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„Wie hausgemacht ...“ (Bernhard Tschofen)[212]

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Europäische Nahrungsgewohnheiten und das „Hausgemachte“

Scheinbar gegenläufige Tendenzen kennzeichnen die Industrialisierung der Nahrungskultur: Pluralisierung und Standardisierung, Konfektionierung und Verfeinerung, Internationalisierung und Regionalisierung, Sicherung und Gefährdung stehen nebeneinander.

Dementsprechend hat sich die Moderne früh und gleichzeitig Begriffe und Instrumente zur Beschreibung von Fortschritt und Verlust durch Industrialisierung geschaffen. Was als Verbesserung der Lebensverhältnisse erschien, konnte in kulturkritischer Verkehrung auch beklagt werden. Solche Dialektiken von Modernisierung bilden sich auch in der Ethnografie europäischer Nahrungsgewohnheiten ab; sie lassen sich heute in den Rhetoriken und Praktiken des „Hausgemachten“ beispielhaft verfolgen.

Anhand (vor allem) österreichischer Quellen versucht der Autor in „Mehr zum Thema“ zunächst, die angedeuteten Paradoxien etwas konkreter einzufangen, er stellt sodann die Beobachtungen in einen historischen Zusammenhang (und vertieft sie am Beispiel der so genannten alpenländischen Küche um schließlich nach den kulturanalytischen Ableitungen zu fragen und einige Überlegungen zu fachbezogenen Konsequenzen einer Europäischen Ethnologie anzustellen.

Gleichzeitigkeit gegenläufiger Tendenzen

Folgt man neueren Studien zum Ernährungsverhalten der Mitteleuropäer, dann begegnet man in sich völlig widersprüchlichen Befunden: Einerseits wird immer weniger gekocht, andererseits ist Kochen „in“; einerseits gehen die Kochkenntnisse belegbar zurück und es steigt sowohl der Fertiggerichtanteil als auch die Zahl der Haushalte, in denen überhaupt nicht mehr gekocht wird; andererseits gab es nie mehr „Hobbyköche“ als heute und für diese eine Fülle von Kochsendungen, Kochkursen und Kochbüchern.

Vor allem bei den Jugendlichen wird Kochen und Backen mehr und mehr zu einem geselligen Ereignis. Unter den weniger Kochbegeisterten steigt die Freude am Kochen, wenn für mehrere Personen gekocht wird. Studien sprechen zu Recht vom (seltenen) Erlebniskochen.

Ein anderer ebenso widersprüchlicher Befund betrifft die Rolle lokaler Koch- und Geschmackstraditionen unter heutigen sozioökonomischen Bedingungen. Die Wiener Küche zum Beispiel wird von Pizzaketten und Banken, der EU und anderen Europäisierungsindikatoren unter Druck gesetzt gesehen. Auch gegen das Effizienzstreben moderner Haushalte sind manche Speisen nicht resistent. Doch insgesamt ist zugleich festzustellen, dass nie zuvor soviel von einer Wiener Küche die Rede war. Sie ist heute zu einer Marke geworden, die mit einigen wichtigen Leitsymbolen versehen ist.

„Kochen in den Bergen“ – Zeitgenössische Erlebnisküche

Bernhard Tschofen interpretiert das „Kochen in den Bergen“[213] aus dem spezifischen Blickwinkel einer neuen Tourismuskultur. Für die „Bauernkost“ haben sich in der Vergangenheit Historiker und Volkskundler, Gastrosophen und LandwirtschaftslehrerInnen, Bio-Agenten und Öko-Initiativen interessiert. Sie haben alle die Voraussetzung dafür geschaffen, dass eine zeitgenössische Erlebnisküche heute aus einem Fundus von Rezepten und Bildern schöpfen kann. Diese präsentieren keine erstarrten Kulturschichten, sondern lassen sich problemlos in zeitgemäße Alltage einfügen.

Wirtschaftliche Bedingungen und physiologische Erfordernisse haben sich verändert: Die alte häusliche Vorratshaltung hat ebenso ihre Grundlagen verloren wie ein auf harte körperliche Arbeit abgestimmtes Mahlzeitensystem. Der Geschmack der „alpinen Küche“ jedoch scheint die Bedürfnisse der Gegenwart genau zu treffen.

Alpine Küche präsentiert sich als ein „konkret“ gemachtes Produkt. Sie transportiert Erzählungen von Herkunft und Bedeutung und kommt insofern manchen Sehnsüchten entgegen. Nicht zuletzt schmeckt sie nach den „Bergen“ und nach dem, was die heutige Gesellschaft mit der Natur und Kultur der Alpen zu verbinden gelernt hat.

Die „alpenländische Küche“

Die viel besprochene „alpenländische Küche“ verdankt ihre heutige Existenz den Veränderungen in Kultur und Gesellschaft. Vergangenen Generationen musste weder das Kochen in den Bergen erläutert werden, noch hatten sie ein Interesse am Alpenländischen. Was in den Bergen gekocht wurde, trug noch nicht das Etikett „alpenländisch“ und es verband sich damit noch lange keine besondere Qualität des Geschmacks.

Wo sich kulturelle Unterschiede zu verändern und zu verwischen drohen, wächst das Bedürfnis, das einmal als typisch und eigen Erkannte festzuhalten. Alpenländische Küche hilft sich zu orientieren und zu verständigen, weil heute mit dem Kochen in den Bergen spezifische Qualitäten verbunden werden.

Geprägt vom touristischen und gastronomischen Angebot und seiner medialen Aufbereitung, sind die Merkmale der alpenländischen Küche auf einer im weitesten Sinn ästhetischen Ebene angesiedelt. Es handelt sich um sinnlich erfahrbare Werte, die einerseits auf Geschmack, Geruch und Aussehen der Speisen selbst und andererseits auf Faktoren wie Präsentation und Ambiente setzen. In solchen Zusammenhängen vermittelt sich Kost aber auch deshalb, weil sich mit all den kleinen Geschichten und Erzählungen, die sich mit Speisen und Rezepten verbinden, auch spezifische Erlebnisse und Erfahrungen verknüpfen lassen.

Geschmack und Vorraussetzung

Erst mit der Erfindung des Sparherdes (geschlossene Feuerstelle, Röhre und Wasserschiff) waren differenzierte Zubereitungsarten und Speisen wie Strudel und Braten möglich geworden. Viele Speisen, die aufwändigeres Hantieren am Herd erforderten und den parallelen Einsatz von mehrerlei Kochgeschirr voraussetzten, entstanden so erst in den letzten 200 Jahren.

In den Bergen war es wichtig, möglichst wenig zu transportieren und zu lagern. Ebenso war es wichtig, holzsparende sättigende und kräftige Speisen – möglichst in einer universell einsetzbaren Pfanne – zu bereiten. So erklärt sich die Dominanz der Teig- und Breispeisen, die in verschiedenen Konsistenzen und Verfeinerungsgraden gewissermaßen das Rückrat der alpinen Küche bilden. Käse, Gewürze, Beeren und Pilze sind nicht mehr als gelegentliche geschmackliche Glanzlichter in einem mitunter recht eintönigen Alltag gewesen.

Die Hauptrolle in den bäuerlichen Hausgärten der österreichischen Alpenländer und damit auch in der Vorratswirtschaft spielte das Kraut, das durch Milchsäuerung haltbar gemacht werden konnte und das sich sogar durch Räuchern konservieren ließ. Lokale Sorten, die sich durch Zucht und Anpassung entwickelt haben, sind heute gefragte Produkte einer wachsenden alpinen Nischenökonomie, die mit „alten“ Sorten und „überlieferten“ Rezepten auf die wachsende Nachfrage nach „authentischen“ und „gesunden“ Lebensmitteln zu reagieren weiß.

Pasteurisierung und Nahrungskrisen

Die private Konservenproduktion auf den Grundlagen der Pasteurisationstechnik nimmt ihren Ausgang gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ist eng mit den Nahrungskrisen des 20. Jahrhunderts verbunden. Zwischen den Kriegen und auch noch in der Nachkriegszeit war eine verfeinerte häusliche Vorratswirtschaft ein wichtiger Faktor in der Sicherung der Grundversorgung und ist daher ernährungspolitisch auch entsprechend forciert worden.

Damals wurden „Einwecken“ und „Einrexen“ zu Synonymen des Einmachens von Obst, Gemüse und Fleisch. Diese (häuslich-industrielle) Vorratswirtschaft war verbunden mit zunehmend differenzierten Gerätschaften (Einkochtöpfe, Entsafter), Wissen und Technik. Erst mit dem Aufkommen der Tiefkühltechnologie verlor sie im privaten und halböffentlichen Bereich an Bedeutung.

Das Küchenwissen des 20. Jahrhunderts wurde hauptsächlich mit kommerziellen Hintergründen vermittelt. Zucker- und Essigfabriken, die Geliermittel- und Zusatzindustrie versorgten die Haushalte über Jahrzehnte mit dem nötigen Wissen und bald auch mit den ästhetisch-geschmacksorientierten Leitbildern für das Selbermachen – häusliches Format für industrielle Praktiken.

Dialektiken der Modernisierung

Die Moderne hat sich früh Begriffe und Instrumente zur Beschreibung von Fortschritt und Verlust durch Industrialisierung geschaffen. Was als Verbesserung der Lebensverhältnisse erschien, konnte in kulturkritischer Verkehrung auch beklagt werden. Solche Dialektiken von Modernisierung bilden sich in der Ethnografie europäischer Nahrungsgewohnheiten beispielhaft ab. Ihre Aufmerksamkeit galt einerseits der historischen Angleichung der Mahlzeitensysteme und der Innovation, andererseits der kulturellen Differenzierung und Typisierung.

Heute ist nicht nur von „Rekordumsätzen im Naturkosthandel“ die Rede, für den ein weltweit positiver Trend beobachtet wird und wo neben den hoch entwickelten Vermarktungsschienen auch noch die „low input-Vermarktung“ in Zukunft weiter profitieren soll. Auch das „Power-Food“ der Zukunft wird von Biologen und Agrarwissenschaftern „im Garten unserer Großmütter“ vermutet.

Auch in der Kreation neuer Marken steckt sehr viel historisch-ethnografisches Wissen. Geschichte und alltägliche Lebenswelt gelten als Referenzsystem: so beansprucht etwa eine Wiener Konservenmanufaktur, die mit süß und sauer Eingelegtem reüssiert, für sich, die „Geschmackserinnerungen unserer Kindheit“ ins Glas zu füllen.



[212] Kurztextseite 1 von Bernhard Tschofen, Kurztextseiten 2–7 von Ilona Holzbauer auf Basis des Langtextes (Mehr zum Thema) und des Beitrags: [Tschofen 2003].

[213] Tschofen, Bernhard: Vom Kochen in den Bergen. Ansichten eines Kulturwissenschafters. In: Scheffer, Anni: Vom Kochen in den Bergen. Die österreichische alpenländische Küche. Wien 2003, S. 8–14.

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