„Wenn einer eine Reise tut, so kann er 'was erzählen”. Dieses geflügelte Wort[2373] mag mit Abstrichen auch für Landesbeschreibungen und Reiseberichte aus dem ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert gelten, sofern untersucht wird, inwieweit darin nähere Nachrichten zur Volksmusik, präziser gesagt zu ihrem Repertoire sowie zur Sing- und Spielpraxis enthalten sind. Generell muss aber festgehalten werden, dass die Ergiebigkeit solcher Quellen für einzelne Regionen höchst unterschiedlich ausfällt. So haben Walter Deutsch und Annemarie Gschwantler für ihre Darstellung in Band 2 des Corpus Musicae Popularis Austriacae („Volksmusik in der Steiermark: ‚Steyerische Tänze'”) auf die Berücksichtigung von Reiseberichten weitgehend verzichtet, weil sich zeigte, dass die durchaus zahlreichen Belegstellen auf wenige Autoren zurückgehen, deren Ausführungen in der Folge wieder und wieder abgeschrieben wurden.[2374] Doch scheint sich dieser Eindruck im Bereich geographisch eingegrenzter und landeskundlicher Publikationen nicht zu bestätigen.[2375]
Für Salzburg ergibt sich, wohl aufgrund einer frühen und spezifischen Entwicklung im Verfassen topographischer Schriften, eine für die Forschung um vieles günstigere Ausgangsposition. Dieses Schrifttum setzt in einer Phase ein, als Salzburg unter der Regentschaft des letzten Fürsterzbischofs, Hieronymus Graf Colloredo, gegen Ende des 18. Jahrhunderts[2376] zum Zentrum einer an der Aufklärung orientierten Politik wurde.[2377] Der Publizist und Schriftsteller Lorenz Hübner, der Pädagoge Franz Michael Vierthaler, der Naturwissenschafter Karl Ehrenbert Freiherr von Moll und andere widmeten sich neben ihren speziellen Interessen auch landeskundlichen Belangen und veröffentlichten dazu zum Teil sehr umfangreiche Studien. Deren sachliche Fundierung und empirische Sorgfalt galten nachfolgenden Autoren als Vorbild. Offenkundig trachteten sie angesichts der Qualität der vorliegenden Literatur vielfach danach, bestehendes Wissen weiter zu vertiefen, und wurden durch den bereits erreichten Wissensstand mehr angespornt denn verführt, zuvor schon publizierte Erkenntnisse zu wiederholen.
Diese, wenn man so will, wissenschaftliche Ader der Landeskunde fließt gelegentlich auch in die Reiseliteratur ein. Daneben stehen freilich Darstellungen, die aus einer romantisch-idealisierenden Warte geschrieben sind, und auch solche, die lediglich Unterhaltungswert besitzen. Im Folgenden wird im Hinblick auf Textstellen zur Volksmusik in Salzburg (die im untersuchten Schrifttum durchaus symptomatisch sind für volkskundliche Beobachtungen generell) für den Zeitraum bis 1848 eine kritische Auswertung versucht und mit Beispielen belegt. Welche Bedeutsamkeit diese Quellen für die wissenschaftliche Forschung erlangen, verdeutlicht dabei ein vergleichender Blick zu gattungstypologischen Fragen.[2378]
Vorweg genommen sei, dass als frühester Autor, der im Rahmen einer an ca. 40 Veröffentlichungen unternommenen vergleichenden Studie beim „Abschreiben” betreten werden konnte, Benedikt Pillwein in seiner 1839 bezeichnenderweise nicht in Salzburg, sondern in Linz gedruckten Landesbeschreibung „Das Herzogthum Salzburg oder der Salzburger Kreis” erscheint, der sich ohne Angabe seiner Quelle nahezu wörtlich, zugleich kontraktierend auf Lorenz Hübners „Beschreibung des Erzstiftes und Reichsfürstenthums Salzburg in Hinsicht auf Topographie und Statistik” (erschienen 1796 in Salzburg) stützt, so unter anderem, wenn er eine Einteilung der salzburgischen Volkslieder versucht.[2379] Damit freilich wird die Relevanz dieser Nachrichten um 43 Jahre verschoben, in eine Zeit, als Salzburg längst nicht mehr selbständiges Fürstentum, sondern, obwohl selbst nominell Herzogtum, provinzielles Anhängsel des Herzogtums ob der Enns (Oberösterreich) war.
Der mögliche Schluss, dass Pillwein die Mitteilungen Hübners kopierte, weil sich die dort beschriebene Situation während der vergangenen Jahrzehnte nicht gewandelt hatte, greift ins Leere. Das Gegenteil nämlich erweist der Vergleich zweier annähernd zeitgenössischer Quellen zur salzburgischen Volksmusik, des Salzburger Teils der Sonnleithner-Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1819 mit der ersten gedruckten Sammlung Salzburger Volkslieder, veröffentlicht 1865 von Vinzenz Maria Süß.[2380] Zwar deckt sich gattungstypologisch das Repertoire (beide Male nehmen zum Beispiel Scherz- und Spottlieder den größten Teil ein, sind Weihnachts- und Hirtenlieder relativ reichhaltig vertreten), doch unter den einzelnen Liedern gibt es nur sehr wenige, die in beiden Sammlungen vertreten sind. Sowohl eine hohe Fluktuation des Liedgutes als auch die Existenz eines außerordentlich breiten Reservoirs an Liedern, aus dem jeweils eine zufällige Auswahl genommen wurde, ließe sich daraus folgern. Tatsächlich trifft beides zu, wenn auch in je verschiedenen Bereichen. Innerhalb der geistlichen Lieder bestand ein bereits traditioneller Grundstock, der seit alters her von den so genannten „Kirchensängern” überliefert wurde und kaum mehr der Veränderung unterlag. Für das weltliche Liedgut hingegen brachte ein stetiges „produktives Umsingen” vielfache Variantenbildungen und eine Tendenz zur Aufnahme neuer und Aufgabe bestehender Lieder mit sich. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: das Hirtenlied „Lippei sollst gschwind aufstehn”, größtenteils konstant in beiden Sammlungen, und das Wildschützenlied „I bin a frischer Wildbretschütz”, das in den beiden Überlieferungen nach den Kopftakten musikalisch und auch textlich differiert.[2381]
Unter den Landesbeschreibungen übertrifft die erwähnte dreibändige Darstellung Lorenz Hübners an Umfang und Ausführlichkeit alle späteren einschlägigen Schriften.[2382] Hübner bringt eine Reihe volkskundlicher Notizen, geht für jedes Salzburger Pfleggericht auf „Volksbelustigungen”, besondere Bräuche und Dialektformen der Sprache ein. Allerdings nehmen diese Nachrichten nicht immer, sondern nur gelegentlich größeren Raum ein. Doch ist Hübner über lange Zeit der einzige Autor, der zuweilen auch Titel und Texte von Volksliedern anführt und außerdem – einer der ersten Versuche dieser Art im deutschsprachigen Raum – eine Einteilung der salzburgischen Volkslieder versucht: „Die gewöhnlichen Volkslieder sind I) die sogenannten Gsängl, oder Schnödahüpfl, wovon jeder Bursche und jedes Mädchen eine Menge auswendig weiß, singt, oder mit Pfeifen ausdrückt. Die meisten werden bey Tänzen erdichtet; und sind sehr oft Satyre auf einen der Anwesenden, der sie mit ähnlichen Reimen beantwortet, wobey es aber vielfältig zu Schlägen kommt.”
Dazu folgen etliche Beispiele, unter anderem:
„Auf's Gassl bin i ganga, war's Fenster vafrorn,
Wie da recht Bue is käma, ists auentlaint [aufgetan] worn.”„Wo koan schön's Haus nit ist, ist koan schöns Zimma;
Wo koan Lieb ausser schaut, ist koane drina.”
Weiter heißt es: „Ferner gehören 2) unter die Volksgedichte die sogenannten Gasselreime, welche keine eigentlichen Lieder sind; sondern auch hier, so wie an anderen Orten, bloß mit veränderter Stimme vor dem Fenster eines Mädchens herabgemurmelt werden, und eigentlich die Stelle eines Ständchens vertreten. Sie sind meistens in einer mysteriösen, hyperbolischen [übertriebenen] Sprache verfaßt, und so lange, daß um einen solchen Gasselreim gehörig zu deklamieren, kaum eine Viertelstunde hinreicht. Je länger ein solches Gedicht ist, für desto schöner wird es gehalten.”
Das in einer Anmerkung angeführte Beispiel stammt nicht aus Salzburg, sondern aus „der Gegend der Windischen Matray” [Matrei in Osttirol, damals salzburgisches Gebiet], und wird als „sehr lächerlich scheinend” bezeichnet:
„Gitscherl [Gitschen = Mädchen] ah, Gitscherl ah,
Du bist hinten, i bi va.
Sey gebethen, sey gebethen,
Laß mi zu dir aini treten.
Gitscherl ha, Gitscherl ha,
Du bist hinten, i bin va.”
Hübner fährt fort: „Endlich gibt es 3) noch andere Gedichte, und eigentliche Lieder oder Gesänge, die theils religiösen Inhalts sind, und geistliche Gsänger genannt werden; theils, und zwar meistens einen erotischen Inhalt, oder auch das Wildschießen, das Alpenleben, das Soldatenleben, und dergleichen Gegenstände zum Stoffe haben. Diese Lieder sind alle gereimt, und werden gemeiniglich von mehreren Personen zugleich gesungen, worunter jemand vorsingt.”[2383]
Besonderes Interesse weckt der letzte Hinweis, der auf spontane Ausführung deutet. Das Initialisieren des kollektiven Singens durch eine solistische Einleitung begegnet noch heute, vor allem beim Jodeln. Hübner bringt zu Punkt 3) zwei Beispiele, jeweils ohne Noten: „Der Fenster=Streit. Ein Wechsel=Gesang” und „Der Wildbretschütze”, nicht zu verwechseln mit dem zuvor als Beispiel gewählten Wildschützenlied „I bin a frischer Wildbretschütz”. Mit „Fensterstreit” ist offensichtlich zugleich mit einem inhaltsgebundenen Typus die dialogische Anlage des Gesangs bezeichnet. Weitere Lieder mit derselben Überschrift enthalten die Sonnleithner-Sammlung 1819 bzw. Süß' Ausgabe Salzburger Volkslieder 1865.
Weiters erfährt man von Hübner: „Die vorzüglichsten Volksbelustigungen sind die Tänze, welche in den Tagen der Vorzeit auf eigens dazu bestimmten und sogenannten Tanzlaabn (Tanzlauen [Tanzlauben]) gehalten wurden.[2384] Heut zu Tage wird allenthalben in den Gasthöfen getanzet. Man tanzet immer nur in Reihen, wobey nicht viel gewalzet wird. Das Tanzen bestehet größten Theils aus verschiedenen Wendungen. Die gewöhnlichsten Musikinstrumente sind die Geige und das Hackbrett. Der Satz der Tanzmelodien ist eben so hüpfend, rasch und froh, als es der Inhalt ihrer Liedchen, und der Schwung ihres frischen Muthes ist. Auch die sogenannten Schwegelpfeifen und Maultrommeln, welche beyde Instrumente manche[r] Bursche sehr fertig [kunstfertig], und auf deren letzteren auch die Mädchen manche frohe Allemande zu spielen wissen, dienen manches Mahl im Hougart (bey Hausbesuchen), oder in der Schenke zur Belustigung der übrigen Anwesenden.”[2385]
Hübners Beschreibung der Tänze trifft in etwa auf eine heute im Flachgau (und Innviertel) noch gebräuchliche Tanzpraxis zu: den Gsätzlwalzer.[2386] Die beiden hervorgehobenen Instrumente, Geige und Hackbrett, wurden im 19. Jahrhundert zugunsten von Blasinstrumenten allmählich aufgegeben und erst im Zuge der sich auf bodenständige Traditionen berufenden Wiederbelebungsmaßnahmen im 20. Jahrhundert wieder in die Volksmusik integriert. Diese Entwicklung ist in Salzburg untrennbar mit dem Namen Tobi Reiser (sen.) verbunden.[2387] Das Spiel von Schwegel und Maultrommel hat sich vereinzelt gehalten. Dass die Stücke für Maultrommel Allemanden, also stilisierte geradtaktige Melodien waren, leuchtet nicht ein. Vermutlich hat Hübner bei dieser Formulierung bereits den aus dem Pinzgau gebürtigen reisenden Maultrommelvirtuosen Franz Koch im Auge, dessen Spielgut ganz dem Musiksalon angepasst war und den er in einer Anmerkung auch namentlich erwähnt.[2388] Den Ausführungen zur Volksmusik folgt schließlich eine Darstellung verschiedener Bräuche, worin Musik und Tanz zuweilen wiederum eine Rolle spielen (zum Beispiel beim „Anglöckeln” und „Berchtenlaufen”).[2389] Einschränkend muss zwar gesagt werden, dass Hübner diese Beobachtungen in seine Beschreibung des Pfleggerichtes Werfen einbringt, wohl aber gelegentlich auf ihre Relevanz für die Gebirgsgaue oder auch das gesamte Land Salzburg verweist.
Bis zum Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Volksmusik enthält keine Veröffentlichung eine auch nur annähernd vergleichbare Fülle von Informationen, zumal Hübner für den Pinzgau eine ähnliche Übersicht gibt,[2390] wiederum mit Beispielen, die deutlich die pinzgauerische Dialektfärbung erkennen lassen:
„Sollt' a guets Woscht [Wort] hergäbn, hon koans bey mie,
I han's in da Truch da hoam in an Papie.Im Winter schneibt's Schnee
Und im Suma wachst Klee,
Und wann zwoa Liebe scheidn, von Heaschzn thut's weh.”
Als Beispiel für ein „Gassel=Lied” erscheint „der Pinzgauer Fopper”, somit die früheste Überlieferung eines Text-Modells, das sich im Weiteren in unterschiedlichen Gattungen des weltliches Liedes: im Scherzlied, Bauernlied und Brauchtumslied verankerte und auch in die Mundartdichtung Eingang fand.
Hübner weist zudem auf lokale Unterschiede hin, etwa beim Gasslgehen, wo der Bursch einmal „unter lautem Gejauchze”, ein andermal stumm „gleich einem, der auf ein schwarzes Verbrechen ausgeht”, erscheine.[2391] 20 Interessant ist darüber hinaus, dass Hübner in der Darstellung der salzburgischen Gebiete des Salzkammergutes bereits dessen relative volkskulturelle Eigenständigkeit betont, wie sie noch heute besteht.[2392] Generell bleibt kein Zweifel, dass Bräuche und Volksmusik in den Gebirgsgauen größeres Gewicht besitzen als im „flachen Land”, was Hübner auf die Nähe zur Stadt Salzburg und einen von dort ausgehenden verstädternden und, wie er sich ausdrückt, den „Volkscharakter” nivellierenden Einfluss zurückführt.
Dass spätere Landesbeschreibungen nur Punktuelles, wenngleich oft Neues hinzufügen, liegt wohl im Wesentlichen in der vormärzlichen Zensur begründet. So mutet es wie ein Vorbote der Revolution an (die im Übrigen an Salzburg fast spurlos vorüberging), als 1847 in der „Salzburger Zeitung” erstmals eine Artikelserie mit volkskundlichen Themen erscheint.[2393] Dasselbe Organ begrüßt dann auch enthusiastisch die Wende von 1848.[2394]
Zwei Jahre zuvor, 1846, publizierte in Wien Matthias Koch seine „Reise in Oberösterreich und Salzburg auf der Route von Linz nach Salzburg, Fusch, Gastein und Ischl”. Wie so oft greifen hier Reisebericht und Landesbeschreibung ineinander. Das Buch scheint die Zensur aufgrund seiner ausgesprochen deskriptiven Schilderung und wegen Kochs Vorsicht, was die Darstellung der Sittsamkeit anbelangt, unbehelligt passiert zu haben. Koch geht auf eine für den Zeitpunkt der Veröffentlichung ungewöhnlich intensive Weise auf die Volkskultur ein, berichtet allerdings mehr zu Bräuchen als zur Volksmusik. Wiederum sind es bevorzugt die Gebirgsgaue, aus denen wir Nachricht erhalten: „Musik, Tanz und Spiel lieben die Pinzgauer ungemein, aber singen hört man sie nicht viel, und das sogenannte ‚Alpenjodeln' kennen sie gar nicht, was auch nichts schadet. Ihr Jauchzen besteht blos im Ausstoßen eines einzigen unartikulierten Lautes.”[2395]
Eine negative Bewertung des Jodelns, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts Platz griff, als dem Jodeln manchmal sogar eine gesundheitsschädliche Wirkung nachgesagt wird, klingt hier vorsichtig an.[2396] Beschrieben wird indes nicht das Jodeln, sondern das Juchezen. Illustrativ sind ferner einige Gstanzl-Texte, die Koch an anderer Stelle wiedergibt.[2397] Sie belegen, dass jene Schicht regionaltypischer Schnaderhüpfel, wie sie die von Hübner gebrachten Beispiele zeigen, mittlerweile von großräumig verbreiteten Modellen eventuell sprachlich, gewiss inhaltlich überlagert war (somit selbst dann, wenn man einräumt, dass Koch in der Wiedergabe der Mundart im Vergleich zu Hübner ein anderes Vorgehen einschlug):
„Dirndl, di liab i, Füer di gib i Alls,
D'Födern auf'n Huet
Und 'n Flor um a Hals.” (aus dem Pongau)„Wann auf der Alm s'Gambsl springt
Und früeh s'Lerchal singt,
Lusti mein Büchsel kracht,
Das is a Pracht!” (aus dem Pinzgau)„Schatz, Du bist's Bildl,
Das i anbeten thue,
Und dö ganzi Welt is nur
's Rahmel dazue.” (aus dem Lungau)[2398]
Ferdinand Freiherr von Augustin gibt in seiner 1844 erschienenen Landesbeschreibung „Das Pinzgau” eine Darstellung, die nicht zensurbedingt verknappt oder beschreibend ist, sondern unter einem anderen Blickwinkel entstand. Hier schlägt eine idealisierte Alpenidylle, eine Parallelerscheinung des Folklorismus durch, wenn vom „den Älplern eigenthümlichen Jauchzen” ebenso die Rede ist wie von der „wunderbaren Harmonie des Erhabenen mit dem Zarten und Lieblichen der eisumgürteten Giganten [Gletscher]”.[2399] Trotzdem finden sich auch hier relevante Beobachtungen zur Volksmusik: „Als wir in unser Wirthshaus zurückkamen, schallte uns Musik und lauter Jubel entgegen. Wandernde Musikkünstler mit Hackbret und Schwögelpfeife spielten lustig auf und die Jugend des Dorfes versammelte sich, um ein Morgentänzchen zu wagen. Bald war die enge Wirthsstube vollgedrängt, und nun gings an ein Drehen und Stampfen und Jauchzen, daß einem die Ohren gellten, und ein unbefangener Zuseher seines Lebens oder wenigstens seiner gesunden Beine nicht sicher gewesen wäre. Der Tanz glich einigermaßen dem Obersteyrischen, war aber lebhafter und weniger graziös, als dieser. (...) Charakteristisch waren die sogenannten Schnoiderhüpfel. Ein Bursche, an der Hand seine Dirne führend, hieß die Musik schweigen, trat in die Mitte der übrigen, und sang ein Lied, worauf wieder die Musik einfiel und der Tanz weiter ging. Aber nicht lange so schwieg sie abermals, und ein anderer Bursche trat vor und antwortete jenem, der früher gesungen, ebenfalls durch ein kurzes Lied, worauf wieder allgemeines Gelächter, Musik und Tanz folgte.”[2400]
Hier erhebt sich die Frage, wie weit man der Darstellung noch Wirklichkeitsnähe zusprechen darf. Der Schreibstil, Ausdrücke wie „Morgentänzchen” legen Fiktion nahe, doch die verpackten Informationen, die bis zu einem gewissen Grad mit den Beobachtungen Hübners konvergieren, scheinen gerade deshalb stichhaltig zu sein, weil sie zuweilen davon abweichen und für die Mitte des 19. Jahrhunderts, wie etwa in der Charakterisierung von Tänzen als vorwiegend Drehtänze, plausible Veränderungen beschreiben. Zudem ist diese Stelle ohne Parallele in der einschlägigen Salzburger Literatur. Dass Freiherr von Augustins Buch in Pest, also weit entfernt erschien, muss weiter nichts bedeuten. Schließlich hatten auch Franz Tschischka und Julius Max Schottky wohl aus Gründen der Zensur unfreiwillig Pest als Druckort ihrer Sammlung gewählt.[2401]
Rein unterhaltsamen Wert besitzt dagegen zum Beispiel „Hans Jörgels Reise nach Oberösterreich, Salzburg und Bayern, oder: Abenteuer auf einer Fahrt”, eine romanhafte Erzählung in Briefen, die in einem gewollt volksmäßigen Stil gehalten ist. Wie in allen derartigen Veröffentlichungen durften auch hier Eindrücke vom Glockenspiel und dem Echo am Königsee nicht fehlen: „(...) unser Schiffer langt daweil unter die Bank, ziegt ein'n Pöller, der wie eine Pistole in ein'n Schaft befestigt war, hervor, (...) da wiederholt das Echo hinter uns den Schuß, und rechts in weiter Ferne hat man das dumpfe Rollen vom Donner g'hört. Dös hat sich heraufzogen gegen den Watzmann, is alleweil stärker worden, und gegenüber von uns is's wie das schwerste Gewitter worden. Von da is's links h'nauf gegen die Gebirg', aber immer schwächer, bis es sich nach einer Weil' ganz verloren hat. Zuletzt hat man an der entgegengesetzten Seiten noch zwa schwache Schläg' g'hört. – Dös, mein lieber Schwager, is das berühmte Echo vom Königs=See!”[2402]
Meist wird das Echo am Königsee musikalisch beschrieben, nirgends sonst dient ein Büchsenschuss dazu. Doch letztlich bleibt sich gleich, womit das Kolorit transportiert wird; es ist zum bloßen Accessoire der Erzählung degradiert. In ähnlicher Weise – obgleich auf höherem Niveau – geriet die Alpenidylle bald nach 1800 in zeitgenössischen Kompositionen zur Folie der Utopie. Musikalische Naturschilderungen Johann Michael Haydns, mehr noch seiner Schülerschar, verdeutlichen dies.
Bey Hüttenstein am Abersee.
Die Sonne sinkt: des Dorfes Glocke schallt
So feyerlich in stillen Gründen;
Und über goldbesäumte Hügel wallt
Der Lämmer Schaar auf Pfadgewinden.Geröthet von der Strahlen letzter Gluth
Erhellt das Schneegebirg die Lüfte;
Der Giesbach rauscht, vom Felsen stäubt die Fluth,
Und dumpfer Donner rollt durch Klüfte.Das Wild umgrast den Busch; das zarte Chor
Der Sänger heckt im Burggetrümmer:
Die Tanne säuselt Ruh', ein leichter Flor
Umhüllt den See, der Thürme Schimmer.Was ists, das mich mit unnennbarer Lust
In deine Tiefen, Seethal! bahnet? -
Was ists, das in des Waldes Nacht die Brust
So nahe sich und lebend ahnet? -Des Aethers Blau durchbebt wie Dämmerlicht
Das grüne wallend Dach der Zweige;
Und lauter in des Denkers Seele spricht
Erinnrung bey des Tages Neige.Der Phantasieen reger Geist belebt
Da zauberisch die dunklen Matten; -
Ein Jugendtraum erscheint und winkt und schwebt
Dahin in tief verschwiegne Schatten. -Und leuchtend folgt, Virginia! dein Bild,
Und weiset, bräutlich schön bekränzet,
So liebevoll ins ferne Thalgefild,
Wo unsers Glücks Gestirn erglänzet.Und huldvoll naht der Wahrheit Majestät Verweilt,
entschleyernd sich, und stillet
Der Sehnsucht Drang, erhöret mein Gebeth:
Ihr Wink der Dinge Lauf enthüllet. -Das ists, was mich mit unnennbarer Lust,
In waldbegränzte Tiefen bahnet;
Das ists, was in des Waldes Nacht die Brust
So nahe sich und feurig ahnet![2403]
Eine Einordnung der in Reiseberichten und Landesbeschreibungen über Volksmusik lautenden Textstellen in literarische Kontexte ist ebenso möglich wie die nähere Bestimmung ihres Informationsgehaltes, die hier für Salzburg anhand einer Auswahl von Druckschriften vorgestellt wurde. Die Überprüfung der einzelnen Aussagen, der Nachweis ihrer Relevanz kann aber nur in Teilen geleistet werden. Immer bleiben Fragen offen, stets wird ein Rest Zweifel bestehen. Nimmt man diesen Nachteil in Kauf und rechnet ihn als Kalkül in die Untersuchung ein, lassen sich indes auch solchen peripheren Quellen allerhand Aufschlüsse entnehmen.
[2372] Erstveröffentlicht unter: [Hochradner 1996].
[2373] Redensart, literarisch nachgewiesen bei [Büchmann 1972], S. 174, als Beginn des Gedichtes „Urians Reise um die Welt” von Matthias Claudius (1740–1815), veröffentlicht in Voß' Musen=Almanach auf das Jahr 1786, S. 166: „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen”.
[2374] Mitteilung der Verfasser; vgl. [Deutsch/Gschwantler 1994], bes. S. 25–29.
[2375] Siehe dazu, zusammenfassend: [Hafner 1996]; als allerdings relativ spät datierendes Beispiel für die Ergiebigkeit von Reiseberichten auch [Hesse 1996].
[2376] Chroniken und Reiseberichte aus früherer Zeit enthalten in der Regel keine oder nur sehr knappe volkskundlich relevanten Textstellen.
[2377] Siehe einführend dazu insbesondere [Hammermayer 1995] sowie [Hammermayer 1988].
[2378] Vgl. dazu [Deutsch/Haid/Zeman 1993].
[2379] [Pillwein 1839a], S. 99f.; [Hübner 1796], S. 391–396.
[2380] Vgl. dazu [Hochradner 1995], im Folgenden bes. S. A 9f.
[2381] Beispiele aus der Sonnleithner-Sammlung nach [HaidG/Hochradner 2000], S. 348 bzw. S. 340, Beispiele nach Süß aus: [SüßMV 1845b], S. 288f. bzw. S. 315f. Gerlinde Haid kommentiert die Differenz näher (S. 341): „Bei Süß findet sich eine Variante zu diesem Lied mit Melodie [...]. Die Melodie wird ganz ähnlich jener in der Sonnleithner-Sammlung geführt, doch werden die ersten drei Takte wiederholt und den folgenden 2 Takten wird ein neuer Text unterlegt, sodaß der insgesamt zwölftaktigen Melodie vierzeilige Strophen (und nicht zweizeilige wie in der Sonnleithner-Sammlung) zugeordnet sind. Außerdem ist die Melodie bei Süß im 2/4-Takt. Nur die Strophen 1, 2, 5 und 6 der Fassung in der Sonnleithner-Sammlung finden sich auch bei Süß.”
[2382] Zu Lorenz Hübner siehe [Ruby 1966], worin aber Hübners volkskundliche Bemerkungen nicht näher besprochen werden.
[2383] [Hübner 1796]. Bd. 2, S. 391–396.
[2384] Vgl. dazu [Pirckmayer 1899b], S. 28.
[2385] [Hübner 1796]. Bd. 2, S. 397.
[2386] Siehe [HaidG 1980a], S. 85–100.
[2387] Vgl. dazu [Reiser 1959]; [Reiser 1972], S. 37f.
[2388] Zu Franz Koch siehe [RothH 1985a]. Ebenso in: [RothH 1985b]. Ferner [Hochradner 1998].
[2389] [Hübner 1796]. Bd. 2, S. 387f., 398ff.
[2390] [Hübner 1796]. Bd. 2, S. 682–690.
[2391] [Hübner 1796]. Bd. 2, S. 663.
[2392] [Hübner 1796]. Bd. 1, S. 286–291.
[2393] U. a., jeweils anonym (!): Das Berchtenlaufen (Amts- und Intelligenzblatt der Salzburger Zeitung 1847, S. 498, 514), Das Wasserstechen in Salzburg (ebenda, S. 354), Die Hochzeitsgebräuche der Pinzgauer (ebenda, S. 504), Die Narren=Fastnacht in Salzburg (ebenda, S. 150, [1064]).
[2394] Die enge Verbindung zwischen volkskundlichen Interessen und einer kritischen Einstellung zum vormärzlichen Staat lässt sich exemplarisch am Denken und Wirken Erzherzog Johanns und seines Umkreises ablesen; vgl. dazu [Hafner 1992] sowie [Hafner 1995].
[2395] [KochMat 1846], S. 306.
[2396] Siehe [RitterH 1889], bes. S. 166, wonach die Aura des Volksgesangs seinen eigentlichen Reiz ausmacht; dagegen [Kotek 1927]; [Luchner-Löscher 1982].
[2397] [KochMat 1846], S. 353f.
[2398] Dass in der Tat zwei Überlieferungsschichten von Gstanzl-Texten nebenher existieren, verdeutlicht eine Sammlung von eintausend Gstanzln, die Maria Vinzenz Süß seiner Volkslieder-Ausgabe beischloss; vgl. [SüßMV 1845b]. [Holzapfel 1991]. Bd. 1, S. 10f., spricht in diesem Zusammenhang von Assioziationskonnexen in Gstanzltexten als deren gemeinsames Merkmal.
[2399] [Augustin 1840], S. 100 bzw. S. 98.
[2400] [Augustin 1840], S. 124f.
[2401] [Tschischka/Schottky 1819]. Vgl. dazu [HaidG 1995], S. 54.
[2402] [Jörgel 1844], S. 40f.
[2403] [Koch-Sternfeld 1805], S. 25ff.