Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen! Gehören doch diese oralen Tätigkeiten zu den basalen Notwendigkeiten menschlicher Existenz. Sie bilden das Fundament der bekannten Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow (1954), dort rangieren Nahrung, Schlaf und Sexualität auf der untersten der fünf Stufen (es folgen nach oben hin Bedürfnisse wie Sicherheit, Kontakt, Anerkennung, ganz oben steht die Selbstverwirklichung). Essen und Trinken sind außerdem höchst simpel in ihrer Zielstrebigkeit nach Befriedigung. Diese Bedürfnisse können aber durch wundersame Fertigkeiten ihrer Primitivität enthoben und zur höchsten Vollendung verzaubert werden, man denke an die Kunst der Köche und Barmixer.
Essen und Trinken sind auch ein Medienthema von zeitloser Brisanz. Denn zweifellos erfreuen sich jene Themen größter öffentlicher Aufmerksamkeit, die in irgendeiner Form mit unserer Nahrung zu tun haben. Ein Blick in ein x-beliebiges Magazin auf dem Sektor der Frauen-, Männer-, Lifestyle-, Gesundheits- oder Sportmagazine genügt: dort wimmelt es von Kochrezepten, Mixturen für Drinks, Ernährungstipps für Schönheit, Gesundheit, Kraft oder Ausdauer. Auch im Fernsehen wird bereits seit Jahrzehnten gekocht. Das Interesse für diese Sendungen ist zweifellos gegeben, ansonsten wären sie im Zeitalter der Moden und Trends längst abgeschafft worden.
Essen und Trinken bleiben selbst mit negativen Vorzeichen ein Top- Thema. Oder gerade deswegen. Eines der vielen besorgniserregenden Beispiele ist Übergewicht durch falsche Ernährung. Unter der Überschrift „Die Gesellschaft der Dicken” erfährt der Internetbenutzer,[726] dass Ärzte von einer wahren Epidemie starker Gewichtszunahme in der westlichen Welt sprechen. Elf Prozent der Österreicher gelten als adipös (fettsüchtig) und ganze 40 Prozent als übergewichtig. Schon bei den 15-Jährigen werde immer öfter Altersdiabetes diagnostiziert. Außerdem koste die Behandlung der durch Übergewicht verursachten Schäden mehr als die Behandlung von Raucherkrankheiten – heißt es in der Online-Story. Bewegungsmangel und falsche Ernährung werden als Ursachen ausgemacht.
Geschmackvoller ist natürlich die appetitanregende Publizistik. Kaum eine Zeitschrift, die ohne Rezepte auskommt. Da werden die knackigsten Sommersalate vorgestellt oder Rezepte von vollwertigen Weihnachtskeksen präsentiert. Dazwischen gibt es die Pilz-, Äpfel- und Kürbissaison, im Frühjahr wiederum die Sache mit der reinigenden Brennessel und dem entschlackenden Löwenzahn und anderen frischen Kräutern. Praktisch im Jahreskreis wird mit dem Thema Ernährung um die Leserschaft gebuhlt. Regelmäßig wie das Horoskop und der Promiklatsch erzählen die gut bebilderten Stories von der wohltuenden Reinigung des Verdauungsapparates mit Frühjahrskräutern, von den Vitamin- und Powerbomben aus dem sommerlichen Garten und dass man den Advent mit Punsch und Keksen auch ohne Reue genießen kann. Raffinierte Paprika-Hits, die neuesten Nudelgerichte, gesunde Durstlöscher oder Schönmacher aus der eigenen Küche runden die Themenpalette ab. Geschmack, Genuss und Gesundheit treten gemeinsam auf, kann man da noch widerstehen? Noch dazu, wenn die Rezepte von lächelnden Models oder von einem bekannten Gesicht aus dem Fernsehen präsentiert werden? Sie alle essen sich gesund, schlank und glücklich. Die einen zeigen dies mit Hilfe ihres perfekten Körpers, die ohne Waschbrettbauch suggerieren immerhin ernährungsbedingtes Wohlbefinden, ihr Name steht für Authentizität und Seriosität – können Nachrichtensprecher oder Talkshowmaster irren?
Ernährung ist ein Thema, wie Sex, Klatsch oder das Wetter. Vor allem das Fett in der Nahrung und das um die Hüften ist ständig präsent. Das bezieht sich bei weitem nicht nur auf die Frauen- oder Lifestylemagazine. „Ernährung – die Sache mit dem Fett“[727] oder „So laufen Sie dem Fett davon”[728] – das sind nur zwei Titel aus Laufsport-Magazinen. Ein leerer Bauch studiert nicht gern! So lautet ein bekanntes Sprichwort. Also Nahrung als Basis für intellektuelle Leistungen. Und so scheint jede Art eines anspruchsvolleren Journalismus nur möglich zu sein, wenn auch für das Thema Ernährung im Blattinneren gesorgt ist. Die Präsentation einer neuen Diät gehört selbstverständlich dazu. „In sieben Tagen purzeln sieben Pfund” – steht über dem Bild in der Zeitung, das eine lächelnde Frau mit perfektem Körper zeigt.[729] Es folgen Entspannungs- und Schönheitstipps, zu gewinnen gibt es natürlich eine Aktiv-Woche und ein Wellness-Wochenende.
Ich sitze mit dem Arzt und Autor Rüdiger Dahlke[730] in einem Speisesaal eines Hotels in Goldegg im Salzburger Pongau. Es ist nur wenig Zeit für ein Gespräch, Dahlke leitet unter Tags eine Arbeitsgruppe bei den „Goldegger Dialogen” (Thema der Tagung: „Grenzen sprengen – Mitte finden”), jetzt nach dem Abendessen hält er noch einen Vortrag. Morgen früh muss er wieder weg. Bleibt nur die Zeit während des Essens. Unser Gesprächsthema: Fasten. Auch wenn unser Tisch gedeckt ist – ich will es wissen: was ist dran am Fasten? Eine Modeerscheinung? Hat es gesundheitlichen Wert? Wo kann ich inmitten der unüberschaubaren Fastendiäten und Gesundheitsrezepte meine Mitte finden?
Rüdiger Dahlke leitet seit 20 Jahren Fastenseminare, etwa viermal pro Jahr. Er selbst fastet auch jedes Mal mit. Neun Tage lang nur flüssige Nahrung, also Wasser und Tee. Das ist für den Körper eine unglaubliche Reinigung, sagt er, und zwar bis in die letzte Faser hinein. Noch mehr scheinen für ihn die mentalen und psychischen Seiten des Fastens zu zählen. Er behauptet, dass man dann klarer denken und tiefer spüren könne. Manchmal stelle sich sogar Euphorie ein. Jetzt werde in den Medien propagiert, das Abendessen wegzulassen, stellt er fest (dinner cancelling). Aus gesundheitlichen Gründen. ”Stellen Sie sich vor, beim Fasten werden sieben Dinner weggelassen!” Also noch mehr Gesundheit, denke ich.
Für Dahlke ist der gegenwärtige Fastentrend o.k. Man könne es nämlich überall machen, es sei außerdem Medizin in Eigenverantwortung, Hilfe zur Selbsthilfe. Ein Anfänger sollte es allerdings besser im geschützten Rahmen eines Fastenseminars machen, sich eine Woche mit Gleichgesinnten in ein Seminar- oder Bildungshaus zurückziehen. Das sei allemal besser als am Abend seinen Tee zu schlürfen, während der Rest der Familie das Abendessen zu sich nimmt. Hat man einmal so ein Fastenseminar absolviert, kann man jederzeit alleine fasten, so Dahlke. Dass dies viele im Frühjahr machen, hat nicht nur jahrhundertelange Tradition, für Dahlke macht es auch aus der Sicht der Chronobiologie Sinn: man mache da so etwas wie einen Frühjahrsputz für Leib und Seele. Wenn die Natur loslegt, macht auch der Mensch sauber. Aus der Sicht der Fastenphilosophie beginne nämlich das Jahr nicht mit dem 1. Januar, sondern im Frühjahr, wenn alles erblüht.
Abnehmen? – Nein, nicht mit Fasten allein, sagt Dahlke. Dazu müsse noch zusätzlich Psychotherapie gemacht werden. Seiner Ansicht nach sollte dabei der Frage nachgegangen werden, was denn hinter dem Essproblem steckt. Hat zum Beispiel jemand Kummerspeck um die Hüften, so müsse man das Liebesproblem im Hintergrund angehen. Nur so ist dauerhafter Erfolg beschieden. Einzelnen Leuten mag schon die eine oder andere Diät für kurze Zeit geholfen haben, aber wirklich interessant sei doch nur der Langzeiteffekt. Gebe es einen solchen, so hätte eine bestimmte Diät längst die tausenden anderen Diäten überflüssig gemacht, ist Dahlke überzeugt. Warum bringen dann die Illustrierten regelmäßig irgendeine Diät, will ich wissen. Dahlke lacht. Diät geht immer und funktioniert nie, sagt er. Das hat einmal eine Redakteurin zu ihm gesagt.
Die Story erinnert an die Traumwelt vom Schlaraffenland. Auch dort ist überall Essen, ist immer angerichtet. In Schlaraffia gibt es Zäune aus Würsten, Bänke und Stühle aus Pasteten, Häuser gedeckt mit Fladen, die Flüsse führen Wein, Bier und Most. Ein kulinarisches Eldorado, seit dem Mittelalter tauchen solche Schlemmervisionen immer wieder in der Literatur auf. Sie offenbaren nicht nur Träume und Wünsche, sie geben auch Aufschluss über die wirklich herrschenden Verhältnisse der Zeit ihrer Entstehung – Armut, Entbehrung, drohende Hungersnot. Richtig verwirklicht scheint den Traum vom Schlaraffenland[731] erst die moderne Freizeit- und Spaßgesellschaft zu haben – mit den Kreuzfahrten auf Luxusschiffen.
Solche Reisen boomen. Man fährt zehn oder 14 Tage mit einem Luxusliner, genießt das maritime Ambiente, besucht vielleicht da und dort auf organisiertem Wege das Landesinnere, macht das eine oder andere Gesundheitsprogramm an Bord mit und – das ist der Hauptzweck der Reise – gibt sich kulinarischen Genüssen hin. Vom Überangebot am Frühstücksbuffet über ein opulentes Mittagessen bis zum Dinner mit fünf Gängen. Manchmal gibt es auch einen kulinarischen Höhepunkt zu Mitternacht als Draufgabe.
„Wir sind dafür da, Träume wahr zu machen”, erzählt ein Kellner der MS „Arkona” auf einer Fahrt mit 300 Schlemmern und 200 Tonnen Fourage.[732] Die Zeitschriftenstory zeigt nicht nur Leute in Galagewand auf wohlgedeckten Tischen oder vor üppigen Buffets, da sieht man auch, wie bei der „Äquatortaufe” halbnackte Passagiere von den Matrosen mit Senf und rohen Eiern eingeschmiert werden. „Da rechnen die 186 Besatzungsmitglieder mit ihren übersättigten Gästen ab wie die Narren beim Karneval mit ihren Peinigern in den Amtsstuben” – heißt es. Die Passagiere, die meisten in fortgeschrittenem Alter und durchaus beleibt, scheinen glücklich zu sein. „Essen ist eben der Sex des Alters” – so wird der Obersteward zitiert. In einem Kasten zu dieser Story werden dann die besten Schiffe für solche kulinarischen Kreuzfahrten angeführt.
Wir sind eine Dienstleistungsgesellschaft, behaupten Soziologen. Oder sind zumindest auf dem Weg dahin, prognostizieren andere. Und so gibt es für viele Bereiche des Lebens Menschen, die anderen Menschen gewisse Dienste leisten. Und diese anderen können sich diese Dienste auch leisten.
Einige Wochen dauert die Lebensbegleitung der akademischen Wirtschaftstrainerin aus dem Salzkammergut. Ihr Angebot: Kurse mit dem Titel „Schlank sein – ein neues Lebensgefühl” und „Mentales Schlankheitstraining”.[733] Das Trainingsprogramm: die eigenen falschen Essprogramme kennenlernen und abbauen, die Ursachen von Übergewicht entdecken, ein positives Selbstbild gewinnen, Stress und Ängste abbauen und Essen ohne Frust, sondern mit Freude lernen. Keine Diät. Die Kosten der Kurse stehen nicht in den Foldern. Doch dort steht, dass die Trainerin weiß, wovon sie spricht, hat sie es doch selbst geschafft, nach jahrelangem starkem Übergewicht 33 kg abzunehmen (im anderen Folder der Trainerin steht, dass sie 38 kg abgenommen habe – Hauptsache, sie weiß noch, wovon sie spricht!)
Wenn es mental nicht geht, dann kann man sich Rat aus einer der vielen bunten Magazine holen. Dann arbeitet womöglich die Schilddrüse nicht richtig. Sie produziere nämlich die Schlank-Hormone, die man für die Fettverbrennung benötigt. Aha! Auf die Schilddrüsen-Spur führt eine Frauenzeitschrift.[734] Ein Schnelltest zeigt, ob die Schilddrüse auch richtig arbeitet. Wenn der Test ein negatives Ergebnis bringt, werden Eiweiß und Jod, Selen und Zink als Arbeitsanreger für die Drüse angepriesen. Auch die Eisen-Aufnahme sollte der Schilddrüse und der Fettverbrennung zuliebe gesteigert werden, mit Vitamin C und dem Verzicht auf Tee und Kaffee. Milchprodukte wie Joghurt und Buttermilch wiederum stoppen die Eisenaufnahme. Also Verzicht auf diese Dinge. So schaut´s also aus!
In der anderen Frauenzeitschrift sind aber Milch, Buttermilch und Joghurt die Basis für gesunde Durstlöscher. „Mixen Sie sich fit!” heißt es dort.[735] Etwa mit der Vitamin-Bombe (Tomaten, Dill, Dickmilch, Joghurt, Selleriesalz u.a. Zutaten), dem Green Tiger (Buttermilch, Zitronensaft, Kräuter, Radieschen u.a. Zutaten) oder dem Banana-Aktiv-Drink (fettarme Milch, Bananen, Zimt, Zitronensaft u.a. Zutaten). Also doch wieder Milch und Milchprodukte? In dieser Zeitschrift werden auch die vorhin verpönten Tees angepriesen – grüner Tee gilt dort als Jungbrunnen, schwarzer Tee enthält viel Chrom, das die Pfunde purzeln lässt ...
Manchmal purzeln zu viele Pfunde, manchmal purzeln sie sogar ohne medizinische Notwendigkeit. Denn Hand in Hand mit der Zahl der Dicken steigt auch die Zahl jener, die an diversen Essstörungen leiden. Die Magersucht (anorexia nervosa) betrifft vor allem Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren. Nur fünf Prozent der Betroffenen sind männlichen Geschlechts. Magersüchtige halten eine strenge Diät oder verweigern überhaupt feste Nahrung. Manche magern bis auf 45 Prozent ihres Normalgewichtes ab, wiegen nur mehr 30 Kilogramm. Das Schlimme daran: sie fühlen sich trotz starker Gewichtsabnahme viel zu dick. Den Ess-Brechsüchtigen (Bulimiker) wiederum sieht man ihr Problem von außen gar nicht an. Sie sind nicht selten normalgewichtig, fallen kaum auf. Ihre Fressanfälle geschehen heimlich. Nach dem Verschlingen großer Nahrungsmengen versuchen sie alles wieder sofort zu erbrechen oder sie legen ein mehrtägiges Fasten ein. Man will ja schließlich nicht zunehmen.
Der psychische Druck ist für Menschen mit Essstörungen enorm. Immer dreht sich alles ums Essen. Es wird vermieden, verachtet, verschlungen und dann wieder erbrochen. Die Folgeerkrankungen können fatal sein, Heilung ist möglich, aber aufwendig und langwierig. So aufwendig und langwierig wie die Linderung des Hungers in Äthiopien, Sudan oder Indien.
Jetzt beginnt die zähe Phase des Laufes. Es schmerzen nicht nur die Gelenke und Muskeln nach den Streckenabschnitten auf den Pflastersteinen der historischen Altstadt. Jetzt werde ich auch noch hungrig. Das bedeutet einen Leistungseinbruch, wenn ich nicht bald etwas esse. Ich weiß, dass es bei Kilometer 35 wieder eine Labestation gibt, mit Bananenstücken, Apfelspalten und Getränken. In ein paar Minuten werde ich dort sein. Ich schiebe meinen Hüftgurt nach vorne auf den Bauch, öffne die kleine Tasche und entnehme ihr das Stück Hartwurst. Etwas langsamer laufend verdrücke ich einige Bissen, der saure und salzige Geschmack behagt mir. Der neben mir laufende Amerikaner schaut mich verdutzt an, auch einige Zuschauer registrieren lächelnd meine Marathon-Jause. Sie entspricht in keiner Weise den aus zahlreichen Sport- und Laufzeitschriften bekannten ernährungsphysiologischen Ratschlägen für Ausdauersport. Bis zur Labestation habe ich die Wurst verspeist, jetzt gibt es noch ein bisschen Tee zum Hinunterspülen und dann ein Stückchen Banane. Quasi als Nachtisch. Ich fühle mich wieder besser, so ein Hungerast kann ganz schön lähmen. Jetzt kann ich auch den letzten Teil des Florenz-Marathons in Angriff nehmen und sogar noch ein bisschen diese schöne Stadt während des Laufens genießen.
Vielleicht liegt es an der herrschenden Kälte (es hat nur wenige Plusgrade an diesem Spätherbsttag), dass ich mich während des Laufes so deftig ernähre. An einem heißen Tag würde ich womöglich nur trinken und nichts essen. Vielleicht liegt es auch an der jahrelang geübten Praxis beim Weitwandern (heute würde man sagen: beim Trekking). Denn auch bei unserer Alpenüberschreitung von Wien bis ans Mittelmeer in mehreren Urlaubsetappen haben Bergkumpan Konrad und ich Hartwürste, Hartkäse, schwarzes Brot usw. als Jause bevorzugt. Nicht nur, weil diese Nahrungsmittel im Rucksack haltbarer waren als zum Beispiel Obst. Es hat uns ganz einfach geschmeckt. In manchen alpinen Regionen gab es sogar Wurst- und Käseprodukte, die durchaus in die Kategorie „Spezialität” einzureihen waren. Wir haben manchmal beim Jausnen am Wegrand regelrecht geschlemmt. Auch jetzt beim flachen Marathonlauf schmecken diese Dinge, Ausdauer ist eben Ausdauer.
Würde ich die sportmedizinischen Tipps für Ernährung während einer Ausdauerbelastung befolgen, dann müsste ich jetzt vor allem Flüssigkeit und Kohlehydrate zuführen. Also einen isotonischen Drink und irgendeinen dieser zähen und klebrigen Powerriegel oder ein Stück Banane zu mir nehmen. Gestern und die Tage davor wären Nudeln oder Reis am Speiseplan gestanden, kein Alkohol und bis eine halbe Stunde vor dem Start schluckweise Tee oder Wasser. Vielleicht ein bisschen mit Magnesium angereichert. In Wirklichkeit waren die letzten Tage vor der Reise nach Florenz ungemein stressig, es gab Kantinenessen am Arbeitsplatz, dann ein paar Dosenbiere mit Sandwich im Zug und zur abendlichen Pizza in Florenz roten Wein. Trotzdem schaffe ich den Lauf zu meiner Zufriedenheit, bin nur wenige Minuten hinter meiner gewünschten Zeit, auch der Muskelkater danach hält sich in Grenzen. Dann folgen einige Tage mit verstärktem Hunger und Durst. Wäre ich im Besitz einer Waage, würde ich vermutlich feststellen, dass ich abgenommen habe.
Freilich – womöglich hätte ich mich mehr aus diesem Lauf herausgeholt, wenn sich meine tägliche Ernährung an den sportmedizinischen Ernährungstipps orientiert hätte, wenn ich also bei meinen Speisen die prozentuale Aufteilung in Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett nach einem bestimmten Schlüssel genau befolgt hätte. Aber so? – Ich bin womöglich nicht nur langsamer gewesen, mein Ernährungsverhalten generell ist vermutlich für die Gesundheit nicht optimal, da ist ja schließlich das Cholesterin in den Würsten und in Hinblick auf die späteren Jahre ... .meine Gefäße werden dann vermutlich eng, der Verdauungsapparat gerät in eine Krise ... sitzt nicht der Tod im Darm, wie es immer heißt?
Er ist nicht gerade schmächtig. Auch er scheint zu wissen, wovon er spricht, wenn er behauptet, dass bei uns Menschen ein biologisches Essprogramm abläuft, das mit diätetischen Parolen und dem erhobenen Zeigefinger der Ernährungsexperten allein nicht in den Griff zu bekommen ist. Auf witzige und legere Art erklärt der Lebensmittelchemiker und Buchautor[736] Udo Pollmer in seinen Vorträgen, warum wir auf Genussmittel wie Kaffee und Alkohol oder auf Süßspeisen so schlecht verzichten können.
Dass uns Süßes schmeckt, ist nämlich angeboren, sagt Pollmer.[737] Den Nachweis erbringen bereits Neugeborene. Sie wurden dabei fotografiert, als sie Wasser, Süßes, Saures und Bitteres auf die Zunge getropft bekamen. Allein beim Geschmack süß wirkte ihr Gesicht entspannt und zufrieden. Wieso aber wollte die Natur, dass uns Süßes schmeckt? – fragt Pollmer und liefert gleich dazu die Antwort: unser Appetit auf Süßes hängt mit dem Licht zusammen. Das Tageslicht steuert nämlich unseren Serotoninhaushalt. Auf eine einfache Formel gebracht heißt das: viel Tageslicht bewirkt viel Serotonin (das ist ein Hormon im Gehirn) – wir fühlen uns wohl. Wenig Tageslicht senkt den Serotoninspiegel und wir sind antriebslos, schlecht gelaunt oder depressiv. Nun hebt aber auch der Zucker den Serotoninpegel im Hirn, und zwar kommt er in unserem Ernährungsverhalten immer dann zum Einsatz, wenn zu wenig Tageslicht vorhanden ist. Zum Beispiel gibt es bei vielen Menschen ein süßes Frühstück mit Marmelade oder Honig oder mit Obst und Müsli, weil ja in der Nacht der Serotoninspiegel abgesunken ist. Der Zucker hebt ihn wieder. Auch am Nachmittag nimmt die Lichtmenge wieder ab, sagt Pollmer. Wir sehen das nicht unmittelbar, aber unser Körper merkt es. Wir sind gewohnt, zu diesem Zeitpunkt Kaffee und Kuchen nachzulegen. Und so ist auch im Herbst und im Winter der Zuckerkonsum höher als in der lichtreichen warmen Jahreszeit. Ähnlich verhält es sich mit Alkohol und Kaffee. Dieser Genussmittelkonsum läuft weitgehend unbewusst ab.
Kann man den Zucker nicht durch Süßstoffe ersetzen und denselben Glückeffekt erzielen? – Nein, sagt Udo Pollmer. Zahlreiche Untersuchungen hätten nachgewiesen, dass Süßstoffe in der Landwirtschaft als Masthilfsmittel eingesetzt werden. Sie stimulieren nämlich den Appetit. Das Publikum in Goldegg lacht. Die Erklärung: der Körper reagiert auf Süßstoffe mit der Ausschüttung von Insulin zum Abbau des vermeintlichen Zuckers. Es ist aber keine echte Süßspeise zum Verdauen da und so gerät man in einen Zustand der Unterzuckerung, sprich: man bekommt Heißhunger. Der Körper lässt sich nicht so leicht austricksen, sagt Pollmer. Daher müsse sich die Aufklärung der Ernährungswissenschafter schon etwas anderes einfallen lassen, als einfach nur zu warnen und den Kühlschrank zum Ort der Sünde zu erklären.
In meinem Alter benötige ich 2.400 Kalorien täglich, sagt die Tabelle.[738] Als Schwerarbeiter würde ich 1.200 zusätzliche Kalorien pro Tag brauchen. Und als Kopfarbeiter? – Steht nicht in der Tabelle. Ein ruhiger Dauerlauf auf ebenem Gelände verbraucht 188 Kalorien pro Viertelstunde. Also: Ich bin heute morgen eine Stunde und acht Minuten gelaufen, mit zwei Steigungen allerdings ... das Brot zum Frühstück hatte der Tabelle zufolge 185 Kalorien pro 50 Gramm, der Gouda 75 Kalorien pro 30 Gramm. Ich habe vielleicht 50 Gramm Brot gegessen, aber sicher weniger Käse. Das macht jetzt ... tja! Diese Rechnerei muss man mögen! Macht wahrscheinlich kaum jemand. Werden wir deswegen alle dicker? Der Lichtblick: Ich sehe in der Tabelle, dass 0,2 Liter Weizenbier 76 Kalorien hat, dieselbe Menge Cola aber 112 Kalorien, Orangensaft 90 Kalorien. Immerhin!
Wäre ich übergewichtig, müsste ich laut Ernährungswissenschaft die tägliche Nahrungszufuhr auf 1.000 oder maximal 1.400 Kalorien drosseln. Das heißt, ich müsste ständig berechnen, was da in meinen Mund hineinkommt, sowohl in fester als auch in flüssiger Form. Und was, wenn ich in verschiedenen Tabellen verschiedene Angaben zu den Kalorien finde? Unterschiede sollen ja vorkommen, je nachdem, von wem die Tabelle publiziert wird. Ich erinnere mich an den Aushang in einer Salzburger Fleischhauerei: dort war aufgeschlüsselt, wie viele Vitamine, Spurenelemente und Mineralstoffe 100 Gramm Leberkäse und 100 Gramm Frankfurter beinhalten. Da war von Magnesium, Zink, Vitamin B usw. und unglaublich wenigen Kalorien die Rede – ich hatte das Gefühl, ohne Leberkäse und Frankfurter einen Mangel an diesen wertvollen Stoffen zu bekommen.
Über Sinn und Wert solcher Tabellen macht sich eine andere Website lustig.[739] Dort geht es zum Beispiel um den Kalorienverbrauch beim Sex (aus der Sicht des Mannes): schon wenn man die Partnerin auszieht, verbrennt man 12 Kalorien, dann wird noch der Kalorienverbrauch einiger Stellungen beim Geschlechtsverkehr angegeben, es folgen Zahlen zur Verbrennung bei einer zweiten Erektion (nach Altersstufen aufgegliedert) und der Verbrauch, der sich ergibt, wenn man sich wieder anzieht (auch da werden – wie in „seriösen” Tabellen – mehrere Tätigkeiten unterschieden: ankleiden auf ruhige Art, in Eile oder wenn jemand an die Tür klopft). Soviel zu den Kalorientabellen. Dazu ein Zitat:
„Habt Ihr schon einmal überlegt, wie man den Kaloriengehalt eigentlich ermittelt? Nun, man nimmt das betreffende Nahrungsmittel und verbrennt es in einem sogenannten Bombenkalorimeter. Das ist ein Metalltopf mit richtig dicken Wänden. Dort werden die Lebensmittel hineingegeben und dann mittels eines glühenden Drahtes angezündet und verbrannt. Die dabei entstehende Wärmeenergie wird gemessen und uns in Kalorien oder Joule als ‚physikalischer Brennwert' genannt. Nur, unser Körper verbrennt die Nahrung eigentlich nicht, sondern zermatscht sie und greift dann im Darm auf den Nahrungsbrei zu. Jeder Körper ist an dieser Theke unterschiedlich erfolgreich. Kein Körper ist in der Lage alle im Nahrungsbrei enthaltenen Kalorien an sich zu raffen (keiner außer meinem, natürlich). Teilweise wurde das bedacht und so wurden auch die Verdauungsprodukte einiger Probanden wieder ins Töpfchen gegeben und deren Brennwert vom Ur-Brennwert abgezogen ... Aber auch dabei kommen einige Ungenauigkeitsquellen dazu. Unter anderem z.B. die, daß unser Körper nicht nur die Nahrung ausscheidet, sondern auch putzige kleine Mikroben, ein wenig Darmschleimhaut und anderes, was man so genau gar nicht wissen möchte.”[740] Wer es doch wissen möchte, der lese in Udo Pollmers Buch „Prost Mahlzeit!” nach.
Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. Zu diesem Sprichwort liefert die Online-Suchmaschine Google mehr als 4.200 Einträge. Das kommt vor allem deswegen, weil zahlreiche Restaurants diesen Spruch auf ihrer Homepage anführen. Er scheint ja diejenigen ansprechen zu wollen, die Essen und Trinken genüsslich betreiben, weniger die Schlankheitsfanatiker und Kalorienzähler. Bei diesen Leuten scheinen Leib und Seele eher auseinander zu fallen. Es ist also eine Frage des Standpunktes und der Betroffenheit, wie das Thema angegangen wird. Macht man Sex, um Kalorien zu verbrennen? Trinkt man nur, wenn man Durst hat? Isst man nur, um die Lebensfunktionen aufrecht zu erhalten und zählt man dabei auch brav den prozentualen Anteil von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß? – Eben!
Vergessen wir also die Sache mit den Kalorien und dem Nährwert und orientieren wir uns lieber an anderen Dingen oder Sprichwörtern? – Etwa am Motto: Gesund ist, was Spaß macht,[741]oder befragen wir unter Ausschaltung aller Gesundheitstipps einfach die Weisheit des Körpers?[742] Er weiß schließlich selbst am besten, was ihm gut tut. Also Essen und Trinken nach Lust und Laune? Da wird man stark sein müssen angesichts der auf uns einprasselnden Ernährungsratschläge. Es gibt auch ein Sprichwort, das in den letzten Jahren verstärkt an Terrain gewonnen hat, es lautet sinngemäß: Es ist egal, was man isst, wichtiger ist, mit wem man isst. Das Ernährungs-Pendel scheint sich wieder eher auf der Seite des Genusses zu befinden, nach dem jahrelangen Aufenthalt auf Seiten des erhobenen Zeigefingers.
Das Motto vom gesunden Spaß und von der Weisheit des Körpers hat vor allem ein starkes Argument für sich: es handelt sich um Gesundheit in Eigenverantwortung. Und in eigener Verantwortung kann man einmal dies und einmal jenes essen, einmal mehr und kalorienreicher, ein anderes Mal wieder weniger oder gar nichts essen und eine Woche lang fasten. Wir befinden uns nicht nur in einer Erlebnis-, sondern auch zunehmend in einer Spaßgesellschaft, behaupten Soziologen.[743] Damit würde nicht nur das Freizeitverhalten, sondern auch die Ernährung zu einem Spaßthema, das man wissenschaftlich gründlich untersuchen müsste. Aber das ist eine andere Geschichte!
[726] www.orf.at, aufgerufen am 7.5.2002.
[727] Running 9 (2002).
[728] Runner´s World 6 (2002).
[729] Echo der Frau Spezial 1 (2002).
[730] [Dahlke 1997]; [Dahlke 2000].
[731] [Pleij 2000].
[732] Spiegel Special 4 (1996).
[733] Die beiden Folder lagen im September 2002 im Seminarhaus Brunauerzentrum in Salzburg auf.
[734] Bild der Frau 37 (2002).
[735] Echo der Frau Spezial 1 (2002).
[736] [Pollmer 2001]; [Pollmer 2002].
[737] Vortrag bei den „Goldegger Dialogen” 1998 zum Thema „Genuss zwischen Wahn und Sinn”.
[738] www.kalorien-tabelle.de [Anm.: Zum Zeitpunkt der Puplikation nicht mehr online.]
[741] [Ernst 1992a].
[742] [Ernst 1995].