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Die Lungauer Umzugsriesen begeistern alljährlich die zahlreichen Besucher ihrer Auftritte. Der Samson als biblische Figur des Alten Testamentes ist mit seinen beiden großköpfigen Zwergenbegleitern der letzte Rest großer Fronleichnams-Schauumzüge, wie sie im Lungau von den Kapuzinern im Barock veranstaltet wurden.
Im Jahre 1996 waren die Lungauer Umzugsriesen Anlass für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, weil der Wunsch nach einer historischen Einordnung gerade auch von vielen Brauchausübenden laut wurde. Nach mündlicher Überlieferung reicht der Samsonbrauch bis ins frühe Mittelalter und sogar in vorchristliche Zeit. Eine landläufige Meinung, die heute nicht mehr haltbar ist.
Aus der archivalischen Quellensuche im Salzburger Landesarchiv und der parallel dazu geführten Oral History-Studie bei den einzelnen Samsongruppen entstand die Idee einer Publikation, einer Ausstellung, eines Riesenfestes auf der Burg Mauterndorf und eines wissenschaftlichen Symposions unter dem Motto „Riesenfiguren im europäischen Vergleich“.
Die Befassung mit diesem Thema war dadurch auch eine Befassung „mit der Gegenwart der Vergangenheit im Bewußtsein von Individuen, Gruppen und Nationen“.[130] Historische Ereignisse wirken gleich einem immateriellen oder materiellen Fundus nach. „Diese Nachwirkungen bestehen aber nicht einfach fort, sondern werden in einem permanenten Prozeß der Auseinandersetzung zwischen Gegenwart und Vergangenheit rekonstruktiv erzeugt. Dabei entstehen Wechselwirkungen zwischen der aktiven Auswahl von Geschichtsdaten und dem nachwirkenden Gewicht der Geschichte oder, um mit Etienne Francois zu sprechen, zwischen ‚le choix et le poids de l’histoire‘.“[131]
Beim großen Lungauer Samsontreffen am Fronleichnamstag im Jahr 1996 in Mauterndorf, an dem zum ersten Mal alle Lungauer Riesen und auch die beiden steirischen Nachbarn gemeinsam tanzten, wurde im Kreise dieser Umzugsfiguren ein Buch mit dem Titel „Riesen“[132] präsentiert. Es ist die erste umfassende Information über die heimischen Riesen, ihre Geschichte und die Verwandten in anderen Ländern. Zugleich sind auch Beiträge über das Prozessionswesen, die Riesen in der christlichen Kunst, die Riesen als Sagenfiguren, Hof- und Jahrmarktriesen der vergangenen Jahrhunderte sowie Gedanken über „Riesiges“ enthalten.
Im Anschluss an den Umzug im Ort fand auf der Burg ein Riesen-Fest statt, an dem der riesige „Clown David“ nicht nur die Kinder erfreute. Dass sich auch Kinder über die Riesen Gedanken machten, zeigten die Ergebnisse der Schreibwerkstätte mit Manuela Gappmayer in Mauterndorf und Holzschnitte der Volksschule in Muhr.
Die „Riesen als Klassiker“ hieß das Programm in der Pfarrkirche Mauterndorf, wo die „Biblischen Historien“ des Barockkomponisten Johann Kuhnau (1660–1722) geboten wurden und der zeitgenössische Komponist Klemens Vereno (geb. 1957) in seinen „Riesen-Miniaturen“ – aufgeführt mit Tuba und Piccolo – seine Ideen umsetzte. Hanne Rohrer las aus der „Lauinger Karfreitagstragödie“ (1746) und trug das Ramingsteiner David- und Goliathspiel vor.[133]
Samsonumzüge finden heute in den Lungauer Orten Tamsweg, Mauterndorf, Mariapfarr, St. Michael, Muhr, Unternberg, Ramingstein, St. Andrä, St. Margarethen und Wölting sowie in den benachbarten steirischen Orten Krakaudorf und Murau statt.
Seit dem Projekt im Jahre 1996 sind im Lungau zwei neue Riesen in den Gemeinden Wölting (Ortsteil von Tamsweg, im Jahre 2000) und St. Margarethen (im Jahre 2001) entstanden. Beide Orte können in ihrer Geschichte einen Bezug zu einem „ehemaligen“ Samson in der jeweiligen Gemeinde beziehungsweise im Ortsteil herstellen. Sie legen auch großen Wert darauf, dass auf diese Bezüge dezidiert hingewiesen wird und haben sich bereits vor der Umsetzung bei den anderen Samsongruppen und dem ehemaligen Obmann des Gauverbandes der Lungauer Heimatvereinigungen, Manfred Sampl, mit dieser Rechtfertigung die „Erlaubnis“ zu ihrem Vorhaben, nämlich einen Samson zu „bauen“, geholt. Auch der ehemalige Samsonreferent der Lungauer Heimatvereinigungen, Gebhard Wehrberger, war in diese Entwicklungen eingebunden.
Gemeinsam mit den zwei steirischen Riesen sind sie nun zu zwölft; eine Zahl, die in der Bibel zum Beispiel für die zwölf Apostel steht, auch das Jahr teilt sich in zwölf Monate und ein Dutzend kann auch für ein „Ganzes“ stehen.
Die inhaltlichen Vorgaben für den Samsonbrauch im Lungau gehen auf den biblischen Richter Simson zurück, der entsprechend dem Alten Testament dem Volke Israel angehörte und mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet war (Ri 14,1 ff.). Einmal zerriss er mit bloßen Händen einen Löwen, ein andermal erschlug er mit dem Kinnbacken eines Esels tausend Mann; in der Stadt Gaza hob er die schweren Stadttore aus, und immer wieder gelang es ihm, die Philister zu besiegen, bis er sich eines Tages in die schöne Delila verliebte. Ihr gelang es, ihm das Geheimnis seiner Stärke zu entlocken, das in seinen langen Haaren bestand. Sobald die Philister davon erfuhren, überwältigten sie ihn, schoren sein Haupt und blendeten ihn. Als Samson zu einem Fest für den Götzen Dagon in den Palast seiner Feinde gebracht wurde, betete er um neue Kraft und versuchte, sich gegen die Säulen des Gebäudes zu stemmen, die er zwar umstürzte, unter deren Trümmern er aber starb.
Dieser spannende Stoff wurde seit dem Mittelalter vielfach dramatisiert, und bis heute ist die Gestalt des Umzugsriesen in verschiedenen Ausformungen weit über den Lungau hinaus erhalten geblieben. Die ältesten schriftlichen Hinweise über den Tamsweger Riesen finden sich in den Aufzeichnungen des Chronisten Andrä Kocher über die Kapuziner und deren Kloster in Tamsweg vor 1786.[134] Diese Ordensleute hatten im Lungau die Fronleichnamsprozessionen sehr aufwendig, geradezu theatralisch ausgestaltet und unter den zahlreichen biblischen Figuren auch den Samson – oder Simson – mitgeführt.
Im Salzburger Landesarchiv wird der Samson auch in Verordnungen genannt, in denen es der Obrigkeit darum ging, die theatralischen Umzüge zu unterbinden: So hatte Fürsterzbischof Hieronymus Graf Colloredo (1772–1803/12) im Jahre 1784 angeordnet, dass das Mittragen von Bildnissen oder geschnitzten Figuren bei Prozessionen künftig zu unterbleiben habe.[135] Wir wissen nicht exakt, wie lange sich die Verbote in den einzelnen Orten gehalten haben oder ob sie überhaupt überall eingehalten wurden. Bei Ignaz von Kürsinger[136] wird in einer Art romantischer Begeisterung bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder vom Herumtragen des Samson am Fronleichnamstag (jedoch nicht bei der Prozession) berichtet.[137]
Heute ziehen die Riesen des Lungaues jedenfalls wieder an bestimmten Festtagen durch die Straßen ihrer Gemeinden. Im Zeitraum von Juni bis September traten die Samsone im Sommer 2002 38-mal auf. Sie erscheinen bei Dorffesten, kommen auch zu sogenannten Samsontreffen zusammen, und für drei Lungauer Riesen – jene aus den Gemeinden Ramingstein, Muhr und Mauterndorf – wurde in der Nationalparkgemeinde Muhr ein Jubiläumsfest „200 Jahre Samson“ organisiert, da für alle drei Umzugsriesen 1802 als Entstehungsjahr angenommen wird. Weiters kamen am 17. August 2002 aus der spanischen Partnerstadt Matadepera „Umzugsriesen“ in den Lungau.[138]
Die Umzugsriesen sind mit einer länger nachweisbaren Tradition in Spanien, Frankreich und Belgien anzutreffen, um nur einige der Zentren dieses Brauches anzuführen. 1992 und 2002 waren die spanischen Riesen „Llorenc“ und „Agnes“ im Lungau zu Besuch. „Llorenc“ vertritt einen berühmten Helden der katalanischen Geschichte, der einen Drachen getötet haben soll, und „Agnes“, seine Frau, steht für die Bevölkerung von Matadepera, die von dieser Bedrohung befreit wurde.
Ein weiteres Beispiel sind „Goliath“ und seine „Madame“ im belgischen Ath, die sich alljährlich beim Umzug verheiraten und auf deren Hochzeit jedes Jahr der Zweikampf des Giganten mit David folgt. Diese Umzugsriesen gehen auf das Jahr 1482 zurück und gelten europaweit als die ältesten.[139] Ein Spiel von David und Goliath, beide ebenso wie Samson biblische Figuren (1 Chr 20,4–8), hat der Lungauer Michael Dengg (1879–1974) im Jahre 1913 niedergeschrieben. Seit dem Jahre 1996 wird dieses David- und Goliathspiel in Ramingstein auf Initiative des dortigen ehemaligen Bürgermeisters Johann Bogensberger entsprechend den Aufzeichnungen von Michael Dengg wieder aufgeführt.
Riesenfiguren können biblische Gestalten darstellen oder einen Bezug zur Lokalgeschichte bilden wie im Falle der belgischen Umzugsriesen. Interessant sind aber auch jene, die in Ostflandern gefertigt werden, wenn eine Person aus dem Ort 100 Jahre alt geworden ist. Erwähnt seien auch die Sagenfigur des Riesengebirges (Nordabhang der Sudeten), der Rübezahl, der „Riese von Sefar“, eine jungsteinzeitliche Felszeichnung in der Sahara (Tassiligebirge im Süden Algeriens)[140] oder auch gegenwärtige Maskenfeste mit überdimensionalen Figuren in Zentralafrika, die bei Initiationsriten als Symbole für das Übermenschliche stehen. Nicht zu vergessen ist der wohl erst jüngst erdachte oder von dem Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner tatsächlich gesehene „Yeti“ in Asien.
Was mit diesen Hinweisen dargestellt werden soll, ist die vielgestaltige Entwicklung und der brauchmäßige Umgang mit dem Phänomen des Übergroßen, Mächtigen und Unberechenbaren. Ein Phänomen, das weltweit in allen Kulturen zu finden ist und das sich, dem jeweiligen Weltbild entsprechend, gestaltet hat. Es gibt wahrscheinlich kaum einen Brauch, der sich in den letzten Jahren derartig weiterentwickelt hat. Zwar nicht im Lungau – hier sind es nur zwei – jedoch in Spanien sollen in den letzten 20 Jahren 300 neue Umzugsriesen entstanden sein.[141]
Die von unsichtbaren Menschen getragenen Riesen-Figuren faszinieren einerseits ob ihrer Größe, aber genauso wegen ihrer sagenumwobenen Herkunft. Die Größe lässt sich zudem auch auf menschliche Geistes- und/oder Charaktereigenschaften übertragen. In diesem Zusammenhang bleibt die Frage offen, ob Adam Ries(e) (1492/93–1559) – ein großer deutscher Rechenmeister und Hofarithmetikus des 16. Jahrhunderts – tatsächlich ein „Hüne“ war. Es ist anzunehmen, dass sich die Bezeichnung „Hüne“ vom Volk der Hunnen herleiten lässt. Auch wenn heute mit dieser Bezeichnung ein groß gewachsener Mensch in Verbindung gebracht wird, so betonte man damit ursprünglich weniger das Überdimensionale als vielmehr das Fremdartige. Wann etwas als riesig wahrgenommen wird, ist demnach eine Frage der Perspektive, des Größenverhältnisses oder der Begabung.
Das Hinterfragen und das Hineinstellen von Bräuchen in den historischen Kontext erscheint in diesem Zusammenhang als Voraussetzung für einen zeitgemäßen Umgang mit Bräuchen, denn die Frage nach der Herkunft, der Funktion und dem Wandel derselben muss allen Beteiligten – egal ob als Ausführende oder als Zuseher – immer wieder erklärt, erzählt und interpretiert werden. Dies braucht aber keine nostalgische Rückkehr in die Geschichte, vielmehr soll Geschichte eine Brücke sein, die gegenwärtigen Formen zu begreifen. Denn die „Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die sie begrenzt und für sich beansprucht [...] ist das Wesen der Moderne“, schreibt Jean Starobinski.[142]
[130] [AssmannA/Frevert 1999], S. 31.
[131] [AssmannA/Frevert 1999], S. 31.
[133] Vgl. [Luidold 1996a].
[135] [SteinerG 1996], „Der Kriminalfall Samson“, siehe S. 23.
[136] Ignaz von Kürsinger (1795–1861) studierte in Linz Philosophie und Jurisprudenz und war in mehreren Pflegschaften tätig. In Salzburg war er Pfleger von Thalgau, Goldegg und Mittersill. Sein Lungau-Buch entstand im Rahmen eines dreijährigen Aufenthaltes in der Pflegschaft Tamsweg, wo sein Bruder Karl die Pflegschaft leitete. Siehe auch: [WatteckA 1996].
[138] Informationen vom ehemaligen Samsonreferenten des Lungauer Gauverbandes der Heimatvereinigungen, Gebhard Wehrberger. Die genauen Auftrittstermine finden sich im Brauchtumskalender der Salzburger Volkskultur.
[139] Vgl. [Beitl 1996]. – Siehe auch: [Beitl 1961].
[140] [Gardi/Neukom-Tschudi 1969], Taf. 1