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Seelische Verletzungen in Familien (Rüdiger Opelt)[122]

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Seelische Verletzungen und ihr Ausmaß

Die psychologische Erfahrung zeigt, dass seelische Probleme auf seelische Verletzungen zurückzuführen sind, die eine Familie oft über Generationen belasten. Meist sind sie mit Gewalt oder gewaltähnlichen Ereignisse verknüpft. Die unter „Mehr zum Thema“ dargelegte Theorie basiert auf dem Buch „Die Kinder des Tantalus“ von Rüdiger Opelt.[123]

Als Beispiel und Forschungsgegenstand dienen die Bevölkerung Salzburgs und deren Geschichte. Auch wenn Salzburg sich als Bistum aus vielen Kriegen heraushalten konnte, so haben die Salzburger doch die gewaltsamen Vertreibungen der Gegenreformation hinter sich und waren spätestens seit den napoleonischen Kriegen und dem Anschluss an Österreich in allen folgenden Auseinandersetzungen Österreichs, besonders aber in die beiden Weltkriege verstrickt. So wie in Österreich und Mitteleuropa hat eine Vielzahl von Menschen in der jüngeren Vergangenheit Krieg und Gewalttätigkeit erlebt.

Gewalt führt zur Zerstörung von sozialen Strukturen und zur Belastung von Familien, wodurch die psychische Entwicklung der Kinder behindert wird. Am schwersten abgrenzbar sind Ängste, die von den Eltern übernommen werden, ohne zu wissen, woher sie überhaupt stammen. Verletzungen dieser Art können durch das Entschlüsseln der Familienverstrickungen geheilt werden. Wenn Respekt und Toleranz zu geben und zu fordern erneut gelernt wird, kann auch innerer Friede gefunden werden. Wer sich so von der bewältigten Vergangenheit löst, der meistert sein Schicksal.

Seelische Verletzungen durch Gewalt und gewaltähnliche Ereignisse

Kriege mit toten Vätern, ausgebombten Müttern, verlorenen Kindern, sexueller Gewalt, Vertreibung, Folter und Verfolgung verlangen den Menschen das Äußerste ab und oft ist es ein Wunder, wie Menschen überleben, ohne seelisch krank zu werden. Tatsächlich finden sich Spuren der Gewaltereignisse jedoch in den Ängsten der heute lebenden Menschen wieder.

Wer von einem Gewaltereignis direkt betroffen ist, kann oft nur durch Verdrängung überleben. Die Gewalterfahrung wird zu einem festen Erlebnismuster, das künftige Erfahrungen filtert und prägt. Geschlagene Kinder ziehen ein Leben lang den Kopf ein, weil sie sich vor weiteren Schlägen fürchten. Besonders von Gewalt betroffen sind Kinder, da sie sich am wenigsten wehren können und besonders leicht die Erlebnismuster der Erwachsenen übernehmen. Ein Zeichen dafür, dass Verdrängung zu bröckeln beginnt, sind die so genannten Pubertätskonflikte.[124]

Das Urtrauma der Familie hat meist mit Gewalt, Vertreibung, Tod, Missbrauch, Unterdrückung und Zerstörung zu tun und ist in der Mehrzahl der Fälle ein historisch fassbares Ereignis. Damit ist die Familiengeschichte unmittelbar mit der Sozialgeschichte verzahnt.

Verlorene und überlebende Väter

Im Zweiten Weltkrieg starben Millionen auf den Schlachtfeldern, durch Bomben und Erschießungen. Diese Ereignisse haben Millionen von Halb- oder Vollwaisen hinterlassen. Eine sehr große Anzahl von Familien ist auch in den Folgegenerationen von Waisenkindererfahrungen betroffen.

Die Wirkung verlorener Väter ist für männliche und weibliche Nachkommen verschieden, in beiden Fällen aber schädlich. Zur Entwicklung der männlichen Identität ist der Vater als Modell und auch als „Reibebaum“ für beginnende Kritikfähigkeit notwendig. Wenn die Vatersehnsucht nicht erfüllt wird, dann fehlt der Mut, das Kindsein hinter sich zu lassen und männliche Stärke zu entwickeln. Eine Tochter lernt am Beispiel des Vaters, sich mit Liebe und Vertrauen auf männliche Partner einzulassen. Wenn der Vater früh stirbt, so kann sich bei der Tochter unbewusst die Angst festsetzen, dass auch zukünftige Partner sterben oder sie verlassen werden.

Viele der überlebenden Soldaten des Zweiten Weltkrieges waren verletzt oder verstümmelt. Für Söhne dieser Väter war es nicht leicht, mit den Folgen dieses negativen männlichen Selbstbildes aufzuwachsen: Folgen, die sich nicht selten in Abwertung, Kritik, einer negativen Lebenseinstellung und zerstörendem Verhalten äußerten. Viele dieser Kinder haben später als Erwachsene eine apathische Grundhaltung oder ein negatives Selbstbild wiederum auf ihre eigenen Kinder übertragen.

Verlorene Mütter, verlorene Kinder und die Kinder der Täter

Kriege hinterlassen unzählige Waisenkinder, die mutterseelenallein aufwachsen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Kinder aufs Land verschickt, wo sie sicher waren, aber letztlich als Halb- oder Vollwaisen weiterleben mussten. Das erste Kinderdorf weltweit wurde durch die „Pro Juventute Österreich“ mit Sitz in Salzburg wegen der großen Zahl an Kriegswaisen, die es nach 1945 gegeben hat, gegründet. Bei vielen Kindern riss der Tod der Mutter eine Lücke, die durch nichts ersetzt wurde.

Die Soldaten, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges gefallen sind, waren sehr jung. Ihre Eltern haben sie überlebt und der Schmerz um ein totes Kind gehört zu dem Schwersten und Unerträglichsten. Nicht selten wurden die Toten als Helden gesehen und für die Überlebenden (Geschwister) war es dann besonders schwer, wenn sie mit den Toten verglichen wurden.

Wenn Väter in die Verbrechen der Nazi-Zeit verstrickt waren, stehen die Nachkommen vor Problemen. Leid und Schuld beschäftigten die Kinder und Enkel, sei es nun in bewusster Auseinandersetzung oder durch unbewusste Inszenierung und Wiederholung der schuldhaften Muster. Ungelöste Schuld wird oftmals von den Nachkommen übernommen – sie spüren erneut die negativen Gefühle, die von ihren Vätern verdrängt und geleugnet werden.

Priesterkinder, sexuelle Gewalt und Entwertung der Liebe

Die nicht geringe Zahl von Nachkommen von Priesterkindern und kirchlichen Würdenträgern stellt – speziell im Fürsterzbistum Salzburg – ein Problem der Vermischung von Macht, Sexualität und Verleugnung dar. Das Problem für Priesterkinder ist, dass die Auseinandersetzung mit dem väterlichen Vorbild nicht stattfinden kann oder dass sie durch viele Doppelbödigkeiten und Verleugnungen gekennzeichnet ist.

Ein anderes tiefgreifendes Problem stellt die Rechtlosigkeit der Frauen in patriarchischen Systemen über Jahrhunderte dar: Sexualität wurde nicht als Lust, sondern als Gewalt erlebt. In den unbewussten Familienmustern lebt diese Verquickung von Sexualität und Gewalt fort und wird von Generation zu Generation weitergegeben.

Viele Generationen von Liebespaaren mussten auch die Erfahrung machen, dass die Macht der Liebe sehr begrenzt ist, wenn man zwischen die Fronten von Hass und Gewalt gerät (z. B.: Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken). Die Situation verlangt eine Entscheidung zwischen der Familie und dem Partner. Um die Familie nicht zu „verraten“, hat sie den „Tod der Liebesbeziehung“ zur Folge.

Vertreibung und geraubte Kinder

Während des Zweiten Weltkriegs und besonders zu Kriegsende wurden Millionen Europäer aus ihrer angestammten Heimat vertrieben (ehemalige deutsche Ostgebiete, Sudetengebiete). Viele der Überlebenden dieser Vertreibungen fanden ihren Weg nach Salzburg und in den angrenzenden oberösterreichischen Raum. Die Vertriebenen heirateten oft Einheimische, sie haben Kinder und Enkelkinder bekommen – so ist die Zahl der Menschen, die dem Thema „Vertreibung“ als Familienmuster folgen, etwa dreimal so groß, wie die ursprüngliche Zahl der Vertriebenen.

Durch nichts kann man Erwachsene mehr schwächen und gefügig machen als durch das Leid ihrer Kinder. Kindesraub schwächt die unterlegene Kultur und erleichtert deren Unterdrückung. Neben der Vertreibung haben seit Jahrtausenden Mächtige versucht, ihre Macht zu stärken, indem sie den Unterlegenen ihre Kinder gestohlen haben. Auch Adolf Hitler hat versucht, sich in der „Aktion Lebensborn“ ein „arisches“, „genetisch reines Janitscharenheer“ heranzuzüchten, wobei junge Mütter durch Propaganda dazu gebracht wurden, auf ihre Kinder zu verzichten und sie dem „Führer“ zum Geschenk zu machen. Ähnlich ist es den Kindern von Indianern ergangen, die in Missionsschulen gesteckt und von ihren Eltern getrennt wurden.



[122] Kurzfassung von Ilona Holzbauer

[124] Bestes Beispiel dafür ist die 68er-Generation, die in der Kindheit unter den Folgen des Weltkrieges zu leiden hatte und dann im Jugendalter die Verdrängung der Nachkriegszeit mit lautem Protest zertrümmert und sich vehement gegen die Fortführung von Kriegen gestellt hat.

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