmer bereit hielt. Rund um das Haus aber bildete sich der phantasievolle Garten des Brauchtums. Heute wirkt das Kirchenjahr manchmal wie ein vergessenes altes Haus an der schnellen Straße des modernen Lebens. Viele Menschen haben noch eine Ahnung davon, wie einige seiner wichtigsten Räume aussehen. Aber die Architektur als Ganzes kennen sie nicht. Sie kennen Weihnachten und Ostern, sie feiern Taufe und Erstkommunion. Aber die inneren Zusammenhänge, die entscheidenden Verknüpfungen mit dem von Gott geschenkten Heil sind ihnen verlorengegangen.“[205] Die Feier des Kirchenjahres ist so wie die Feier der Sakramente im Lebenslauf immer ein schönes Angebot und eine große Chance, sich mit Gott und der Kirche eins zu wissen, neu zu verbinden und Kraft, Freude und Trost zu schöpfen.

Vom Kirchenjahr und von der Liturgie her bekommt der einzelne Mensch, der wissend und emotional mitfeiert, Kraft für die Bewältigung seines Daseins und Orientierung für den weiteren Lebensweg. „Das Kirchenjahr hat therapeutische Wirkung, weil es die Vergangenheit nicht auf der Müllkippe der Gegenwart verkommen läßt, sondern sie schätzt und ihre Werte hütet. Aber das Kirchenjahr verschanzt sich auch nicht hinter den nostalgischen Erinnerungen, um so der Zukunft aus dem Weg zu gehen. Die Geschichte Gottes mit seinem Volk, die wir im Kirchenjahr feiern, wird vielmehr zum Grundriß, der uns zeigt, wie wir die Zukunft bauen können. Darum lohnt es sich, unser Kirchenjahr zu entdecken, es zu leben und dafür zu sorgen, daß unsere Tage nicht nur von Terminen bestimmt sind – sondern von Ereignissen.“[206]

2.5.2.5.1. Rituale feiern

Ein Ritual ist „etwas, auf das ich mich täglich freuen kann“ [207], schreibt Anselm Grün. Rituale haben heilende Wirkung. „Damit sind nicht nur die Übergangsrituale gemeint, die etwa den Übergang der Geburt und des Todes, des Erwachsenwerdens, der Heirat und der Lebensmitte unterstützend begleiten, sondern auch die vielen persönlichen Rituale, die der einzelne findet, um sein Leben zu strukturieren und ihm eine Form zu geben, die ihm guttut. Eine heilende Wirkung können auch die kirchlichen Rituale haben, wie sie im Laufe eines Kirchenjahres innerhalb und außerhalb der Liturgie begangen werden.“[208]

Die sieben Sakramente der Kirche und der Beerdigungsritus, aber auch die verschiedenen Feiern zu Segnungen im privaten Leben, im Raum der Familie und in der Öffentlichkeit sind Fundament und Quelle für die Ausbildung und Pflege vieler Bräuche. „In den sieben Sakramenten geht es darum, dass unser Leben ganz und gar durchdrungen und so geheilt und zu seiner wahren Gestalt geführt wird.“[209] Die sieben Sakramente haben eine gemeinschaftsstiftende Funktion: Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott und mit den Menschen, die an diesen Gott glauben und auf seinen Namen getauft sind.

Die sieben Sakramente und die Feste des Kirchenjahres bringen das von Gott angebotene und geschenkte Heil in die Gegenwart, in das „Heute“. „Die Sieben ist eine archetypische Zahl. Sie meint die Verbindung von Gott und Mensch, von Irdischem und Göttlichem. Es geht in den sieben Sakramenten darum, dass unser Leben ganz und gar von Gott durchdrungen und so geheilt und zu seiner wahren Gestalt geführt wird. Im Lukasevangelium steht siebenmal das Wort ‚heute‘. In den sieben Sakramenten geht es darum, dass dieses siebenmalige ‚Heute‘ Gottes an uns geschieht. Die Kirchenväter glaubten, dass in den Sakramenten die Hand des geschichtlichen Jesus uns berühre, dass Jesus heute an uns genauso handele wie zu seinen Lebzeiten. In den sieben Sakramenten wirkt sich die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus an uns heute handgreiflich aus. Wenn wir das siebenmalige Heute bei Lukas mit den sieben Sakramenten vergleichen, entdecken wir erstaunliche Parallelen.

Das erste Heute steht im Zusammenhang mit der Geburt Jesu: ‚Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren; er ist der Messias, der Herr.‘ (Lk 2,11). In der Taufe eines Kindes leuchtet etwas auf von der erlösenden und befreienden Geburt Jesu Christi, da wird etwas von der Verheißung wahr, dass Gott gnädig an seinem Volk handelt. In jeder Geburt steckt eine Ahnung von einer neuen Welt, in der Liebe und Frieden herrschen.

Das zweite Heute begegnet uns bei der Taufe Jesu: ‚Mein Sohn bist Du, heute habe ich Dich gezeugt‘ (Lk 3,22). Hier geht es um die Geistsalbung und um die Sendung ins Leben, die bei uns in der Firmung gefeiert wird.

Das dritte Heute: Als Jesus in der Synagoge von Nazareth die Stelle aus Jesaja liest: ‚Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe‘ (Lk 4,18), da verkündet er seinen Zuhörern: ‚Heute hat sich dieses Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.‘ (Lk 4,21). Man könnte diese Stelle in Verbindung mit der Priesterweihe sehen. Da geht es um die Berufung des einzelnen. Aber die Stelle zeigt auch, daß die Priesterweihe nicht ausschließlich im Blick auf die Priester zu sehen ist, sondern als Beauftragung jedes Menschen zu seinem persönlichen Werk. Es geht also um das Ritual des Berufsbeginns. Der soll ja, wie das Wort selbst sagt, nicht das Ausprobieren eines Jobs sein, sondern Berufung, Sendung, ganz persönliche Aufgabe, in der ich mein Charisma für die anderen leben kann. Die tiefste Berufung des Menschen besteht letztlich darin, den Menschen wie Jesus die gute Nachricht von Gott zu bringen, [...].

Das vierte Heute: Als Reaktion auf die Heilung des Gelähmten und auf die Vergebung seiner Sünden durch Jesus heißt es: ‚Heute haben wir etwas Unglaubliches gesehen!‘ (Lk 5,26). Dieses Heute wird in der Beichte an uns Wirklichkeit. Es zeigt, daß Beichte nicht nur Vergebung der Sünden bedeutet, sondern auch Heilung meiner seelischen und körperlichen Wunden, Befreiung von Zwängen und Blockaden, von Hemmungen und Bindungen, die mich in meiner Freiheit einengen.

Das fünfte und sechste Heute finden wir in der Zachäusgeschichte. Jesus sagt zu dem Zöllner Zachäus: ‚Heute muß ich in Deinem Haus zu Gast sein‘ (Lk 19,5). Und während des Mahles im Hause des Zöllners sagt Jesus: ‚Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden‘ (Lk 19,9). In den Mahlzeiten sieht Lukas immer ein Abbild der Eucharistie, in der Jesus mit uns Mahl hält und uns Gottes Güte und Menschfreundlichkeit leibhaft erfahren lässt. Man könnte in diesem Mahl der Freude auch ein Bild für die Hochzeit sehen, die ja immer auch als Mahl gefeiert wird. So wie Jesus einkehrt im Hause der Menschen, um mit ihnen im Mahl eins zu werden, so symbolisiert die Hochzeit im Einswerden von Mann und Frau auch das Einswerden von Gott und Mensch.

Das letzte Heute spricht Jesus dem Mann zu, der neben ihm am Kreuz hängt und ihn darum bittet, an ihn zu denken, wenn er in sein Reich komme: ‚Amen, ich sage Dir: Heute noch wirst Du mit mir im Paradies sein‘ (Lk 23,43). Hier kann man an die Krankensalbung denken, die früher als Letzte Ölung auch ein Sterbesakrament war. Oder man kann an die Beerdigungsriten denken, die zwar nicht als Sakrament verstanden werden, in denen aber die Zusage Jesu dargestellt wird.“[210]

All dies zeigt, dass unser tägliches Leben viele Rituale, die unser Dasein prägen, hat und braucht. Die Religion schenkt uns Rituale der innigen Verbindung mit Gott. So sind Rituale ein Teil der geistlichen (spirituellen) Kunst des gesunden Lebens, der christlichen Lebenskultur. Wo allerdings Rituale verflachen oder verloren gehen, wo das Wissen und Verständnis um das Heilige schwindet, da wird das Leben oberflächlich, mit der Zeit sogar sinnentleert, trostlos. „In den Ritualen drücken wir aus, daß unser ganzes Leben von Gott berührt ist, daß wir Gottes besonderes Eigentum sind und daß Gott die Dunkelheit unseres Lebens durch das Licht seiner Gnade verwandelt. Die Rituale zeigen, daß in allen Geschehnissen unseres Lebens das wunderbare Licht göttlicher Liebe aufleuchtet. Wie der Priester in den Sakramenten Christus selbst gegenwärtig setzt, so ist es auch Jesus Christus, der in unseren persönlichen und gemeinschaftlichen Ritualen alle Bereiche unseres Lebens berührt, verwandelt und heilt.“[211]

2.5.2.6. Religion und menschliche Gesellschaft in der Gegenwart

Gesellschaft und Kirche, Mensch und Religion sind in ihrem Verhältnis zueinander stets in Bewegung. „Es gibt Zeiten einer weitgehenden Deckungsgleichheit, aber auch die Erfahrung eines schroffen Gegenübers. Dazwischen gibt es viele Modelle, die von einem reichen und vielschichtigen Beziehungsgeflecht Zeugnis geben. Heute besteht die Gefahr, daß die Gesellschaft sich in hochgradig verselbständigte Einzelsegmente auflöst. Die Kirche erscheint dann wie ein beliebiger Sektor unter verschiedenen Lebensbereichen, wie z. B. Arbeit, Freizeit, Wirtschaft, Sport. In einem solchen Beziehungsgefüge sieht es so aus, als ob die Kirche gleichsam eine Nische besetzen könnte, wo bestimmte Service-Leistungen notwendig sind, für die sonst niemand da ist und die immer mehr an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt werden: Anfang und Ende des Lebens, schwere Krankheit, Schuld, unsichtbares Leid, Katastrophen. Die Kirche wäre so ein partikulärer Sektor des gesellschaftlichen Lebens, jedoch ohne grundlegende Bezüge zu den anderen Subsystemen der Gesellschaft. Erst recht fehlte der Bezug zu einem Ganzen.

Eine solche Situation, die freilich nie chemisch rein verwirklicht ist, wäre für Kirche und Gesellschaft schädlich. Die Gesellschaft würde sich unter solchen Bedingungen immer mehr auflösen in eine Vielzahl nebeneinander bestehender, konkurrierender oder auch gleichgültiger Lebensbereiche, die jeweils nur eine verdichtete Repräsentation bestimmter einzelner Interessen wären. In letzter Konsequenz wäre es dann wenig sinnvoll, überhaupt nach einem Ganzen und erst recht nach allen gemeinsamen Grundlagen zu fragen. Gemeinsame Werte schrumpften jedenfalls immer mehr auf den kleinsten Nenner zusammen. Der Sinn für Gemeinwohl würde austrocknen. In einer solchen gesellschaftlichen Situation würden auch die elementaren Lebensbereiche von Kirche eingeschränkt. Sie würde die Anknüpfungsmöglichkeiten an eine Sinnorientierung des gesellschaftlichen Lebens verlieren und am Ende selber als eine Einrichtung dastehen, die – wenn nicht nur ein Relikt aus der Vergangenheit – nichts wäre als ein Lobbyist unter anderen.

In einer solchen Situation besteht die Gefahr, daß die Gesellschaft sich immer mehr atomisiert, während die Kirche weltloser wird und in ein Getto abgedrängt wird. Das einzige Bindemittel scheint noch die Politik zu sein, die unter diesen Umständen oft nur als das Ringen um die Macht zur Durchführung der jeweils eigenen Interessen oder auch Ideologien begriffen wird. In der Gesellschaft gilt so nur das als relevant, was in diesem Horizont politisch interessant erscheint. Dabei wird Politik selbst zum einzig tragenden Horizont menschlichen Daseins, in dem alles bestimmt wird. Damit wird aber Politik in ihren Möglichkeiten maßlos überschätzt sowie zu einer Heilslehre emporgesteigert – und enttäuscht gerade durch diese Übersteigerung um so mehr.“[212] Für den Christen und damit für die Kirche als Religions- und Glaubensgemeinschaft gehört beides spannungsvoll zusammen: Glauben bezeugen und Gesellschaft gestalten.



[192] Art. Religion in: [Brockhaus-Enzyklopädie 1986], Bd. 18, S. 267.

[194] Art. Religion in: [Brockhaus-Enzyklopädie 1986], Bd. 18, S. 268.

[203] [Adam 1995], S. 10.

[204] [Adam 1995], S. 10.

[207] [Grün 1997], S. 11 f.

[209] [Grün 1997], S. 119.

[210] [Grün 1997], S. 119–123.

[211] [Grün 1997], S. 156.

[212] [Lehmann 1993], S. 5 f.

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