Zu keinem Fest des Kirchenjahres gibt es so viel und stilistisch so unterschiedliche Musik wie zum Weihnachtsfest, das seit dem 4. Jahrhundert gefeiert wird. Bereits im späten Mittelalter entstanden zahllose Tropen (= textliche und musikalische Erweiterungen liturgischer Gesänge) und Sequenzen zu den Weihnachtsmessen. Bildete zunächst der gregorianische Choral die ausschließliche Form liturgischer Musik, durften bei außerliturgischen Feiern und geistlichen Spielen auch volkssprachliche Lieder gesungen werden, seit dem 14. Jahrhundert auch in der Liturgie vor oder nach der Predigt. Als ältestes deutsches Weihnachtslied gilt „Sei willekommen, Herre Christ“ (vgl. Abbildung).
Mit Reformation und Gegenreformation erhielt das deutschsprachige Kirchenlied eine große Aufwertung. Martin Luther stellte es sogar gleichberechtigt neben den gregorianischen Choral, übertrug altkirchliche Hymnen ins Deutsche und schrieb selbst geistliche Lieder, u. a. „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Im Umkreis der katholischen Gegenreformation entstanden im 17. Jahrhundert zahlreiche „Erbauungslieder“ wie „O Heiland, reiß die Himmel auf“ und „Zu Bethlehem geboren“ von Friedrich von Spee. In der Folge entwickelte sich eine Fülle von Weihnachtsliedern, auch schlichte volkssprachliche Hirten- und Krippenlieder, darunter häufig Dialektlieder, die – zum Missfallen der Ordinariate – im Gottesdienst von den „Kirchensingern“ vorgetragen wurden.
Die meisten Weihnachtslieder entstanden im 19. Jahrhundert für die familiäre Weihnachtsfeier, darauf nehmen Texte wie „Ihr Kinderlein, kommet“ und „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ Bezug. „Stille Nacht!“ wurde zum beliebtesten aller Weihnachtslieder und wird heute weltweit in mehr als 300 Sprachen gesungen. Für den Bürgersalon des 19. Jahrhunderts schufen bedeutende Komponisten wie Peter Cornelius, Max Reger und Hugo Wolf Weihnachtslieder in Form von Klavierliedern.
Mit der Jugendbewegung erfolgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits ein Rückgriff auf alte Lieder wie „Es kommt ein Schiff geladen“ und „Maria durch ein Dornwald ging“, andererseits entstand neues Liedgut im Geist der Tradition.
Das NS-Regime versuchte dem Weihnachtslied seine christliche Botschaft zu nehmen und an seine Stelle mystische Ideen der Sonnenwende und der Natur zu setzen. „Hohe Nacht der klaren Sterne“ sollte „Stille Nacht!“ – das Ideal der christlichen Weihnacht – ersetzen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Tendenzen der Jugendbewegung fortgesetzt. Die neu entstandenen Lieder sind Ausdruck des Stilpluralismus unserer Zeit. Angeregt durch das Salzburger Adventsingen ist heute das Interesse an Weihnachtsmusik und weihnachtlichen Bräuchen groß.
Das Fest der Geburt Christi, heute ein Hochfest der christlichen Kirche, wurde erst im 4. Jahrhundert eingeführt. Die Feier des Christfestes am 25. Dezember, neun Monate nach der Verkündigung an Maria, die man um Frühlingsbeginn annahm, ist zuerst für Rom im Jahr 354 bezeugt, fand jedoch danach rasche Verbreitung. Die Einführung des Christfestes war zunächst auf hartnäckigen Widerstand gestoßen und gelang erst mit der Umdeutung der heidnischen Feiern des „Unbesiegten Sonnengottes“(Sol invictus) auf das in Christus angebrochene Weltenlicht und der Übertragung der Gestalt des Sol invictus auf Christus. Das Weihnachtsfest ist damit das am wenigsten christliche Fest und hat deswegen in besonderer Weise auch die der christlichen Kirche fern stehenden Menschen angezogen.
Zum Weihnachtsfestkreis gehören der Advent als Vorfeier, die Begleitfeste (Stephanus, Johannes, Unschuldige Kinder), der Oktavtag mit dem Fest der Beschneidung Christi, der seit dem 12. Jahrhundert als bürgerliches Neujahr gefeiert wird, und das Epiphaniasfest (Dreikönigsfest).
Im katholischen Ritus werden an Weihnachten drei Messen gefeiert: neben der Festmesse seit dem 6. Jahrhundert auch die Mitternachtsmesse (Krippenmesse) und die Hirtenmesse „beim Morgengrauen“. In der Liturgie ist das Weihnachtsgeschehen in besonderer Weise gegenwärtig: Das Gloria beginnt mit dem Engellob nach Lukas 2 und im Credo wird die Menschwerdung Christi im „Et incarnatus est“ häufig musikalisch besonders hervorgehoben. So erklärt sich der reiche Schatz an Weihnachtsmusik: Zu keinem Fest des Kirchenjahres gibt es so viele und so unterschiedliche Werke wie zum Weihnachtsfest.
Bereits im späten Mittelalter entstanden zahllose Tropen und Sequenzen zu den Weihnachtsmessen und – nach dem Vorbild der Osterspiele – auch Weihnachtsspiele. Bildete zunächst der Gregorianische Choral die alleinige Form liturgischer Musik, durften bei den geistlichen Spielen und außerliturgischen Feiern auch volkssprachliche Lieder gesungen werden.
Da die Zeit des Advents strenge Fastenzeit war, gibt es nur wenige deutschsprachige Lieder für diese „Zeit der Erwartung“. Sie erweisen sich nahezu ausnahmslos als Übertragungen lateinischer Hymnen oder stellen wie „Aus hartem Weh“ Kontrafakturen dar.
„Sei willekommen, Herre Christ“ (vgl. Abbildung) ist vermutlich das älteste deutsche Weihnachtslied. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert und wurde der französischen Motette nachgebildet: Der Cantus firmus liegt in der Unterstimme.
Tropierungen – textliche und musikalische Erweiterungen der liturgischen Gesänge – führten zur Ausformung der Cantio, des mittelalterlichen Liedes. So wurde beispielsweise der Marienhymnus „Ave maris stella“ durch Tropieren des Refrains „Novum gaudium“ nach der ersten Zeile und einem weiteren Zusatz nach der zweiten Zeile der Strophe zum Weihnachtshymnus mit Strophe und Refrain.
Im süddeutschen Raum gibt es seit dem 14. Jahrhundert Belege dafür, dass deutschsprachige Lieder auch in der (lateinischen) Liturgie gesungen wurden: Nach dem „Benedicamus Domino“ in Messe und Vesper konnten deutschsprachige Gesänge (Cantiones) eingeschoben werden, deren letzte Strophe entsprechend eine doxologische Ausrichtung hat. Besondere Verbreitung fanden die deutschsprachigen Fassungen von „Dies est laetitia / Der Tag, der ist so freudenreich“ – dessen zweite Strophe zum selbstständigen Lied „Ein Kindelein so löbelich“ geformt wurde – und „Puer natus est in Bethlehem / Ein Kind geborn zu Bethlehem“.
Gelegentlich wurden beide, die lateinische und die deutsche Fassung, notiert. Diese Form der Überlieferung lässt vermuten, dass Schola und Gemeinde abwechselnd die Liedstrophen vorgetragen haben. Für die Lieder „In dulci jubilo“ und „Resonet in laudibus“ ist die Mischpoesie, der Wechsel lateinischer und deutscher Textworte, charakteristisch. In dieser Form fanden diese Lieder Eingang in die Gesangbücher. Aus den gesungenen Dialogen entstanden dargestellte Szenen: Maria, die das Kind wiegt und Joseph, der ihr beim Wiegen hilft. Zur Melodie des „Resonet in laudibus“ singt Maria „Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein“. Vor allem in den Frauenklöstern wurde dieser Brauch des Kindlwiegens geübt.
Mit Reformation und Gegenreformation erhielt das deutschsprachige Lied ungleich stärkere Bedeutung: Martin Luther stellte das Kirchenlied gleichberechtigt neben den Gregorianischen Choral. Die Gemeinde sollte die christliche Botschaft in ihrer Sprache singen dürfen. 1524 erschien die 1. Auflage des „Geistlichen Gesangbüchleins“. Luther hatte die Texte in bildkräftige Verse gebracht, dabei vielfach Überkommenes aufgegriffen: Aus dem altkirchlichen Hymnus „A solis ortus cardine“ wurde „Christum wir sollen loben schon“, aus „Veni redemptor gentium“ der Adventchoral „Nun komm, der Heiden Heiland“. Johann Walter „übersetzte“ dieses Liedgut in die musikalische Kunstsprache seiner Zeit. Kritische Quellensichtung weist Luther 36 deutsche geistliche Lieder zu, darunter auch das „Kinderlied auf die Weihnacht Christi“ „Vom Himmel hoch da komm ich her“.
Auch im katholischen Bereich fand das Repertoire in Liederbüchern Verbreitung. Die Salzburger Agende des Jahres 1575 führt im Anhang deutsche Kirchenlieder auf, darunter die Weihnachtslieder „Ein Kindelein so löbelich“, „In dulci jubilo“ und „Resonet in laudibus“. Im ersten katholischen Gesangbuch, das der Propst an der Stiftskirche zu Halle, Michael Vehe, 1537 unter dem Titel „Ein New Gesangbüchlein Geistlicher Lieder“ publizierte, finden sich die vier Weihnachtslieder „Der Tag der ist so freudenreich“, „Gelobet seist du Jesu Christ“, „Dank sagen wir alle“ und „In dulci jubilo“.
Große Bedeutung erlangte das „Catholisch Gesangbuch“ des Nicolaus Beuttner (Graz 1602), das zahlreiche Auflagen erlebte. Waren bis zu diesem Zeitpunkt Weihnachtslieder nur in Form von Kirchengesängen überliefert, wurde nun an den „Erbauungsliedern“ des 17. Jahrhunderts die pietistische Tendenz, die persönliche, kontemplative Ausrichtung, deutlich. Über 130 geistliche Lieder schuf der evangelische Theologe und Dichter Paul Gerhardt, die dessen Kantor an der Berliner Nikolaikirche, Johann Crüger, vertonte, u. a. „Ich steh an deiner Krippen hier“, „Fröhlich soll mein Herze springen“ und „Kommt und laßt uns Christum ehren“. Im katholischen Bereich wurde das Repertoire um die Liedschöpfungen des schlesischen Mystikers Angelus Silesius und des Jesuiten Friedrich von Spee vermehrt. Von ihm stammt der Text zu den Liedern „Zu Bethlehem geboren“ und „O Heiland, reiß die Himmel auf“. Die Melodie findet sich im „Rheinfelsischen Gesangbuch“ 1666.
Durch Jesuiten war im späten 16. Jahrhundert die Krippe aus Italien nach Deutschland gebracht und sonach die Hirtenthematik – die Verkündigung auf dem Feld, der Weg zur Krippe und die Anbetung durch die Hirten – zum Liedinhalt geworden. An diesem Sujet und der Möglichkeit, die Hirten in ihrer Sprache singen zu lassen, entzündete sich die Fantasie des gläubigen Volkes.
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts sind schlichte volkssprachliche, aber auch mundartliche Weihnachtslieder nachweisbar. Sie waren so beliebt, dass sie auf Flugblattdrucken verbreitet und durch Bilderkrämer selbst in die entlegensten Gegenden gebracht wurden.
Auf dem Land wurde die Kirchenmusik vom Schulmeister, der zugleich auch Organist und Mesner war, besorgt. Dazu kamen aus Kirchenstiftungen bezahlte Sänger („Kirchensinger“), meist waren es vier, an Hochfesten bis zu zwölf, die die Gesänge intonierten, häufig auch solistisch vortrugen. Sehr zum Missfallen der Ordinariate nahmen im 18. Jahrhundert die mundartlich gefärbten Weihnachtslieder bzw. reinen Dialektlieder wie „Lost’s Nachbarn, steht’s auf“, „Hört’s Buema wie’s dorten schön singen“ oder „Es hat sich halt aufton, Loos Nazel“ oder „Krumper Max Martans Bue“ und „Hopp sa hopß“ überhand. Die Pfarrherren wurden angewiesen, diese Lieder zu konfiszieren.
Doch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der anspruchsvolleren Ausbildung der Priester, der Lehrer und damit auch der Schüler, verschwand diese Praxis. Über das Repertoire geben Liedsammlungen, die sich im Nachlass von Kirchensängern erhalten haben, Aufschluss – z. B. das um 1800 entstandene „Stubenberger Gesängerbuch“ und das „Zeitenbuch“ mit 15 Hirten- und Weihnachtsliedern. In der „Unterwössener Handschrift“ aus dem 18. Jahrhundert finden sich die bekannten Lieder „Still, o Himmel“, „Gegrüßt seist, Maria, jungfräuliche Zier“ und „Es blühen die Maien“.
Die umfangreiche Handschrift aus dem Salzburger Raum, die Kajetan Wesenauer gegen Ende des 18. Jahrhunderts anlegte, enthält 110 weihnachtliche Lieder – beginnend mit Advent und endend mit dem Dreikönigsfest. Neben Hirtenliedern enthält diese Sammlung auch die tradierten alten Weihnachtslieder, u. a. „Es ist ein Ros entsprungen“ und „Der Tag, der ist so freudenreich“, aber auch neuere Kirchenlieder wie „Tauet Himmel“ und „Ihr Kinderlein kommet“. Auch die großen Lied-Dokumentationen des 19. Jahrhunderts, die Sonnleithner-Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde Wien von 1819 und das weihnachtliche Sammelwerk des St. Florianer Chorherrn Wilhelm Pailler aus den Jahren 1881 und 1883, sind Ausdruck der historischen Dimension und der stilistischen Vielfalt des Weihnachtsliedes. Viele dieser „Krippengsangl“ wurden auch in den Kirchen der Städte und Märkte, ja sogar in Klöstern gesungen. Als Textdichter und Komponisten taten sich neben den Kantoren und Schulmeistern auch Geistliche hervor.
Zahlreich sind die Pastorellen und „Cantilenae pro nativitate“ für Soli, Chor und Orchester in Klosterarchiven, die Weihnachts-, Hirten- und Krippenlieder zitieren oder in Werken für Tasteninstrumente melodisch variieren. Eine der bedeutendsten Pastorellen-Sammlungen, die in der Abtei Nonnberg in Salzburg angelegt wurde und für die – neben Kantoren und komponierenden Nonnen – auch u. a. die Salzburger Hofmusiker Johann Ernst Eberlin, Anton Cajetan Adlgasser und Franz Joseph Lipp Beiträge lieferten, ist heute nur noch rudimentär erhalten.
1782, anlässlich der 1200-Jahrfeier der Gründung des Erzstiftes Salzburg durch den heiligen Rupert, legte Erzbischof Hieronymus Graf Colloredo in einem Hirtenbrief für die Erzdiözese Salzburg die Erfordernisse für eine umfassende kirchliche Reform nieder. Das pastorale Bestreben, die Gläubigen stärker als bisher an der Feier der Messe zu beteiligen, war einer der Gründe für eine deutschsprachige verständliche Liturgie und damit auch für die verpflichtende Einführung des deutschsprachigen Volksgesanges. Das überkommene Liedgut wurde aktualisiert und einer Revision in Stil und Inhalt unterzogen, zugleich entstanden neue Lieder aus zeitnahem Glaubensverständnis, die in Gesang- und Gebetbücher Aufnahme fanden. Weite Verbreitung erlangte das „Landshuter Gesangbuch“ – es enthält 44 Lieder mit 31 Melodien und wurde auszugsweise in Salzburg 1781 als offizielles Kirchengesangbuch eingeführt. 1783 folgte ein zweiter Teil „zur Andacht für Sonntage und hohe Feste des Herrn“ mit entsprechenden Liedern – darunter die heute noch verbreiteten Weihnachtslieder „Heiligste Nacht“ und „Ihr Hirten erwacht“.
Doch weit mehr Lieder entstanden für die familiäre Weihnachtsfeier. Dazu haben die politischen Umstände durch die restaurative Politik des österreichischen Staatskanzlers Metternich und die Entwicklung der bürgerlichen Musikkultur, die eine Verbreitung von Musik in einem bisher nicht gekannten Ausmaß mit sich brachte, beigetragen. Weihnachten war zum Familienfest geworden: Christbaum und Kinderbescherung rückten in den Mittelpunkt der Feier, begleitet von Musik für die ständig wachsende Zahl musizierender Dilettanten. Besonders beliebt waren Potpourris von Weihnachtsliedern mit dem traditionellen Repertoire.
Es entstanden aber auch neue Lieder, die dem familiären Charakter Rechnung trugen, mehr stimmungsvoll als religiös waren, wie „Ihr Kinderlein kommet“ des Theologen und Kinderbuchautors Christoph von Schmid, nach der Melodie von Johann Abraham Peter Schulz, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ von Heinrich Hoffmann von Fallersleben und „O du fröhliche“ als Adaptierung eines sizilianischen Volksliedes durch den Goethe-Freund Legationsrat Johannes Daniel Falk. Auch für andere Weihnachtslieder des Biedermeier, „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ oder „Süßer die Glocken nie klingen“, ist dieser Rückgriff auf Volksweisen charakteristisch.
Den umgekehrten Weg nahm „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Es wurde vom Kirchenlied – 1818 für die Christmette in der St. Nikola-Kirche in Oberndorf von Franz Xaver Gruber nach einem zwei Jahre zuvor entstandenen Text des Hilfspriesters Joseph Mohr geschrieben –, noch im 19. Jahrhundert, vollends dann im 20. Jahrhundert, zum zentralen und beliebtesten aller Weihnachtslieder. „Stille Nacht“ wird inzwischen in mehr als 300 Sprachen gesungen, im Gottesdienst ebenso wie bei der familiären Weihnachtsfeier.
Keiner der großen klassischen Komponisten hat ein populär gewordenes Weihnachtslied geschrieben. Weihnachten war, zur Zeit Mozarts etwa, ein kirchliches Hochfest, für das solenne Messkompositionen, für Stifts- und Klosterkirchen auch Pastorellen und Pastoralmessen, komponiert wurden. Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden für den Bürgersalon auch Weihnachtslieder auf der kompositorischen Höhe des Klavierliedes der Zeit: Die „Sechs Weihnachtslieder“ op. 8 von Peter Cornelius (1856), der Dichter und Komponist in Personalunion war und mit diesem Werkzyklus – darunter die bekannten Lieder „Christbaum“, „Die Hirten“ und „Die Könige“ („Drei Kön’ge wandern aus Morgenland“) – das Weihnachtslied zur Kunstform, frei von Sentimentalität, erhob. Max Reger setzte mit seinen „Schlichten Weisen“ op. 76, Joseph Haas mit den „Fünf Krippenliedern“ op. 49 diese Tradition fort. Noch differenzierter sind Hugo Wolfs Klavierlieder nach weihnachtlichen Sujets – etwa „Führ mich, Kind, nach Bethlehem“ aus dem „Spanischen Liederbuch“ oder „Schlafendes Jesuskind“ aus den Mörike-Liedern.
Mit der Jugendbewegung um das Jahr 1900 bzw. nach dem Ersten Weltkrieg brachte die Abkehr von der hypertrophen Kultur der Gründerzeit den Rückgriff auf altes Liedgut wie „Es kommt ein Schiff geladen“, „Und unsrer lieben Frauen“, „Maria durch ein Dornwald ging“ und „Lieb Nachtigall, wach auf“, das in neuen Sätzen, u. a. von Heinrich Spitta, Karl Marx, Armin Knab und Cesar Bresgen für Ensembles der Jugendgruppen aufbereitet wurde.
Ausgelöst durch die bittere Armut des Arbeiterproletariats des 19. Jahrhunderts und verstärkt durch die Not im Gefolge des Ersten Weltkrieges erhielt das Weihnachtslied auch die tragische Funktion eines sozialkritischen Protestliedes. Erich Kästner schrieb das Anti-Weihnachtslied „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben“. Auch „Ihr Kinderlein kommet“ und „O Tannenbaum“ haben parodistische Textierungen erfahren, vollends dann „Stille Nacht“ durch Kriegsvarianten und als Ausdruck des Protestes gegen den Kauf- und Konsumrausch der Wirtschaftswunderjahre.
Bereits das NS-Regime hatte alles daran gesetzt, dem Weihnachtslied seine christliche Botschaft zu nehmen und an deren Stelle mystische Ideen der Sonnenwende, der Auferstehung der Natur, der Mutterschaft und der Lebenshoffnung – unter gewaltiger Aufwertung der nationalen Komponente – einzubringen. Der ideologische Hauspoet der Hitlerjugend, Hans Baumann, versuchte durch seine Liedschöpfung „Hohe Nacht der klaren Sterne“ das Ideal der christlich-bürgerlichen Weihnacht „Stille Nacht“ zu verdrängen. Von Baumann stammt auch der Text zu „Weihnacht macht die Türen weit“; „Fröhliche Weihnacht woll’n wir singen“ geht auf die „Liedermacherin“ Carola Wilke zurück.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Tendenzen der Jugendmusikbewegung fortgesetzt, Alte Musik wurde wiederentdeckt und ideologisiert. Bis heute haben sich zahlreiche durch die Musikwissenschaft in Denkmäler-Ausgaben wieder zugänglich gemachte alte Weihnachtslieder in ihrer musikalischen Qualität als zeitlos erwiesen. Doch entstanden auch zeittypische Dichtungen und Vertonungen durch führende Theologen, Schriftsteller und Kirchenmusiker wie Martin Gotthard Schneider, Rudolf Alexander Schröder, Albrecht Goes, Hans Friedrich Micheelsen, Christian Lahusen und Paul Ernst Ruppel. Mit Liedern wie „Manchmal denk’ ich, es gibt keine Weihnacht“, „Wir harren, Christ, in dunkler Zeit“ oder „Sage, wo ist Bethlehem“ entstand ein musikalisch und textlich traditionsverbundenes, aber dennoch originelles neues Ausdrucksmedium. Durch Refrainlieder wurden dem Wechselgesang neue Möglichkeiten eröffnet, durch responsoriale Formen Chor oder Vorsänger eingebunden.
Weit stärker spiegeln die in den letzten Jahren und Jahrzehnten entstandenen Lieder als Teil der Musik unserer Zeit die Problematik des Stilpluralismus der zeitgenössischen Kunst wider. Der sich rasch wandelnde Zeitgeschmack steht einer längerfristigen Rezeption entgegen. Andere, wie der Radstädter Schuldirektor Hubert Auer, der mit seinen 400 (!) Weihnachtsliedern in das Guinness-Buch der Rekorde kam, setzten auf die Tradition und griffen auf Stilmerkmale des Kirchenliedes und des Volksliedes im 19. Jahrhundert zurück. In jedem Fall wird es an uns und an der Zeit liegen, das Wertvolle zu finden und zu bewahren.
Ungebrochen ist heute das Interesse an wiederentdeckten weihnachtlichen Brauchformen, vor allem an Adventsingen. Angeregt durch das große „Salzburger Adventsingen“ wird das Geschehen von Bethlehem mit alten und neuen Liedern, mit Instrumentalmusik und Lesungen an zahlreichen Orten zur Einstimmung auf das Weihnachtsfest geboten. Nicht zuletzt daran erweist sich die künstlerische und emotionale Wirkkraft des Weihnachtsliedes, dass es durch das religiöse Brauchtum von der großen Gemeinschaft der Gläubigen getragen, mit vielen Schöpfungen des Menschen zum Fest, ja zum „Gottesdienst“ werden kann.
Literatur
[Bresgen/Keller 1979] Bresgen, Cesar; Keller, Wilhelm (Hg.): „... die Liab ist übergroß!“ Weihnacht im Salzburger Volkslied. 119 Lieder aus allen Gauen des Landes. München [u. a.] 1979.
[Hochradner/Walterskirchen 1994] Hochradner, Thomas; Walterskirchen, Gerhard (Hg.): 175 Jahre „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Symposiumsbericht. Salzburg 1994 (Veröffentlichungen zur Salzburger Musikgeschichte 5).
[Loos 1992] Loos, Helmut: Weihnachten in der Musik. Grundzüge der Geschichte weihnachtlicher Musik. Bonn [1992].
[MarkmillerF 1981] Markmiller, Fritz: Der Tag der ist so freudenreich. Advent und Weihnachten. Regensburg 1981 (Bairische Volksfrömmigkeit 1).
[MarkmillerF 1983] Markmiller, Fritz (Hg.): Weihnachtsmusik. Tradition und Innovation. Zwischen Renaissance und Aufklärung. Dingolfing 1983 (Niederbayerische Blätter für Volkskunde 2).
[Münster 1965] Münster, Robert: „Thauet Himmel! den Gerechten.“ In: Sänger- und Musikantenzeitung 8 (1965), S. 111–117.