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„Wir“ in der Gesellschaft

Gewalt, Kultur, Ethnos (Siegfried Becker)[434]

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Konflikte und Identitäten in der Migrationsgesellschaft

Die Kulturwissenschaft Volkskunde/Europäische Ethnologie beschäftigt sich heute intensiv mit Ursachen und Auswirkungen von aus- und einwandernden Gruppen. Im modernen Europa leben Menschen zusammen, die aus wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Gründen Immigranten sind. Welche Deutungs- und Erklärungsmuster um das Eigene und das Fremde entwickeln sich im Alltag? Welche Symbolsysteme werden gebildet oder angenommen und dienen einer neuen Sinnstiftung? In der modernen großstädtischen, multinationalen Welt wird das Privileg der so genannten natürlichen Sprachen und Kulturen aufgelöst. In dieser Welt vieler gleichzeitig durcheinander tönender Stimmen, wird es schwieriger, menschliche Identität und Bedeutung einer zusammenhängenden „Kultur“ oder „Sprache“ zuzuordnen.

Freilich zeichnen sich damit nicht nur kulturelle Prozesse der Toleranz und der Grenzüberschreitungen als Erweiterung von Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonten ab, sondern auch Abgrenzungen. Wiederum bilden sich ethnische Identitäten heraus, werden Stereotype zugewiesen, die sich in latenter oder aggressiver Fremdenfeindlichkeit äußern können. Als 1989 der globale Systemdualismus zerfiel, setzten mit der Auflösung des Machtblocks in Osteuropa nicht nur Veränderungsprozesse in den osteuropäischen Staaten ein. Auch im modernen Europa war der Gedanke an mögliche Kriege akut präsent. Damit verbunden kamen neue Nationalismen und Gewaltexzesse auf. Zwangsläufig muss sich daher Europäische Ethnologie auch intensiv mit der Gewalt in der Kultur beschäftigen, mit den Prozessen kollektiver Aggressionsenthemmung, mit den Mechanismen subtiler Gewalt, die kulturell sublimiert werden; mit Friedens- und Konfliktforschung also.

Ethnizität als Gewalt legitimierende Strategie

Mit dem Begriff „Ethnizität“ (Volkszugehörigkeit) wurden in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger Dimensionen und Phänomene jener transnationalen Flüchtlingswellen charakterisiert, welche als Folge von Massenarmut und Verelendung, auf der Flucht vor Kriegshandlungen, sozialer Unterdrückung und religiöser Verfolgung entstanden. Häufig diente „Ethnizität“ den neuen Nationalismen zur Rechtfertigung von Gewalt – Ruanda und Tschetschenien, Bosnien-Herzegowina und das Kosovo sind dafür erschreckende Beispiele.

Seit dem Beginn der Moderne prägten Schlüsselkategorien das Denken. Diese dienen nicht allein der Beschreibung der Wirklichkeit, sondern sie stützen Ideologien und Unterwerfung und legitimieren Widerstand: das naturwissenschaftlich inspirierte Konzept „Rasse“, das kulturanthropologische Konzept „Volk“ und das sozialwissenschaftliche Konzept „Klasse“. Dieses Wiedererstehen ethnischer Argumentation und die ideologische Aufladung von gedachten „Volks“-Gemeinschaften durch Politik und wirtschaftliche Konkurrenz wurden durch den Rückgriff der Medien auf „archaische“ Deutungen ergänzt. Gewalt wurde als anthropologische Konstante und psychisches Verhaltensmuster ethnischer Kollektive interpretiert.

Gewalt im Zusammenleben von Gemeinschaften

Betrachtet man nicht-personale Gewalt im Zusammenleben von Gemeinschaften, zeigt sich nach Johan Galtung ein Dreieck aus

  1. direkter Gewalt

  2. struktureller Gewalt, die sich in der dauernden Beeinträchtigung menschlicher Grundbedürfnisse zeigt. Damit werden Formen von Gewalt nicht nur am menschlichen Körper, sondern auch im kollektiven Gedächtnis sichtbar: nämlich Übergriffe auf die Bedürfnisse nach Überleben, Wohlbefinden, Identität und Lebenssinn, Freiheit, ökologischem Gleichgewicht.

  3. Die dritte Kategorie ist kulturelle Gewalt, die durch Normen, Vorurteile und Symbole Gewalt gegenüber anderen fördert und verherrlicht (Phrasen, Rituale, Zeichen; z. B. „gelber Judenstern“). Kulturelle Gewalt verhindert ein kollektives Schuld- oder Unrechtsbewusstsein bzw. führt bei der betroffenen Gemeinschaft zu apathischer, resignativer Akzeptanz. Damit verliert sich ein positives Selbstverständnis. Die Aspekte kultureller Gewalt zu analysieren führt zur Hoffnung, dass diese durch Aspekte und sichtbare Zeichen kulturellen Friedens ersetzt werden können und damit so genannte biologische Vorgaben und Beschränkungen als überholt gelten.

Soziobiologische und ethologische Erklärungsmodelle

In melodramatisch-düsteren Visionen setzen Naturwissenschaftler den Wettbewerb um knappe Ressourcen und bestmögliche Fortpflanzung als biologische Bestimmtheit menschlichen Handelns voraus. In der jüngsten Geschichte sozialer und kultureller Konflikte waren und sind es wiederholt naturwissenschaftliche Anthropologen, Verhaltensforscher (Ethologen), Human- und Kulturethologen und Soziobiologen gewesen, die zur Analyse überspitzter kultureller Konflikte und Fremdenfeindlichkeit Stellung bezogen haben. Der wissenschaftliche Diskurs darüber ist entscheidenden Differenzierungen unterworfen gewesen.

Im Gegensatz zur Dogmatik von Otto König, der für jede Ausdrucksform eine biologische Basisanalyse forderte, gestand Konrad Lorenz Einflüsse kultureller Prägungen durch gesellschaftlich vermittelte Verhaltensweisen zu. Dennoch sprach er vom Aggressionsinstinkt des Menschen und – mit Bezug auf Erik H. Erikson – von „Scheinartenbildungen“ als Regulatoren sozialer Konflikte. Die eng geführte naturwissenschaftliche Argumentation unterschied in kulturelle und biologische Evolution, etwa wenn Irenäus Eibl-Eibesfeldt das Gewissen als „biologischen Normenfilter“ definierte. Hanna-Maria Zippelius stellte bei kritischer Überprüfung der Theorien und Methoden der Naturwissenschaften fest, dass von diesen eindimensional behauptete Verhaltenskonstanten verwendet werden.

Daher ist zu bezweifeln, dass das Bedürfnis nach kultureller Ab- und Ausgrenzung sowie die Wurzelsuche nach ethnischer Identität unsere ureigensten, auf Urahnen zurückschlagenden Merkmale seien. Gleichzeitig ist zu wünschen, dass sich ethnokulturelle Konflikte nicht nur durch die Schaffung neuer territorialer Einheiten lösen lassen, wie sie im Zusammenhang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien entstanden sind. Denn dort brachten sie das Ende ethnokultureller Vielfalt mit sich.

Reflexion von Gewalt in der Forschung

Die Gefährlichkeit und die möglichen politischen Konsequenzen der Positionen der Verhaltensforschung zu Gruppenbildung und Fremdenabwehr sind offensichtlich. Zu ihrer Entgegnung sind Erklärungsmodelle für interkulturelle und interethnische Konflikte notwendig, welche die vielen Hintergründe gesellschaftlicher Lagen, sozialer, ökonomischer und politischer Erfahrungen und individueller Verarbeitungsformen einbeziehen. So wird ein Zusammenspiel von Ursachen sichtbar und daraus lassen sich Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.

Die Wiederkehr des biologistischen Volksbegriffes als politische Kategorie birgt immer wieder die Gefahr, dass evolutionistische Konzepte, die sich auf Verhaltenskonstanten berufen, zur Rechtfertigung nationalistischer Bewegungen missbraucht werden könnten. Im letzten Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind Menschen verfolgt, gequält, umgebracht worden, darüber hinaus wurde auch ihre Kultur zerstört. Diese Kultur hatte das interethnische Zusammenleben ermöglicht und war gleichzeitig dessen Produkt, entstanden aus dem Austausch mit den Anderen. Mario Erdheim denkt daher den Begriff der Kultur nicht nur vom Eigenen ausgehend, sondern vom Fremden aus, denn „Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar.“ Abner Cohen sieht Ethnizität als „Interaktionsform zwischen kulturellen Gruppen, die in gemeinsamen Kontexten operieren“. Das heißt, Zuweisungen bestimmter „Volks“-Eigenschaften entstehen auch aus dem Mit- und Nebeneinander von Volksgruppen im selben Lebensraum.

Wenn wir Ethnizität als Orientierungssystem und Beziehungskonzept begreifen, zeigt und prägt sie die Beziehungsgeflechte nach innen wie nach außen. Sie umfasst dann jene Äußerungsformen, die vor allem symbolisch geprägt sind und nicht regional verankert sein müssen. Nach Ingeborg Weber-Kellermann beruht die Synchronität verschiedener Gruppen auf deren vielfältigen Kommunikationsbeziehungen, ihrem ökonomischen und kulturellen Austausch.

Kulturkontakt und Kulturkonflikt

In jeder Interethnik sind Kulturkontakt und Kulturkonflikt enthalten. Vorurteile, Zuweisungen und Konflikt-Erfahrungen erhalten sich auch im kollektiven Gedächtnis und brechen bei entsprechender Bündelung und Popularisierung – bei einem gegebenen Anlass – wieder auf. Sie können jederzeit in eine Kultur der Gewalt übergehen. Dazu stellt Friedrich Heckmann fest, dass ethnische Gruppen nicht „an sich“ gesellschaftlich relevant sind. Erst der Prozess der Nationwerdung als Form moderner Vergesellschaftung wertet sie um, erst die Nationbildung – sowohl als Vereinheitlichungsprozess wie als Nationalstaat selbst – schafft aus ethnischen Gruppen „Minderheiten“ bzw. „Mehrheiten“, unterwirft eine von ursprünglich gleichwertigen Gruppen der Mehrheit, Macht und Normenvorgabe einer anderen. Pränationale Mythen und Symbole können in solchen Prozessen der Spaltung zur Legitimation von Vertreibung und Genozid funktionalisiert werden.

Die gegenwärtige Ethnisierung der Kultur beruft sich immer wieder auf historische Feststellungen der Europäischen Ethnologie, die oft heute nicht mehr in dieser Form bewertet würden. Es ist daher Aufgabe dieser Wissenschaft, Aspekte der Toleranz und des kulturellen Friedens aufzuzeigen und eine Ethnografie der Aggression wie der Toleranz aufzunehmen. Denn: Mit dem Bedeutungsverlust der alten nationalen Grenzen im modernen Europa werden immer wieder neue Grenzen, neue ethnische Identitäten, neue Fremdheiten entstehen. Aber: Im Lob der Differenz und der Vielfalt liegen auch Gefahren. Dieses Lob regionaler wie nationaler Besonderheiten kann jederzeit in den Schrei nach Segregation und Hierarchisierung umkippen. Dann geht es vom Zweck der Selbstdarstellung in jenen der Abwertung, Ausgrenzung oder Unterdrückung über. Es gilt daher, die Vielfalt zu beschreiben, ohne die Differenz festzuschreiben, um so zur Toleranz zu gelangen.



[434] Kurzfassung von Ulrike Kammerhofer-Aggermann

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